Die Hartz-Reformen und die Armutsentwicklung in Deutschland

Ursachen und armutsbeeinflussende Folgen Deutschlands umfangreichster Sozialreform


Examination Thesis, 2012

94 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

2. Armut
2.1. Definitionen von Armut
2.1.1. Absolute Armut
2.1.2. Relative Armut
2.1.2.1. Ressourcenansatz
2.1.2.2. Lebenslagenansatz
2.2. Herausforderungen für die Armutsforschung
2.3. Geschichte des Armutsbegriffs
2.3.1. Exklusion
2.3.2. Armutskonzepte im Wandel der Zeit in der BRD
2.3.2.1. Die neue Armut
2.3.2.2. Armut im Sinne der Zwei-Drittel-Gesellschaft
2.3.2.3. Armut im Sinne der Risikogesellschaft
2.3.2.4. Armut als kumulierte Deprivation
2.3.3. Armut im Wandel der Zeit in der BRD .
2.4. Fazit

3. Reformpaket: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.1. Bestandsaufnahme vor den Reformen
3.1.1. Strukturelle Entwicklungen auf der Metaebene
3.1.2. Herausforderungen für das Sozialsystem
3.1.3. Politische Entwicklungen
3.2. Mitwirkende der Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.2.1. Bundesregierung SPD und Bündnis 90/Die Grünen
3.2.2. Kommission für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.3. Die 13-Innovationsmodule
3.3.1. Strukturelle Elemente der Kommissionsvorschläge
3.3.2. Fördernde Elemente der Kommissionsvorschläge .
3.3.3. Fordernde Elemente der Kommissionsvorschläge
3.4. Stufenplan der Reformen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.4.1. Erstes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.4.2. Zweites Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.4.3. Drittes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.4.4.Viertes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
3.5. Fazit

4. Verbindungen zwischen den Reformen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und der Armutsentwicklung
4.1. Vorbedingungen
4.2. Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
4.3. Zentrale Armutsentwicklungen seit den Gesetzen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
4.3.1. Atypische Beschäftigungsformen
4.3.1.1. Zeitarbeit
4.3.1.2. Befristete Beschäftigung
4.3.1.3. Teilzeitbeschäftigung
4.3.1.4. Geringfügige Beschäftigung
4.3.2. Niedriglohnsektor als Folge von atypischer Beschäftigung
4.3.3. Subventionierte Erwerbstätigkeit

5. Fazit

6. Abkürzungsverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit den Hartz-Reformen wurden die umfangreichsten Änderungen im arbeitsmarktpolitischen und sozialen Bereich seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) vorgenommen. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde von den Folgen der Gesetze direkt oder indirekt betroffen. Als Verknüpfungspunkt zwischen den Hartz-Reformen und dem Begriff der Armut kann exemplarisch die anhaltende Diskussion um die Hartz-IV- Regelsätze aufgegriffen werden. Diese wurden bereits mehrmals aufgrund ihrer angezweifelten Existenzsicherungsfunktion vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt und im Februar des Jahres 2009 für verfassungswidrig erklärt.1 Im April dieses Jahres wurden die Regelsätze erneut von dem Berliner Sozialgericht als Verstoß gegen das Grundgesetz bewertet, bevor sie jedoch vom Bundesverfassungsgericht im Juli als rechtmäßig erklärt wurden.2 Die würdevolle Existenzsicherung durch den Staat ist seit den Hartz-Reformen somit in der Diskussion und sie umfasst neben den Hartz-IV-Gesetzen weitere armutsrelevante Faktoren.

Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Fragestellung beschäftigen, inwieweit die Hartz-Reformen auf die Armutsentwicklung in der BRD Einfluss genommen haben. Die zu Grunde liegende Thematik mit dem Titel „Hartz-Reformen und Armutsentwicklung in Deutschland“ lässt sich inhaltlich in zwei Bereiche aufteilen, die mit den ersten beiden Kapiteln „Armut“ und „Reformpaket: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt “ dargestellt werden. Die Synthese der Erkenntnisse wird anschließend mit den „Verbindungen zwischen den Gesetzen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und der Armutsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland“ formuliert.

