Die Entstehung der Nordallianz in Afghanistan


Tesis (Bachelor), 2012

79 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Inhaltliche und methodische Vorüberlegungen
1. Fragestellung
2. Forschungsstand
3. Quellen- und Literaturlage
4. Methodisches Vorgehen

II. Die Entwicklung Afghanistans ab 1978
1. Die sowjetische Zeit
2. Bürgerkrieg
3. Die Taliban
4. Ausländische Intervention

III. Die Entstehung der Nordallianz
1. Gründung und Zusammensetzung
2. Die Jahre 1992-1996
3. Ahmad Shah Massoud

IV. Die Nordallianz und die afghanische Gesellschaft
1. Stammesstrukturen und ethnische Gruppen
2. Von den Khanen zu den Warlords
3. Das natürliche Feindbild
4. Die Rolle des Islam
5. Staatliche Strukturen: Die Loya Djirga

V. Die Nordallianz im Afghanistan-Konflikt seit
1. Positionierung
2. Entwicklung und Unterstützung aus dem Ausland

Schlussbetrachtung65

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang
Anhang 1: Interview mit dem Botschaftsrat der Islamischen Republik Afghanistan in Deutschland, Herrn Abed Nadjib
Anhang 2: Regionale Machtverteilung in Afghanistan 1994 (Karte)
Anhang 3: Ethnische Gruppen in Afghanistan und seinen Grenzgebieten (Karte)
Anhang 4: Glossar

Einleitung

„Er hat das Land […] völlig in der Hand! Er hat das Sagen bei den Taliban! Dabei ist er überhaupt kein Afghane – er stammt aus Saudi-Arabien!“[1] Kurz nach dieser Äußerung über Osama Bin Laden detoniert der Sprengsatz und der Führer des Widerstands gegen die Taliban, Ahmad Shah Massoud, stirbt. Zwei Tage vor dem Super-GAU gegen die USA hat Osama Bin Laden damit noch ein weiteres Ziel erreicht: das Widerstandsbündnis gegen die Taliban zu schwächen. Mit dem Tod des „Löwen aus Panjshir“ verliert die Nordallianz ihre militärische Führung.

11. September 2001 – nicht nur ein Meilenstein in der amerikanischen Geschichte, auch für Afghanistan stellen die Ereignisse in diesem Monat eine Zäsur dar. Der Afghanistan-Konflikt wird auf eine globale Ebene gehoben, das Land wird zum Thema der Weltöffentlichkeit. Doch bereits vor dem großen Terror-Anschlag Al Qaidas gegen ihren verhassten amerikanischen Feind schwelte der Konflikt. Noch im Kalten Krieg wurde der Grundstein gelegt und das Erstarken fundamentalistischer Gruppen in Kauf genommen. Eine dieser Gruppierungen waren die afghanischen Taliban – eine von vielen Gruppierungen im afghanischen Bürgerkrieg und gleichzeitig doch kaum mit den anderen vergleichbar. Mit der Stärke und dem Erfolg kam auch der Widerstand. Kurz nach der Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul formierte sich ein Bündnis, das in den Jahren zuvor kaum denkbar gewesen war: die Nordallianz.

Über den Afghanistan-Konflikt, die Taliban und die globalen Ausmaße des Afghanistan-Krieges ist vielfach geforscht und geschrieben worden. Der Nordallianz als dem einen Widerstandsbündnis, das es schaffte, sich gegen die Koranschüler zu wehren, wird in der Literatur allerdings nur ein kleiner Teil gewidmet. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Bündnis, seiner Entstehung und den Umständen, die eine solche Allianz in den 1990er Jahren notwendig werden ließen.

I. Inhaltliche und methodische Vorüberlegungen

1. Fragestellung

Die Nordallianz ist ein Bündnis, in dem sich viele verschiedene Gruppierungen mit unterschiedlichsten Vorstellungen von einem optimalen politischen System Afghanistans zusammenfanden. Bis zur Machtergreifung der Taliban kämpften jene Parteien – in immer wieder wechselnden Koalitionen – gegeneinander. Sowohl langjährige ethnische Rivalitäten als auch das Verlangen nach Macht spielten dabei eine große Rolle.

Eben diese Rivalitäten der afghanischen Kriegsherren und verschiedenen Gruppierungen werfen die Frage auf, warum die sich bekriegenden Mudjaheddin (Glaubenskämpfer) sich trotz aller Feindschaft und Unterschiedlichkeiten zu einem gemeinsamen Bündnis zusammen fanden. Erschien die Gruppe der Taliban als so stark und demnach gefährlich für die Machtbestrebungen der Mudjaheddin, dass ihr Aufkommen ein solches Bündnis rechtfertigte? Oder war es, wie der afghanische Botschaftsrat in Deutschland Abed Nadjib behauptet, vielmehr die Einflussnahme des Auslandes – namentlich Pakistan und Saudi-Arabien – die als ein erneuter Eingriff von außen bewertet wurde und folglich bekämpft werden musste? War es das Gefühl, wieder (wie schon so oft in der Vergangenheit) Opfer ausländischer Machtbestrebungen auf afghanischem Boden zu sein und die Taliban lediglich Mittel zum Zweck, vergleichbar mit der kommunistischen Regierung in den Jahren 1978-1992, die von der Sowjetunion eingesetzt worden war?

Die Frage nach dem Grund des Zusammenschlusses der Nordallianz und die Überprüfung der These Nadjibs nach der notwendigen Bekämpfung einer ausländischen Intervention im eigenen Land werden Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein.

Eine weitere, jedoch weniger essentielle Frage für die Thematik der vorliegenden Arbeit, die sich bei der Recherche zur Person Ahmad Shah Massouds stellte, ist jene nach der Wirkung dieses Mannes. Er wird als Volksheld verehrt, obwohl er von außen betrachtet einer von den Warlords war, die mit allen Mitteln um die Macht in Afghanistan konkurrierten. Es stellt sich folglich die Frage, warum gerade diesem Mann eine solche Verehrung zuteilwurde, wieso er so polarisierte. Dieser Frage wird vorrangig in dem ihm gewidmeten Kapitel (III.3) nachgegangen.

2. Forschungsstand

Der Afghanistan-Konflikt – ein vielschichtiges Thema, das sich besonders zu Beginn des Jahrtausends großer Beliebtheit erfreute. Zahlreiche Reportagen und Darstellungen persönlicher Schicksale werden dem interessierten Leser angeboten; wissenschaftlich fundierte Literatur beschränkt sich in diesem Bereich jedoch zumeist auf die Ereignisse nach 2001, die Gruppierung der Taliban oder die Einsätze ausländischer Truppen in Afghanistan. Der Afghanistan-Konflikt in seiner Ganzheitlichkeit – seine Entstehung und Entwicklung – wird bis auf wenige Ausnahmen überwiegend in Überblickswerke eingebettet oder in Darstellungen zu konkreten Themen kurz skizziert.

Bernd Wohlgut bietet eine solche Ausnahme: In seinem Werk „Afghanistan. 30 Jahre Krieg am Hindukusch“[2] (2011) setzt er sich dezidiert mit der Thematik auseinander und beleuchtet die Entwicklung Afghanistans in den letzten 30 Jahren. Neben der Darstellung der Ereignisse widmet sich der Autor besonders den Kriegsherren und ihren aktuellen Funktionen innerhalb der afghanischen Regierungen, sowie den Interessen internationaler Akteure in Afghanistan. Ein ähnlich vielschichtiges Werk, das jedoch viele Jahre zuvor in der Geschichte des Landes ansetzt, ist Thomas Barfields „Afghanistan. A Cultural and Political History“[3] (2012). Der Afghanistan-Experte der University of Boston beleuchtet in seinem Buch die Entwicklung des Landes von der Vormoderne bis in die heutige Zeit. Dabei zeichnet er ein Bild der politischen Strukturen und Entwicklungen, das komplettiert wird durch die Darstellung der kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten des Landes, wie etwa der Vielfalt ethnischer Gruppierungen und Stammeszugehörigkeiten.

Die Auseinandersetzung mit dem Afghanistan-Konflikt heute führt an zwei weiteren Namen nicht vorbei: dem Afghanistan-Experten des Zentrums für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, Conrad Schetter („Kleine Geschichte Afghanistans“[4], 2007, und „Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan“[5], 2003) und dem pakistanischen Journalisten und Bestseller-Autoren Ahmed Rashid („Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch“[6], 2010). Für einen guten Überblick über die Geschichte Afghanistans bieten sich Bernhard Chiaris „Afghanistan“[7] (2009) und Habibo Brechnas „Die Geschichte Afghanistans. Historische Ereignisse, Erzählungen und Erinnerungen“[8] (2011) an. Das Thema des Afghanistan-Konflikts greifen auch Susanne Koelbl und Olaf Ihlau in „Krieg am Hindukusch. Menschen und Mächte in Afghanistan“[9] (2009), Nadi Misdaqs „Afghanistan. Political frailty and external interference”[10] (2006), Kevin Bakers „War in Afghanistan. A Short History of 80 Wars and Conflicts in Afghanistan and the North-West Frontier 1839-2011“[11] (2011) und die Ausgabe 39/2007 der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) der Bundeszentrale für politische Bildung „Afghanistan und Pakistan“[12] auf. Weitere namhafte Autoren und Herausgeber, die den Konflikt und die Kriege thematisieren, sind Johannes M. Becker und Herbert Wulf mit „Afghanistan: Ein Krieg in der Sackgasse“[13] (2011), Edward R. Miller-Jones in „War in Afghanistan. Country devastated by violence”[14] (2010), Martin Ewans’ „Conflict in Afghanistan”[15] (2005) sowie Peter Tomsen mit „The Wars of Afghanistan. Messianic Terrorism, Tribal Conflicts, and the Failure of Great Powers”[16] (2011). Nennenswerte Werke vom Anfang des Jahrtausends sind Christian Reders „Afghanistan, fragmentarisch“[17] (2004), Frank A. Clements „Conflict in Afghanistan. An Encyclopedia“[18] (2003) und Hans Krechs „Der Afghanistan-Konflikt 2001. Ein Handbuch“[19] (2002).

Hinsichtlich des Forschungsstandes fällt des Weiteren auf, dass die Literatur sich überwiegend mit politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Themen beschäftigt. Besonders die Rechte der Frauen, die Gruppierung der Taliban und die generelle politische Lage Afghanistans sind beliebte Themen. Weniger thematisiert werden beispielsweise afghanische Literatur oder naturwissenschaftliche Bereiche.

3. Quellen- und Literaturlage

Die vorliegende Arbeit entstand auf Grundlage verschiedener Quellen. Überwiegend handelt es sich hierbei um Darstellungen zu einzelnen Bereichen des Afghanistan-Konflikts.

Methodisch basiert die Arbeit auf den Werken Volker Sellins „Einführung in die Geschichtswissenschaft“[20] (2005), Stefan Jordans „Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft“[21] (2009) und Ernst Opgenoorths und Günther Schulz‘ „Einführung in das Studium der Neueren Geschichte“[22] (2001).

Für das methodische Vorgehen, das eine Darstellung der Grundstrukturen afghanischer Gesellschaft vorsieht, wurde vorrangig das Überblickswerk „Afghanistan“[23] (2006) des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes verwendet. Dieses wurde ergänzt durch die Aufsatzsammlung „Afghanistan in Geschichte und Gegenwart“[24] (1999) der Herausgeber Conrad J. Schetter und Almut Wieland-Karimi und die Darstellung der Autoren Susanne Koelbl und Olaf Ihlau „Krieg am Hindukusch. Menschen und Mächte in Afghanistan“[25] (2009). Diese Werke wurden vorrangig auch in den Kapiteln der Arbeit verwendet, die sich mit der Nordallianz oder ihrer Vorgeschichte beschäftigen. Ergänzt werden jene überwiegend durch das Überblickswerk der Autoren Silvia Berger, Dieter Kläy und Albert A. Stahel „Afghanistan – ein Land am Scheideweg. Im Spiegel der aktuellen Ereignisse“[26] (2002), Ahmed Rashids „Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad“[27] (2001) und „Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban“[28] (2010) sowie Hans Krechs Handbuch „Der Afghanistan-Konflikt 2001“[29] (2002). Darüber hinaus wurden Inhalte aus Conrad J. Schetters „Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan“[30] (2003), der Massoud-Biographie Marcela Grads[31] (2009) sowie aus Gerhard Konzelmanns Darstellung „Dschihad und die Wurzeln eines Weltkonflikts“[32] (2003) in diesen Teilen der Arbeit verwendet. Die personellen Angaben wurden vorrangig dem oben genannten Werk Hans Krechs sowie Ludwig W. Adamecs „Historical Dictionary of Afghanistan“[33] (2012) und Habibo Brechnas „Die Geschichte Afghanistans“[34] (2011) entnommen und die dargestellten Daten und Fakten mit dem „World Factbook“[35] der CIA abgeglichen.