Aufbau der Arbeit: Zunächst wird im zweiten Kapitel der Armutsbegriff definiert. Bei dieser Begriffserläuterung wird zwischen der absoluten und der relativen Armut unterschieden. Die Fokussierung auf die relative Armut wird durch die Aufspaltung des Begriffs in den Ressourcen- und Lebenslagenansatz erreicht. Aus diesen Definitionen ergeben sich „Herausforderungen für die Armutsforschung“, die am Beispiel der Prekarität dargestellt werden. Der dort beschriebene Zustand bildet einen zentralen Punkt in dieser Arbeit. Die unterschiedlichen Armutskonzepte der Zeit ermöglichen die Veranschaulichung der Armutsentwicklung anhand der verschiedenen Konzepte der Exklusion, neuen Armut, Zwei-Drittel-Gesellschaft, Risikogesellschaft, kumulierten Deprivation. Die konkrete Armutsentwicklung der BRD wird am Anschluss daran, anhand von fünf Phasen unter dem Titel „Armut im Wandel der Zeit in der BRD“, dargestellt. Im Fazit des Kapitels werden verschiedene Meinungen zur Begriffsdefinition und die Problematik erneut aufgegriffen, welche Schwierigkeiten sich mit dem Begriff Armut ergeben.

Das dritte Kapitel dient zur Darstellung der Reformen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Die Entwicklungen im Vorfeld, welche die Hartz-Gesetze zur Folge hatten, werden in drei Bereichen erarbeitet. Der Erste lautet „Strukturelle Entwicklungen auf der Metaebene“ und beinhaltet hauptsächlich den Aspekt der Tertiärisierung. Anschließend folgt die Darstellung der „Herausforderungen für das Sozialsystem“, die sich aus wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Zusammenhängen ergeben. Abgeschlossen wird mit den neueren politischen Entwicklungen, die sich auf den Vermittlungsskandal beziehen. Die weitere Betrachtung der Reformen bezieht sich auf den Personenkreis und Parteien, die an der Planung und Umsetzung der Reformen beteiligt waren. Mit der damaligen Bundesregierung bestehend aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen und der „Kommission für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt “ werden zwei Untersuchungsschwerpunkte gelegt. „Die 13-Innovationsmodule“, welche die Vorschläge der Kommission darstellten, werden anhand ihrer Merkmale voneinander abgegrenzt, indem zwischen strukturellen, fördernden und fordernden Vorschlägen unterschieden wird. Die darauf aufbauende Veranschaulichung der Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt erfolgt im Anschluss, wobei die armutsbezogenen Faktoren im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Das Fazit dieses Kapitels weist abschließend auf den Wechsel der Denkweise hin, der sich aus den Reforminhalten herauslesen lässt.

Das vierte Kapitel stellt eine Verbindung aus den vorherigen beiden Kapiteln her. Die Vorbedingungen geben zunächst Hinweise auf den weiteren Verlauf der Arbeit und ziehen ein Zwischenfazit. Im Anschluss gibt der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008 Auskunft über die Bewertung der Politik hinsichtlich der sozialen Situation in der BRD. Der dritte Unterpunkt des vierten Kapitels arbeitet die einzelnen Formen der atypischen Beschäftigungsformen heraus, deren armutsspezifische Relevanz und die Ausdehnung durch die Hartz-Reformen begründet werden. Als Zusammenfassung und Ausblick dienen die anschließenden Punkte „Niedriglohnsektor als Folge von atypischer Beschäftigung“ und „Subventionierte Erwerbstätigkeit“.

Nach der inhaltlichen Vorgehensweise folgen an dieser Stelle noch einige Hinweise zur Begrifflichkeit, Zeitlichkeit, Forschungsstand, Bezugsrahmen und der diesbezüglichen Positionierung.