Der vorliegenden Arbeit liegt ein Interview (Anhang 1) mit dem afghanischen Botschaftsrat in Deutschland, Herrn Abed Nadjib, zugrunde, dessen Aussagen in dieser Arbeit wissenschaftlich überprüft und erweitert werden. Eine weitere Quelle, mit der die verwendete wissenschaftliche Literatur ergänzt werden soll, ist das Interview[36] Piotr Balcerowicz‘ mit Ahmad Shah Massoud (2001). Die darüber hinaus verwendete Literatur ist im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeführt.

Bereits Opgenoorth und Schulz wiesen auf Folgendes hin:

„Da […] die Überlieferung der Quellen praktisch für alle Zeit lückenhaft ist, kann das Ergebnis günstigstenfalls eine Sammlung von Fragmenten sein, eine Anzahl von Geschichten, die als solche noch keine Einheit, keine Geschichte sind“[37].

Dem folgend wird mit der vorliegenden Arbeit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Hier können lediglich Tendenzen aufgezeigt werden, die eine etwaige Vorstellung von der Nordallianz und den Umständen, die ihre Entstehung begünstigten, vermitteln. Allgemeingültige Aussagen können im Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht getroffen werden, da besonders die Quellenlage vielfach Raum für Interpretationen lässt.

4. Methodisches Vorgehen

Die ersten Ansätze zu dieser Arbeit sahen ursprünglich eine Fokussierung der Person Ahmad Shah Massouds vor, dessen Leben und Wirken einen großen Einfluss auf die Geschichte Afghanistans in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte. Massoud war eine herausragende Persönlichkeit in der Geschichte des Landes; sein Lebensweg und die Vielschichtigkeit seines Charakters – sei es als gleichzeitig beliebter wie auch gefürchteter Feldherr oder auch als gläubiger Moslem, der sich von den anderen Kriegsherren seiner Zeit charakterlich wie militärisch abzugrenzen wusste – sind bis heute interessante und verhältnismäßig wenig untersuchte Themen. Die Nordallianz sollte als ein großes Kapitel seines Lebens in seine Biographie eingebettet werden. Dafür wurde ursprünglich die Biographische Methode[38] als Ansatz zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas gewählt. Diese Idee wurde jedoch verworfen, da es an Mitteln zu einer erfolgversprechenden Arbeit nach den Grundsätzen dieser Methodik fehlte. Es sind zwar einige Biographien über den Feldführer vorhanden und auch Interviews lassen sich zusammentragen, doch wären diese Mittel kaum ausreichend gewesen, um ein fundiertes und aussagekräftiges Bild dieser Person zu zeichnen. Da Ahmad Shah Massoud selbst im September 2001 ums Leben kam und Gespräche mit Personen aus seinem Umkreis in Afghanistan zum Zeitpunkt dieser Arbeit nicht möglich waren, wären die Quellen und Materialien zu gering gewesen, um damit eine Abschlussarbeit anzufertigen.

Mit dem Umdenken im methodischen Bereich ging gleichzeitig ein Wechsel des Kernthemas einher: Im Fokus dieser Arbeit stehen nun die Nordallianz und ihre Entstehung. Die Rolle Ahmad Shah Massouds als eine der einflussreichsten Personen in der Nordallianz wird aber weiterhin bei der Bearbeitung des Themas berücksichtigt – war er doch der führende Kopf jenes Widerstandsbündnisses.

In der Geschichtswissenschaft bedienen sich die Historiker bei ihrer Forschungsarbeit nicht einer einzigen (historischen), sondern vieler verschiedener Methoden, die zuweilen weit über den Fachbereich der Geschichte hinausgehen. Sellin erklärt diesen Methodenpluralismus dahingehend, dass sich die gewählte Methodik zum einen nach den verwendeten Quellen und zum anderen nach der Fragestellung richte. Die Überlappung verschiedener Wissenschaftsbereiche sei notwendig, da es sich bei den Themen der Historie immer auch um Gegenstände handele, die in den Fachbereich anderer Wissenschaften falle. Eine allgemeine historische Methode existiere nicht; lediglich methodische Grundansätze seien vorhanden, die sich je nach Quellenlage und Fragestellung zu speziellen Methoden herauskristallisieren könnten. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit seien grundlegend, um die Wirklichkeitsnähe der Geschichtswissenschaft zu gewährleisten – deshalb auch die vielfältigen methodischen Möglichkeiten.[39] Sellin schreibt in seiner Einführungsliteratur zur Geschichtswissenschaft auch, dass „diese Freiheit in der Entwicklung einer […] spezifischen Methodik […] auch dazu führen (könne), daß jemand zur Methode macht, was für andere eine Form der historischen Darstellung selbst ist.“[40]

Dem folgend ist ein großer Teil der vorliegenden Arbeit mitunter eine Darstellung der Geschehnisse, die zur Entstehung der Nordallianz beitrugen. Besonders die Entwicklung Afghanistans seit 1978 (Kap. II) ist hier von Bedeutung und wird zum besseren Verständnis des Kernthemas besonders berücksichtigt.

Ein gewichtiger Anteil dieser Arbeit ist der Gründung und den Mitgliedern (Kap. III) sowie der Positionierung der Allianz und den Hilfeleistungen von außen (Kap. V) gewidmet. Um diese Bereiche des Themas zu verstehen, muss jedoch ebenfalls dem Gegenspieler des Bündnisses, den Taliban (und mit ihnen den ausländischen Unterstützern) (Kap. II. 3, 4), eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt werden – ist die Allianz in ihrem Kern doch ein Widerstandsbündnis.