Begrifflichkeit: Obwohl „Hartz“ kein wissenschaftlicher Begriff und mit zahlreichen negativen Wertungen belastet ist, wird er aufgrund seiner Gebräuchlichkeit in dieser Arbeit verwendet. Die Hartz-Gesetze sind also synonym mit den Gesetzen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zu verstehen. Der Armutsbegriff, ebenfalls in der Themenstellung befindlich, besitzt multidimensionalen und subjektiven Charakter und wird somit von einer gewissen Unangreifbarkeit begleitet. Bei der Lektüre dieser Arbeit ist also die Berücksichtigung hilfreich, dass eine vollständige Objektivierung und Operationalisierung nicht möglich ist.

Eingrenzung: Inhaltlich ist die Arbeit dem Grenzbereich zwischen den Sozial- und Geschichtswissenschaften zuzuordnen. Innerhalb der Geschichtswissenschaften berührt das Thema die Teildisziplinen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie der Politikgeschichte. Diese Feststellung lässt sich aus der Erkenntnis formulieren, dass die Reformen als Resultate politischer Akteure und staatlicher Maßnahmen zu verstehen sind und auch gesellschaftliche Strukturanpassungsprozesse hervorrufen.

Zeitlichkeit: Die Gegenwartsnähe des Themas bewirkt, dass nur eine Tendenz der Entwicklungen und noch keine abschließende Bewertung vorgenommen werden kann. Die umfangreichen nachträglichen Gesetzeskorrekturen bis zum heutigen Tag einerseits und die vielen Protestbewegungen von Gewerkschafts- und Arbeitnehmerverbänden, Arbeitnehmerflügel verschiedener Parteien, kirchlichen Organisationen sowie von privaten Interessensinitiativen andererseits zeigen, dass sowohl Integrations- als auch Akzeptanzprozesse bisher nur kurzfristigen Einschätzungen unterzogen werden können. Längerfristige Bewertungen zwischen Armutsentwicklung und Hartz-Reformen sind zu diesem Zeitpunkt nicht möglich.

Forschungsstand: Die letztgenannte Tatsache schlägt sich auch auf die Geschichtsforschung nieder. Der Anteil der populärwissenschaftlichen Literatur hinsichtlich der Reformen und deren Auswirkungen ist dem Segment der wissenschaftlichen Publikationen im Umfang überlegen.

Zunächst kann im zweiten Kapitel, welches sich mit dem Begriff der „Armut“ befasst, noch über eine weitreichende Forschungsgrundlage verfügt werden: Diese spiegeln sich in der Verwendung von Werken wie den „Elementaren Formen der Armut“3 (Paugam) oder „Poverty“4 (Rowntree) und zusätzlichen Konzepten verschiedener Armutsverständnisse nach Tschümperlin, Townsend5, Glotz, Beck und deren Aufarbeitung von Fischer6 wider. Die Gründe dafür liegen in der Historizität des Phänomens Armut, welches sich zwar gewandelt hat, aber durch seinen multidimensionalen und subjektiven Charakter von einer Unangreifbarkeit begleitet wird. Bei der Lektüre dieser Arbeit sollte also beachtet werden, dass eine vollständige Objektivierung und Operationalisierung des Begriffs nicht möglich ist.

Die Reformdarstellung im dritten Kapitel hingegen beruht auf den Gesetzestexten selbst und wenigen, überwiegend wertungsfreien, wissenschaftlichen Darstellungen wie „Hartz plus“7 oder Aufsätzen wie „Die Entwicklung von Hartz I bis Hartz IV“8 und „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Die Reform des Arbeitsmarktes durch Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission“9. Eher dem Bereich der populärwissenschaftlichen Literatur zugehörig findet der Titel „Armut in einem reichen Land“10 ebenfalls Eingang in diesen Bereich der Arbeit. Es werden jedoch keine Bewertungen sondern vielmehr Tatsachendarstellungen von Reforminhalten als Hinweise auf weitere Ansatzpunkte für Untersuchungen genutzt. Das zweite und dritte Kapitel besitzen einen eher deskriptiven Charakter, um im vierten Kapitel und dem Fazit darauf aufbauend richtungsweisende Gedanken zu formulieren.