Die Umstände, die zur Gründung der Allianz führten, wurzeln außer in der poltischen Lage im Land in nahezu gleichem Maße in der gesellschaftlichen Struktur des afghanischen Volkes. Eine Betrachtung jener Gesellschaft mit ihrem vielschichtigen Geflecht an Traditionen und politischen und kulturellen Gegebenheiten ist daher ebenso erforderlich. Ohne Kenntnis der Mentalität und der gesellschaftlichen Beschaffenheit dieses Volkes, wäre die Darstellung eines Bereichs der afghanischen Geschichte lediglich oberflächlicher Natur und wahrscheinlich in höchstem Maße eingefärbt von westlicher Interpretation. Um dem Anspruch gerecht zu werden, ein umfassenderes und vor allem verständliches Bild zu skizzieren, wird das Thema, die Entstehung der Nordallianz, deshalb strukturgeschichtlich[41] eingebettet. Hierbei werden politik- und sozialgeschichtliche Kompositionen verwendet und besonders die gesellschaftliche Beschaffenheit des ethnischen Vielvölkerstaats mit seinen Stammesstrukturen (Kap. IV. 1) sowie kulturelle, besonders religiöse, Gebiete beleuchtet (Kap. IV. 3, 4). Ebenfalls finden in Kap. IV die staatlichen Strukturen besonders hinsichtlich der Bedeutung der Kriegsfürsten (Kap. IV. 2) und der Loya Djirga (Kap. IV. 5) Erwähnung.

Im Vorfeld dieser Arbeit wurde ein Interview (Anhang 1) mit dem afghanischen Botschaftsrat in Deutschland, Herrn Abed Nadjib, zum Thema der Nordallianz und der Rolle Ahmad Shah Massouds innerhalb des Bündnisses geführt. Auf Grundlage dieses Experten-Interviews wurde die Forschungsfrage entwickelt. Um den Kenntnisrahmen zu erweitern und das Interview mit Herrn Nadjib nicht allein stehen zu lassen, wird das letzte Interview mit Ahmad Shah Massoud (August 2001) gegenüber gestellt. So soll eine weitgehend fundierte Beantwortung der anfangs gestellten Frage erreicht werden. Der Vergleich der Aussagen in den beiden Interviews hilft zudem dabei, nicht der eingeschränkten Interpretation aufgrund von „Standortgebundenheit“ und „Seinsverbundenheit“ zu verfallen.[42]

II. Die Entwicklung Afghanistans ab 1978

1. Die sowjetische Zeit

Nach dem Putsch gegen den letzten König Afghanistans, Sahir Shah[43], am 17. Juli 1973 und einer bis ins Jahr 1978 andauernden Regierungs-Episode des ehemaligen Premierministers und Cousins des Königs, Mohammad Daoud[44], übernahmen kommunistisch gesinnte und von der Sowjetunion gestützte Regierungen die Macht in Kabul. Jene Führungsriege bestand aus Babrak Karmal[45], Noor Mohammad Taraki[46] und Hafisullah Amin[47].

Das Land erlebte zahlreiche als sozialistisch zu klassifizierende Reformen sowie gleichzeitig blutige Machtkämpfe innerhalb der Regierung und ihrer Anhänger, die in der rücksichtslosen Alleinherrschaft Amins mündeten. Als sich jener schließlich Pakistan und dem Westen zuzuwenden begann und Moskau den Zusammenbruch der kommunistischen Regierung und der kommunistischen Revolution in Afghanistan befürchten musste, wurde im sowjetischen Politbüro die Wiedereinsetzung Babrak Karmals als Staatschef und die Entscheidung für den Einmarsch in Afghanistan zur Rettung der „Saur-Revolution“[48] getroffen.[49]

In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember 1979 begann die sowjetische Invasion mit der gezielten Tötung des afghanischen Präsidenten und Führers der regierenden Demokratischen Volkspartei, Hafisullah Amin. Kurz nach dem erfolgreichen Attentat begann der Vormarsch sowjetischer Truppen über den Fluss Amudarja – der südlichsten Grenze der UdSSR zu Afghanistan.

Die Besetzung Afghanistans bildete den Auftakt für den beinahe ein Jahrzehnt währenden Krieg, in dem sich die Interventionstruppen der Sowjetunion und die neu installierte Regierung Karmal auf der einen und ein Heer von Stammeskriegern auf der anderen Seite gegenüberstanden.[50]

Angefacht durch die ausländische Intervention, wiedererwachte das Konzept des Djihad (siehe ausführlicher das Kapitel IV.4), das schon die Zeit der Anglo-Afghanischen Kriege[51] bestimmt hatte. Eng verknüpft mit dem Begriff des Djihad (der sich in jener Zeit zu einem politischen Kampfbegriff entwickelte) und als quasi personifizierte „Identität des Widerstands“[52] standen im Zentrum des Djihad der Mudjahid[53] (der Kämpfer für den Djihad), der Muhadjir (derjenige, der das Land des Unglaubens verlässt[54] – Auswanderer oder Flüchtling) und der Shahid (Märtyrer).

Diese Kämpfer für den Djihad erkannten die Legitimation ihres Krieges in der erneuten Besetzung des eigenen Landes durch Ungläubige – die sowjetischen Truppen und ihre Unterstützer, die DVPA-Regierung.[55]

Der anfängliche Erfolg der Sowjets wich rasch ausufernden Kämpfen zwischen den beiden Lagern. Die sowjetischen Kampftruppen sahen sich in jenem Krieg einem Gegner gegenüber, der nicht als hochgerüstete Streitmacht auftrat, sondern vielmehr mit einer Guerillataktik aus dem Hinterhalt operierte – in einem Land mit geologischen Begebenheiten wie jenen in Afghanistan eine erfolgversprechende Taktik. Den Widerstandskämpfern war es dank ihrer Ortskenntnisse und einem ausgefeilten Netz an Spähern und Boten möglich, sich den sowjetischen Angriffen mittels Artilleriefeuer oder Flächenbombardements aus der Luft vielfach zu entziehen, um dann plötzlich wieder aufzutauchen und den Soldaten im direkten Kampf gegenüberzustehen.[56]