Aus den genannten Gründen zum Mangel wissenschaftlicher Arbeiten sind die Darstellungen des vierten Kapitels auf Statistiken von Internetportalen (Statista11, Statistisches Bundesamt12 ) angewiesen, um arbeitsmarktspezifische und gesellschaftliche Entwicklungen zu belegen. Diese werden mit gesetzlichen Beschlüssen der Hartz-Reformen und Veröffentlichungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), in seiner Funktion als Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, abgeglichen. Zusätzlich werden die Meinungen der arbeitgebernahen (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Institut der deutschen Wirtschaft, Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister) und arbeitnehmernahen (Hans-Böckler-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Deutscher Gewerkschaftsbund, Sozialverband Deutschland) Interessensinitiativen für eine ausgeglichene Darstellung unterschiedlicher Interessensgruppierungen sorgen.

Bezugsrahmen: Die Relation, welche man dem Armutskonzept zu Grunde legt, ist entscheidend für die Beantwortung der Fragestellung. Zum zeitlichen und geographischen Rahmen ist zu sagen, dass sich die Arbeit auf die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, also seit den 1950er Jahren bis heute, bezieht.

Positionierung: Aufgrund des wenig vorhandenen Forschungsstands ist es nicht möglich eine eigene Positionierung mit Hinblick auf die bestehende Forschung zu formulieren. Das der Themenwahl immanente Motiv gibt jedoch Auskunft über die bestehende Vermutung, dass eine Kausalität zwischen den Bereichen der Armut und den Hartz-Reformen vorausgesetzt wird.

2. Armut

„ Das Geld, das man besitzt, ist das Mittel zur Freiheit, dasjenige, dem man nachjagt, das Mittel zur Knechtschaft. “ (Jean-Jacques Rousseau)

2.1 Definitionen von Armut

Nach Nuscheler ist Armut „keine Eigenschaft, sondern eine von gesellschaftlichen und politischen Bedingungen abhängige Lebenssituation“13. Als umstandsabhängige Erscheinung eröffnet sie vielerlei Möglichkeiten der Definition, Messung und Bewertung.

Die Armutsforschung, so Geißler, ist sich über folgende drei Aspekte der Armut einig: Erstens handelt es sich in der BRD nicht um eine absolute, sondern um eine relative Armut14, die nicht das physische Überleben, sondern das menschenwürdige Leben in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Zweitens wird sie abhängig von Geschichte und Kultur einer Gesellschaft begriffen und wie bereits durch Nuscheler festgestellt, werden Festlegungen der annehmbaren Mindestversorgung von gesellschaftlichen und politischen Mehrheitsmeinungen beeinflusst. Der dritte Aspekt beschreibt die Mehrdimensionaliät der Armut. Sie ist nicht nur eine ökonomisch-materielle, sondern auch eine soziale, kulturelle und psychische Erscheinung. Die Auswirkungen dieser Erkenntnis spielen in der Armutsdefinition eine gewichtige Rolle. Die Folgen von ökonomischem und materiellem Mangel sind miteinander verknüpft und haben einen nahezu vollständigen Ausschluss von der Partizipation am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben zur Folge.15 Daher ist es unabdingbar, dass zwischen relativer und absoluter Armut unterschieden werden muss. Innerhalb der jeweiligen Kategorie versuchen verschiedene Indikatoren den Grad der Armut messbar und damit greifbarer und vergleichbarer zu machen. Insgesamt gibt es eine Pluralität von Definitionen, die die Schwierigkeiten erahnen lässt, empirisch verwendbare Ergebnisse zu erlangen. Zusätzlich werden Armutsgrenzen festgelegt, die sich an den unterschiedlichen Armutsverständnissen orientieren und eine Bewertung ermöglichen sollen.