Materielle und finanzielle Unterstützung bekamen die afghanischen Glaubenskämpfer von dem großen Gegenspieler der Sowjetunion im Kalten Krieg, den USA[57], sowie von China[58] und dem pakistanischen Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI).[59]

Direkte kämpferische Unterstützung erhielten sie außerdem von Freiwilligen aus arabischen Ländern, die sich bereit erklärten, ihre islamischen Brüder beim Djihad gegen die ungläubigen Marxisten zu unterstützen. Die Gruppe der Freiwilligen, die schon bald als „Afghanische Araber“ bezeichnet wurden, setzte sich zusammen aus jungen Männern aus Algerien, Ägypten, Kuwait, Saudi-Arabien sowie aus Usbekistan und China. Nach der Unterstützung der Afghanen wollten sie den Djihad in ihren Heimatländern weiterführen. Die „Araber-Afghanen“ hatten sich in Pakistan auf die Kämpferliste der Hizb-e Islami (Islamische Partei)[60] setzen lassen, die von dem Favoriten des ISI, Gulbuddin Hekmatyar[61], geleitet wurde.

Die Rekrutierung radikaler Muslime aus der ganzen Welt zur Unterstützung des afghanischen Widerstands gegen die Sowjets war eine Initiative des ISI. Aus diesem Grund sowie aufgrund der räumlichen Nähe Pakistans, befand sich das Hauptquartier des Widerstand in Peshāwar – der „Grenzstadt am Fuße des Khyber-Passes“, die von den Autoren Koelbl und Ihlau als das „Haupteinfallstor der Invasoren auf dem Subkontinent seit Menschengedenken“ bezeichnet wird.[62] Gleichwohl hatten alle beteiligten Parteien Gründe, dieses Unterfangen zu stützen und voranzutreiben: Der pakistanische Präsident Mohammad Zia-ul Haq (1977-1988) beabsichtigte, die Islamische Einheit zu festigen und Pakistan zum Aufstieg als muslimische Führung in der Welt zu verhelfen; den Amerikanern war sehr daran gelegen, die breite Unterstützung der Afghanen und „seinen amerikanischen Wohltätern“[63] durch die muslimische Weltbevölkerung gegen die Sowjetunion zu demonstrieren und Saudi-Arabien erkannte in diesem Unterfangen eine Gelegenheit, den Wahabismus[64] zu stärken und gleichzeitig die eigenen Radikalen außer Landes zu schaffen. Keine jener Parteien schien mit der Möglichkeit zu rechnen, dass jene Freiwillige ihre eigenen Pläne verfolgen und ihren Hass schließlich gegen ihre eigenen Regime und die Amerikaner richten könnten.

Letzten Endes waren über 100.000 radikale Muslime aus 43 islamischen Ländern des Mittleren Ostens, aus Nord- und Ostafrika, Zentralasien und dem Fernen Osten für den afghanischen Djihad rekrutiert worden und standen in Kontakt mit Pakistan und Afghanistan und unter Einfluss der Ausbildung für den Djihad.[65]

Es ist anzumerken, dass es den Allianzen der Widerstandsgruppen an Festigkeit und Loyalität fehlte. Es gab keine einheitliche Vision von der Zukunft Afghanistans, für die man gemeinsam kämpfte. Die verschiedenen Überzeugungen und Ziele rückten nur deshalb in den Hintergrund, weil man einen gemeinsamen großen Feind hatte, den es zu bekämpfen galt: die fremden nicht-muslimischen Besatzer im eigenen Land und mit ihnen die kommunistische Regierung in Kabul. Allianzen und Absprachen wurden mit den Parteien getroffen, die ein Erreichen dieses Ziels näher zu bringen schienen. Man war auf den eigenen Vorteil bedacht – hierfür wurde in jede nur mögliche Richtung verhandelt, selbst mit den Kabuler Kommunisten und auch mit sowjetischen Truppenführern.

Ein Jahrzehnt währte dieser Krieg, der sein Ende im Abschluss des Internationalen Genfer Afghanistan Abkommens vom 14. April 1988 und schließlich im Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan bis zum 15. Februar 1989 fand. Eingebettet in die geopolitischen Veränderungen war dieser Rückzug ein Ergebnis der innenpolitischen Krise der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre, dank derer Moskau sich zu diesem Schritt gezwungen sah.

Am Ende dieses Krieges hatten 1,3 Millionen Afghanen (Zivilisten wie Kämpfer) und 15.000 sowjetische Soldaten den Tod gefunden. Obwohl technisch überlegen, war es den sowjetischen Truppen nicht gelungen, den afghanischen Widerstand zu brechen und das Land unter ihre Kontrolle zu bringen.[66]

2. Bürgerkrieg

Der Rückzug der sowjetischen Truppen und das geringfügige Interesse der USA an der Region nach dem Sieg im Kalten Krieg hinterließen ein „kritisches Machtvakuum“, in dem die „Araber, die islamistischen Extremisten in Pakistan und Afghanistan und andere Dschihadisten (– und mit ihnen das afghanische Volk) […] sich selbst überlassen (wurden)“[67]. Die Bemühungen, das Land zu stabilisieren und den Flüchtlingen zur Heimkehr[68] zu verhelfen, wurden nahezu eingestellt; es fehlte an diplomatischem Druck, einen Kompromiss zwischen den sich nun bekriegenden Mudjaheddin -Gruppen herbeizuführen. Die Afghanistan-Politik der CIA wurde vielmehr den Verbündeten in Pakistan und Saudi-Arabien überlassen.[69]

Der Politologe Samuel Huntington fasst die Situation wie folgt zusammen:

„‚Der Krieg […] hinterließ eine angespannte Koalition islamistischer Organisationen, deren Absicht es war, den Islam gegen alle nicht-muslimischen Mächte voranzutreiben. Er hinterließ auch zahlreiche Experten und erfahrene Kämpfer, Trainingslager und logistische Einrichtungen, hoch entwickelte transislamische Netzwerke aus persönlichen und organisatorischen Verbindungen, eine große Menge an militärischer Ausrüstung, […] und, vielleicht am wichtigsten, einen Machtrausch und ein Selbstvertrauen angesichts dessen, was geleistet worden war und eine dringliche Sehnsucht nach neuen Siegen‘“.[70]

[...]


[1] Konzelmann, Gerhard: Dschihad und die Wurzeln eines Weltkonflikts, München 2003, S. 186.