2.1.1 Absolute Armut

Die absolute Armut beschreibt eine, wie die Wortbedeutung bereits erahnen lässt, allumfassende, totale und ganzheitliche Armut und wurde durch Benjamin Rowntree zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet.16 Wer also in seiner Existenz bedroht ist, da ihm die dazu notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung und Wohnung nur mangelhaft zur Verfügung stehen, gilt als absolut arm.17 Rowntree bezeichnete diese Indikatoren für die Überlebensgrenze als „maintenance of merely physical health“18, also frei übersetzt, als ein Zustand von kaum ausreichender Gesundheit. Butterwegge ergänzt die genannten Notwendigkeiten zum Überleben durch den Anspruch auf medizinische Versorgung.19

Als in der Allgemeinheit akzeptierter Indikator für die absolute Armutsgrenze gilt heutzutage das Maß von 1,25 US$ pro Tag. Die Teile der Bevölkerung mit weniger zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln gelten nach Auskunft der Weltbank als absolut arm.20 Der Ausschuss für Entwicklungshilfe (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) differenziert den Armutsbegriff in seinen Richtlinien zur Armutsbekämpfung genauer: Er unterscheidet zwischen den Grenzen von „US$1 a day for lowincome countries, US$2 for middle-income countries, and US$4 for transition economies“21. Diese Betrachtungsweise bezieht sich somit auf das jeweilige Bruttonationaleinkommen eines Landes.22

2.1.2 Relative Armut

Die relative Armut setzt den Maßstab zum Leben von Personen oder Haushalten in das Verhältnis zum arithmetischen Mittel der Gesamtbevölkerung eines Landes und damit im Bezug zum Wohlstand. Mit dieser Tatsache werden Vergleiche zum Verständnis der sozialen Ungleichheit gezogen. Deutlich wird dieser Gedanke hinsichtlich der Anwendung auf sogenannte Entwicklungsländer. Die Aussagekraft der relativen Armut verliert an Bedeutung, wenn eine Gleichverteilung des Einkommens in der Bevölkerung vorliegt, jedoch das niedrige Niveau ein Überleben erschweren würde. Ein weiteres Problem der Anwendbarkeit entsteht, wenn die Ernährungsversorgung der Bevölkerung stagniert und ebenfalls die Gesamtbevölkerung von dieser Tatsache betroffen ist.23 Damit liegt der Fokus der Anwendung auf „Wohlfahrtstaaten mit ausgebauten sozialen Sicherungssystemen und weitgehender Monetarisierung des wirtschaftlichen Geschehens“24. Die Betrachtung unterscheidet sich in der Zugrundelegung der jeweiligen Wirtschaftsform. Hier ist nicht die durch die Industrialisierung schrittweise zurückgedrängte bedarfsdeckende Subsistenzwirtschaft, sondern die Erwerbswirtschaft als Basis der Untersuchung zu sehen.25

Die offizielle Armutsdefinition der Europäischen Kommission besagt, dass Einzelpersonen, Familien und Personengruppen als arm gelten, wenn sie „über so geringe [materielle, kulturelle und soziale] Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, indem sie leben, als Minimum hinnehmbar ist“26. Hiermit werden also nur bedingt Aussagen über den eigentlichen Lebensstandard der Betroffenen formuliert und die Verteilungsgerechtigkeit in den Fokus gerückt. Die relative Armut bezieht sich also immer auf die Gesellschaft, in der das Individuum lebt. Sie gibt Auskunft darüber, inwieweit eine Volkswirtschaft die unteren Einkommensgruppen am Einkommensdurchschnitt der Gesamtgesellschaft teilhaben lässt. Die Betrachtung des Gini-Koeffizienten27 der Äquivalenzeinkommen ermöglicht zusätzlich Aussagen über den Grad der Gleichverteilung zu treffen.28

Diese Betrachtungsweise lässt Raum für Kritik, die unter anderem von Niemitz geübt wird. Sie umfasst den Aspekt der Vergleichbarkeit von Armut über mehrere Generationen und findet unter 2.4 detailliert Erwähnung.29 Weiterhin lässt sich die relative Armut in zwei Kategorien unterteilen, den Ressourcenansatz und den Lebenslagenansatz, welche im Folgenden erklärt werden.

2.1.2.1 Ressourcenansatz

Die Europäische Union legt den Schwellenwert bezüglich der Einkommensarmut ab einem „income below 60% of the national equivalised median income“30, also ab einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des nationalen Median-Äquivalenzeinkommen, fest. Dieser Wert wird auch als Armutsrisikoquote bezeichnet. Mit dem Äquivalenzeinkommen wird ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied in Privathaushalten formuliert, auf dem die Armutsmessung beruht. Damit ist der Ansatz einkommensbasiert. Die Datenquellen ergeben sich nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes aus Haushaltsbefragungen: Auf Länderebene wird der Mikrozensus und auf europäischer Ebene sowie auf Bundesebene wird die European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) verwendet.31

Zusätzlich werden auch weitere Individualdatensätze wie Sozio- ö konomisches Panel (SOEP), European Community Household Panel (ECHP), Einkommens und Verbrauchsstichprobe (EVS), Allgemeine Bev ö lkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) und Alterssicherung in Deutschland (ASID) zur Erfassung der Armutslage bemüht, um die untersuchten Teilaspekte zu einem sinnvollen Bild zusammenzusetzen.32 Diese Teilaspekte nehmen im Lebenslagenansatz verglichen mit der eindimensionalen Betrachtungsweise des Ressourcenansatzes eine bedeutendere Position ein.

2.1.2.2 Lebenslagenansatz

Der Lebenslagenansatz ist eng mit einem modernen und komplexen Armutsverständnis verbunden und bezieht damit die Folgen von wirtschaftlichen Notsituationen mit ein.33 Bieback und Milz stellen fest, dass Lebenslagenansätze vor allem die „kulturellen Prägungen, Einflüsse und Verankerungen des sozialen Handelns“34 im Fokus haben. Umfassend definiert haben Lebenslagenanalysen die Aufgabe, „die personen- und/oder umfeldbezogene[n] Sozialmerkmale von Kultur/Milieu, Generation/Kohorte und Gruppierungen/Aggregate [zu] identifizieren und deren soziale Sphären, Vernetzungen, Handlungsalternativen und dadurch determinierte Ressourcen [zu] berücksichtigen“35. Damit rücken sozio-ökonomische Besonderheiten und die Multidimensionalität des Armutsverständnisses in den Mittelpunkt der Betrachtung.36 Bezüglich der Auffassung von Armut ist eine Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu beobachten, die an späterer Stelle in Verbindung mit dem Unterpunkt 2.3.3 Armut im Wandel der Zeit in der BRD genannt werden.

Resümierend zeigt sich, dass sich aus den unterschiedlichen Datenquellen und Auswertungsmethoden Ergebnisse generieren lassen, denen nicht von allen Seiten gleichermaßen Aussagekraft zugeschrieben wird. Es gibt folglich nicht den einen richtigen Armutsindikator und damit besondere Herausforderungen für die Armutsforschung, die im Weiteren dargestellt werden.37

2.2 Herausforderungen für die Armutsforschung

Das Ziel der Armutsforschung ist, „durch einen pragmatischen Pluralismus der Messkonzepte ein möglichst differenziertes und umfassendes Bild von Armut zu zeichnen“38. Die unterschiedlichen Konzepte der „Einkommens-, Lebenslagen- und Deprivationsarmut39 messen jeweils unterschiedliche Aspekte und Facetten von Armut“40.