[2] Wohlgut, Bernd: Afghanistan. 30 Jahre Krieg am Hindukusch. Über die historische Entwicklung von 1979 bis 2009 mit Einsätzen und Hintergründen. Über Warlords, Gewalt, Erfolge und Fehler, Aachen 2011.

[3] Barfield, Thomas: Afghanistan. A Cultural and Political History, Princeton 2010.

[4] Schetter, Conrad: Kleine Geschichte Afghanistans, 2. Aufl., München 2007.

[5] Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin 2003.

[6] Rashid, Ahmed: Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch, 2. Aufl., München 2011.

[7] Chiari, Bernhard (Hg.) (i.A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes): Afghanistan, 3. Aufl., Paderborn 2009.

[8] Brechna, Habibo: Die Geschichte Afghanistans. Historische Ereignisse, Erzählungen und Erinnerungen, 2. Aufl., Zürich 2011.

[9] Koelbl, Susanne/ Ihlau, Olaf: Krieg am Hindukusch. Menschen und Mächte in Afghanistan, München 2009.

[10] Misdaq, Nadi: Afghanistan. Political frailty and external interference, London/ New York 2006.

[11] Baker, Kevin: War in Afghanistan. A Short History of 80 Wars and Conflicts in Afghanistan and the North-West Frontier 1839-2011, Kenthurst 2011.

[12] Bundeszentrale für politische Bildung: Afghanistan und Pakistan, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37/ 2007.

[13] Becker, Johannes M./ Wulf, Herbert (Hg.): Afghanistan: Ein Krieg in der Sackgasse, 2. Aufl., Berlin 2011.

[14] Miller-Jones, Edward R.: War in Afghanistan. Country devastated by violence, Beau Bassin 2010.

[15] Ewans, Martin: Conflict in Afghanistan. Studies in asymmetric warfare, London/ New York 2005.

[16] Tomsen, Peter: The Wars of Afghanistan. Messianic Terrorism, Tribal Conflicts, and the Failure of Great Powers, Philadelphia 2011.

[17] Reder, Christian: Afghanistan, fragmentarisch, Wien 2004.

[18] Clements, Frank A.: Conflict in Afghanistan. An Encyclopedia, Santa Barbara 2003.

[19] Krech, Hans: Der Afghanistan-Konflikt 2001. Ein Handbuch, Berlin 2002.

[20] Sellin, Volker: Einführung in die Geschichtswissenschaft, erw. Neuausgabe, Göttingen 2005.

[21] Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Orientierung Geschichte, Paderborn 2009.

[22] Opgenoorth, Ernst/ Schulz, Günther: Einführung in das Studium der Neueren Geschichte, 6. Aufl., Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 2001.

[23] Chiari, Bernhard (Hg.) (i.A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes): Afghanistan, Paderborn 2006.

[24] Schetter, Conrad J./ Wieland-Karimi, Almut (Hg.): Afghanistan in Geschichte und Gegenwart. Beiträge zur Afghanistanforschung, Frankfurt am Main 1999.

[25] Koelbl/ Ihlau, a.a.O.

[26] Berger, Silvia/ Kläy, Dieter/ Stahel, Albert A.: Afghanistan – ein Land am Scheideweg. Im Spiegel der aktuellen Ereignisse, Zürich 2002.

[27] Rashid, Ahmed: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, 2. Aufl., München 2001.

[28] Rasid, Ahmed: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban, 3. Aufl., Düsseldorf 2010.

[29] Krech, Hans, a.a.O.

[30] Schetter: Ethnizität, a.a.O.

[31] Grad, Marcela: Massoud. An Intimate Portrait Of The Legendary Afghan Leader, St. Louis 2009.

[32] Konzelmann, a.a.O.

[33] Adamec, Ludwig W: Historical Dictionary of Afghanistan, 4. Aufl., Plymouth 2012.

[34] Brechna, a.a.O.

[35] Homepage der Central Intelligence Agency (CIA): https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook, letzter Zugriff am 23.05.2012.

[36] Balcerowicz, Piotr: The Last Interview with Ahmad Shah Massoud, August 2001: http://www.orient.uw.edu.pl/balcerowicz/texts/Ahmad_Shah_Masood_en.htm, letzter Zugriff am 23.05.2012.

[37] Opgenoorth/ Schulz, a.a.O., S. 20.

[38] Die Biographische Methode oder biographische Forschung behandelt jene Forschungs-ansätze und -wege in den Sozialwissenschaften, die sich mit der Lebensgeschichte eines oder mehrerer Menschen, also der Biographie als Datengrundlage, beschäftigen.

Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 9.

[39] Vgl. Sellin, a.a.O., S. 84 ff., 93 ff.

[40] Ebd., S. 93.

[41] Im Rahmen der strukturgeschichtlichen Forschungsrichtung ist die Arbeit der französischen Historiker Marc Bloch (1886-1944) und Lucien Febvre (1878-1956) von großer Bedeutung. Sie schufen die Zeitschrift „Annales d’histoire économique et sociale“ als ein Organ, in dem ihre Forderung nach einem Umschwenken der Konzentration auf die politischen, hin zu den gesellschaftlichen Bereichen publik gemacht werden konnten. Nicht mehr die Person und die Ereignisse wollten sie im Mittelpunkt des Interesses wissen, sondern vielmehr die anonym-kollektiven Gegebenheiten, besonders die wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Strukturen und ihre langjährige Entwicklung. Für dieses Unterfangen forderten sie eine Öffnung der star-ren Strukturen hin zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften.

In der Bundesrepublik entwickelte sich eine separate Form jener Forschungsrichtung, deren Schöpfer die Neuzeithistoriker Werner Conze (1910-1986) und Theodor Schieder (1908-1984) und der Mediävist Otto Brunner (1898-1982) waren. Die Strukturgeschichte wurde hier gleichermaßen als Sozialgeschichte verstanden, und stärker als bei den Herren der Annales-Schule, lag das Augenmerk hier auf den strukturgeschichtlichen Facetten des 19. und 20. Jahrhunderts, allen voran auf den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten der Ereignisgeschichte. Diese frühe Form der Sozialgeschichte zielte auf eine historische Betrachtung ab, die soziale, ökonomische und politische Faktoren im Zusammenhang zueinander betrachtete.