Eine besondere Herausforderung für die Armutsforschung stellt die Prekarität dar. Der Begriff wird im Lexikon zur Soziologie wie folgt definiert:

Prekarität, bezeichnet die Lage von Arbeitnehmern, die aufgrund unsicherer Beschäftigungsverhältnisse dem Risiko von Armut und Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind. Das Risiko von Prekarität erleichtert die Zugeständnisse an Arbeitgeberinteressen nach flexiblen Arbeitszeiten, Lohnkürzungen, Aufweichungen des Kündigungsschutzes sowie Entlastungen von Sozialabgaben, die die Prekarität weiter verschärfen können.41

Die Schwierigkeit bei der Betrachtung der „Zwischenstufen zwischen Armut und Wohlstand“42 ist, dass sie sich unter Berücksichtigung psychischer Faktoren teilweise auf schwer messbare Bereiche stützen und einer großen Dynamik unterworfen sind.

Die folgende Abbildung verdeutlicht die Situierung des „prekären Wohlstands“. Jedoch muss erneut auf den durch die Europäische Union aktualisierten, Schwellenwert der Armutsgrenze von 60 Prozent des Medians aller Haushaltsäquivalenzeinkommen hingewiesen werden (Vgl. 2.1.2.1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Definition von Armut, prek ä ren und gesicherten Einkommenslagen nach Wolfgang Lauterbach (2003).

Der Begriff "prekärer Wohlstand“ wurde durch den „Frankfurter Armutsforscher Werner Hübinger um die Mitte der 1990er-Jahre […] in die Fachdebatte eingeführt“43 und wird durch seine vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten oft synonym mit atypischen Beschäftigungsverhältnissen gleichgesetzt, welche das Statistische Bundesamt mit folgenden Indikatoren charakterisiert: Befristung, Teilzeitbeschäftigung mit 20 oder weniger Stunden, Zeitarbeitsverhältnis und geringfügige Beschäftigung.44 Zu beachten ist jedoch, dass diese atypischen Beschäftigungsverhältnisse nicht alle prekär sind und gleichzeitig „Prekarität […] kein exklusives Merkmal atypischer Beschäftigung“45 darstellt. Sie sind zwar keine völlig neue Erscheinung, allerdings erhalten sie durch die Hartz- Gesetze stärkere Beachtung in den wissenschaftlichen und politischen Diskussionen.46 Der Definition zufolge markiert der Begriff Prekarität im Zusammenspiel mit atypischen Beschäftigungsverhältnissen einen wichtigen Untersuchungsbereich dieser Arbeit, denn er stellt eine Beziehung zwischen dem Armutsrisiko und den sozialpolitischen Veränderungen durch die Hartz- Reformen her. Im Folgenden sollen unterschiedliche Konzepte von Armutsentwicklung des vergangenen halben Jahrhunderts untersucht werden, um im weiteren Verlauf der Arbeit tatsächliche Entwicklungen in Wirtschaft und Arbeitsmarkt daran zu messen. Eine zentrale Rolle werden die Entwicklungen im Niedriglohnsektor47 spielen.48

2.3 Geschichte des Armutsbegriffs

Nachdem die Schwierigkeiten im Zusammenwirken von Definition und Messmethoden am Beispiel des Begriffs der Prekarität dargestellt wurden, sollen im Folgenden die Entwicklungsformen des Armutsbegriffs seit den 1960er Jahren aufgezeigt und damit ein historischer Überblick verschafft werden. Die Tatsache, dass Uneinigkeit über eine allgemeingültige Armutsdefinition besteht, hat zur Folge, dass man nicht die eine Armutsentwicklung 49 skizzieren kann. Aus diesem Grund sollen einige zentrale Konzepte des Armutsbegriffs erläutert werden, um diesbezüglich wesentliche Veränderungen zu untersuchen.

Auch Definitionen, die im Ausland formuliert wurden, jedoch Anwendung auf die Entwicklungen der BRD ermöglichen, erfahren zur Vervollständigung ebenfalls Berücksichtigung.