Vgl. Jordan, a.a.O., S. 80, 101 f.

Vgl. Opgenoorth/ Schulz, a.a.O., S. 27 f.

[42] Arnd-Michael Nohl rät zu einem solchen Vergleich, da der Blick auf lediglich einen Interviewtext dazu verleiten würde, diesen ausschließlich vor dem Hintergrund des eigenen Wissens über das spezielle Thema zu interpretieren – von ihm als „Standortgebundenheit und Seinsverbundenheit“ bezeichnet. Der Vergleich mit einem anderen Interview führe vom eigenen Alltagswissen weg und die Interpretation geschehe so vielmehr vor dem Hintergrund anderer empirischer Fälle. Damit werde das eigene Wissen methodisch relativiert, so Nohl.

Vgl. Nohl, Arnd-Michael: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 12 f.

[43] 1914-2007. Afghanischer König von 1933-1973. Sahir Shah entstammt der paschtunischen Dynastie der Durrani. Nachdem er 1973 durch seinen Cousin Mohammad Daoud gestürzt wurde, ging er ins Exil nach Rom. 2002 kehrte er nach Afghanistan zurück.

Vgl. Krech, a.a.O., S. 248.

[44] 1909-1987. Sardar Mohammad Daoud Khan errichtete nach seinem Putsch gegen Sahir Shah im Juli 1973 die Republik Afghanistan und erklärte sich selbst zu ihrem Präsidenten. Daoud versuchte, das Land zu modernisieren, errichtete jedoch eine autoritäre und repres-sive Herrschaft ohne demokratische Prinzipien. Die Abwendung von Moskau führte schließ-lich zu seinem Sturz und gleichwohl zu seinem Tod im April 1978 (siehe Saur-Revolution).

Vgl. Schetter, Afghanistan, a.a.O., S. 92.

Vgl. Homepage Afghanistan-Online: http://www.afghan-web.com/bios/yest/daoud.html, letzter Zugriff am 22.05.2012.

[45] 1929-1996. Karmal war von 1979 bis 1986 Präsident der Demokratischen Republik Afghanistan. Er war Mitbegründer der Hizb-e-Dimukratik-e-Khalq (Demokratische Volkspartei Afghanistans, DVPA). Nach der Spaltung der Partei im Jahr 1967 übernahm er die Führung des gemäßig-ten DVPA-Flügels Part šam. Nach dem erneuten Zusammenschluss der beiden Kader und der Regierungsübernahme der DVPA im Jahr 1978 wurde Karmal zunächst stellvertretender Premierminister. Nach einer kurzen Episode als Botschafter in Prag, wurde Karmal 1979 von den Sowjets als neuer Staatspräsident eingesetzt.

Vgl. Homepage Wahid Momands: http://www.afghanland.com/history/karmal.html, letzter Zugriff am 22.05.2012.

[46] 1919-1979. Taraki war von 1978 bis 1979 afghanischer Staatschef. Der paschtunische Politiker war einer der Mitbegründer der DVPA, nach deren Spaltung er sich dem radikalen Flügel der Khalq anschloss. Sein Mitstreiter Hafisullah Amin erzwang im September 1979 seinen Rücktritt. Kurz darauf starb Taraki – eine Ermordung durch Amin selbst oder in dessen Auftrag wird vermutet.

Vgl. Chiari, Bernhard: Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan und die Besatzung von 1979 bis 1989, in: Chiari (2006), a.a.O., S. 54.

Vgl. Homepage Afghanistan-Culture: http://www.afghanistan-culture.com/noor-mohammad-taraki.html, letzter Zugriff am 22.05.2012.

[47] 1929-1979. Afghanischer Staatschef von September bis Dezember 1979. Amin war ebenfalls Mitbegründer der DVPA und gehörte wie Taraki nach deren Spaltung dem Flügel der Khalq an. Nach der Übernahme des Regierungspostens, wurde Amin wie viele seiner Anhänger im Zuge des sowjetischen Einmarsches ermordet.

Vgl. Homepage Afghanistan-Online: http://www.afghan-web.com/bios/yest/amin.html, letzter Zugriff am 22.05.2012.

[48] Mit der „Saur-Revolution“ oder „April-Revolution“ wird der Sturz Daouds und die darauf fol-gende Umwälzung des politischen Systems Afghanistans bezeichnet, bei der Daoud und zahlreiche seiner Familienangehörigen und politischen Anhänger ums Leben kamen. Die kommunistische DVPA rief daraufhin die Demokratische Republik Afghanistan aus und be-stimmte Taraki zum Präsidenten und Führer der Revolutionsrates. Karmal rief im Dezember 1979 die zweite Phase der „Saur-Revolution“ aus, in der Tarakis Nachfolger Amin gestürzt und er und seine Anhänger ermordet wurden und Karmal die Präsidentschaft übernahm.

Vgl. Jonas, Gisela (i.A. des Antirassistisch-Interkulturellen Informationszentrums, ARiC Berlin e.V.): Afghanistan. Geschichte Afghanistans – Chronik von den Anfängen bis Dezember 2002, 2. Aufl., Berlin 2003, S. 9.

Vgl. Schetter, Afghanistan, a.a.O., S. 94 ff.

Vgl. Chiari, Sowjetischer Einmarsch, a.a.O., S. 51 f.

[49] Vgl. Berger/ Kläy/ Stahel, a.a.O., S. 5 ff.

[50] Vgl. Chiari, Sowjetischer Einmarsch, a.a.O., S. 50.

[51] Insgesamt drei Mal führte Großbritannien im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts Krieg in Afghanistan. Mit dem ersten Anglo-Afghanischen Krieg 1838-1842 zielte Großbritannien auf die Sicherung seiner Vormachtstellung in der begehrten Region ab. Das russische Zarenreich machte ebenfalls Ansprüche geltend und so kam es zum Konflikt zwischen den beiden Groß-mächten auf afghanischem Boden. Eine Annäherung des afghanischen Emirsohns Sher Ali an das Zarenreich bildete den Anlass für den zweiten Anglo-Afghanischen Krieg 1878/79, in dessen Folge Afghanistan zum halbautonomen Protektorat Britisch-Indiens erklärt wurde. König Amanullah (1919-1929) strebte die Unabhängigkeit von der britischen Krone an und erklärte Großbritannien 1919 den Krieg. Im Vertrag von Rawalpindi wurde schließlich am 8. August 1919 die Unabhängigkeit Afghanistans festgelegt.

Vgl. Baberowski, Jörg: England und Russland: Afghanistan als Objekt der Fremdherrschaft im 19.Jahrhundert, in: Chiari (2006), a.a.O., S. 26.

[52] Wieland-Karimi, Almut: Islamische Konzepte und politische Koalitionen, in: Schetter/ Wieland-Karimi, a.a.O., S. 70.

[53] Über das Wesen des Mudjahid existiert kein allgemeingültiges Verständnis: der unmittelbaren Wortbedeutung nach handelt es sich bei dem Mudjahid um einen Kämpfer für die Sache des Islam; im politischen Sinne meint selbiger den Begriff des Freiheitskämpfers.

[54] Der Begriff ist angelehnt an die Hidjra, die Übersiedlung des Propheten und einige seiner Anhänger von Mekka nach Yathrib (das spätere Medina) im Jahr 622. Diese Hidjra markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.

Vgl. Krämer, Gudrun: Geschichte des Islam, Bonn 2005, S. 21.

[55] Vgl. Wieland-Karimi, a.a.O., S. 69 f.

[56] Vgl. Chiari, Sowjetischer Einmarsch, a.a.O., S. 57 f.

[57] In erster Linie ging es den Amerikanern bei der Kooperation mit dem afghanischen Wider-stand darum, den Sowjets zu schaden, um schließlich den Sieg im Kalten Krieg davonzu-tragen. Die Unterstützung der afghanischen Rebellen gegen die kommunistische Regierung in Kabul zeigte die erwünschte Wirkung und veranlasste Moskau schließlich im Dezember 1979 zum Eingreifen, um den Sturz des Revolutionsregimes zu verhindern.

Vgl. Koelbl/ Ihlau, a.a.O., S. 14.

[58] Im Laufe des Kalten Krieges hatten sich die Volksrepublik Mao Tse Dongs und die UdSSR aufgrund machtpolitischer Unstimmigkeiten überworfen. Im Zuge der Abkehr vom kommunistischen Bruderstaat näherte sich China den USA an.

[59] Vgl. Ebd., S.13 f.

[60] Die überwiegend paschtunische Hizb-e Islami entstand Mitte der 1970er Jahre. Im Kampf gegen die UdSSR erhielt sie große Unterstützung von den pakistanischen und amerikanischen Geheimdiensten ISI und CIA sowie von Saudi-Arabien. Ihr Anführer Gulbuddin Hekmatyar erkannte im intellektuellen Islamismus eine geeignete Ideologie, die das radikale Pashtunwali mit den Zielen eines modernen Islam verband.

Vgl. Schetter, Ethnizität, a.a.O., S. 429 ff.

Vgl. Krech, a.a.O., S. 233.

[61] Der studierte Ingenieur ist der bedeutendste paschtunische Feldkommandant Afghanistans. Er wurde 1949/50 in den Stamm der Ghilzai-Paschtunen hineingeboren. Der größte Konkurrent Ahmad Shah Massouds war bis zum Aufkommen der Taliban der Favorit der ausländischen Unterstützer ISI und CIA. 1996 war Hekmatyar afghanischer Ministerpräsident. Hekmatyar lebt (seit der Machtübernahme der Taliban) im Exil im Iran.

Vgl. Ebd., S. 239.

[62] Koelbl/ Ihlau, a.a.O., S. 13.

[63] Rashid, Taliban, a.a.O., S. 222.

[64] Der Afghanistan-Experte Gerhard Konzelmann bezeichnet den Wahabismus als die „Wurzel der Taliban“ (Konzelmann, a.a.O., S. 73). Die islamische Bewegung entstand im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel; sie geht zurück auf Muhammad Ibn Abdel Wahab (1703-1791). Wahab propagierte eine Ideologie der absoluten Unterwerfung. Die Dreifaltigkeit des Christentums lehnte er ab und bezeichnete sie als Gotteslästerung. Neben den Christen wurden auch die Schiiten und die Juden zu Feinden Allahs erklärt, gegen die man Krieg führen müsse. Der Wahabismus propagiert eine strenge Auslegung des Koran, die sich in einer strikten Reglementierung aller Lebensbereiche niederschlägt.

Vgl. Ebd., S. 73 ff.

Vgl. Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung, Conemann, Stephan: Wahhâbiten: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/islam-lexikon/21733/wahhabiten, letzter Zugriff am 22.05.2012.

[65] Vgl. Konzelmann, a.a.O., S. 67.

Vgl. Rashid, Taliban, a.a.O., S. 220 ff.

[66] Vgl. Chiari, Sowjetischer Einmarsch, a.a.O., S. 51 ff.

[67] Rashid, Sturz, a.a.O., S.32.

[68] Zwischen 1979 und 1992 waren über 6 Millionen Menschen – mehr als ein Fünftel der Bevölkerung – aus Afghanistan geflohen.

Vgl. Homepage von Amnesty International: http://www.amnesty.org/en/library/asset/ASA11/016/1999/en/dda593a9-e034-11dd-865a-d728958ca30a/asa110161999en.pdf, letzter Zugriff am 22.05.2012.

[69] Vgl. Rashid, Sturz, a.a.O., S. 32.

[70] Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/ Wien 1997, zitiert nach: Rashid, Taliban, a.a.O., S. 223 f.

Final del extracto de 79 páginas

Detalles

Título
Die Entstehung der Nordallianz in Afghanistan
Universidad
University of Potsdam  (Historisches Institut)
Calificación
1,0
Autor
Año
2012
Páginas
79
No. de catálogo
V202989
ISBN (Ebook)
9783656320050
ISBN (Libro)
9783656324980
Tamaño de fichero
1444 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Afghanistan, Nordallianz, Taliban, Ahmad Shah Massoud, Massud, Hekmatyar, Rabbani, Osama bin Laden, Al Quaida, Al Qaida
Citar trabajo
Anna Wengel (Autor), 2012, Die Entstehung der Nordallianz in Afghanistan, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202989

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