2.3.1 Exklusion

In der Mitte der 1960er Jahre wurde der Begriff exclusion durch Pierre Massé in Frankreich im Zusammenhang mit einer Bevölkerungsgruppe hervorgebracht, die in Distanz zum wirtschaftlichen Wachstum stand und der entsprechende Partizipationsmöglichkeiten fehlten. Steigende Prosperität für Teile der Bevölkerung ließen den Spalt zu armen Bevölkerungsschichten anwachsen. Folglich war nicht die Tatsache der Arbeitsmarktverschlechterung oder Zerfall sozialer Netze gemeint.50 Auf das Phänomen der relativen Armut bezogen, lässt sich die Exklusion auf unterschiedliche Lebensbereiche übertragen, beispielsweise die sozialen und politischen Teilhabechancen. Sie stellt somit eine Folge von relativer Armut dar. Mit dem Exklusionsbegriff rückt also die „Frage in den Mittelpunkt, ob alle Bürger eines Staates die Chance haben, sich in zentralen Lebensbereichen zu entfalten und von wichtigen gesellschaftlichen Ressourcen zu profitieren“51. Ein erweiterter Ansatz dieses Verständnisses wird im späteren Teil der Arbeit unter dem Begriff der kumulierten Deprivation aufgegriffen.

2.3.2 Armutskonzepte im Wandel der Zeit in der BRD

Dietz beschreibt die Entwicklungsstufen des Armutsbegriffs seit dem 11. Jahrhundert. Seine Darstellung wurde von Fischer ergänzt und weiterentwickelt. Aus diesem Grund wird sich bei der folgenden Untersuchung der Armutsdefinitionen und -verständnisse auf das Konzept der Entwicklungsstufen nach Fischer bezogen. Die folgende grafische Darstellung beschreibt die Vorstellung des Armutsbegriffs im historischen Wandel. Im Weiteren wird sie genauer untersucht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Armutsdefinitionen und -verst ä ndnisse im historischen Ü berblick nach Fischer (2009).

2.3.2.1 Die neue Armut

Ab den 1970er Jahren sieht Fischer die Entwicklungsstufe der neuen Armut angebrochen.52 Sie gewann durch das Konzept der relativen Deprivation von Townsend (1979) an Aufmerksamkeit. Mit Hilfe eines Deprivationsindex versuchte er die ausgrenzenden Folgen von Armut auf mehreren Ebenen gesellschaftlicher Einbindung greifbar zu machen. Die folgende Darstellung beinhaltet einen beispielhaften Auszug aus dem Index:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Multiple Deprivation Index nach Townsend (1979).

Das Konzept der neuen Armut nimmt Bezug auf „strukturelle Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie den Anstieg der SozialhilfeempfängerInnen“53. Nach Dietz bedeutet die neue Erscheinung folgendes:

„Armut im Wohlstand zu diskutieren, heißt […] auch, weitere Sozialleistungen und Transfers als Umverteilungsinstrumente zu durchleuchten. Zu beobachten ist dabei auch, daß [sic!] es nicht mehr nur bestimmte Risikogruppen trifft. Die Spaltung der Gesellschaft verläuft nicht mehr nur zwischen hoch und minderqualifiziert, oder zwischen Ost und West, sondern mitten durch alle Bevölkerungs- und Berufsgruppen. […] [Es] ist vielmehr Ausdruck eines auf Normalerwerbsbiographien fixierten Sozialsystems, welches Produktivität, Leistungsfähigkeit und Effizienz zum Leitbild hat. Es ist Ausdruck einer Arbeitsgesellschaft, die so nicht mehr existiert und immer weniger existieren wird“54.

Eine besondere Eigenschaft der neuen Armut stellt für Dietz damit ebenfalls die Massenarbeitslosigkeit dar. In enger Verbindung damit steht die Angewiesenheit auf Sozialleistungen, welche auf diese Entwicklungen angemessen ausgerichtet sein mussten. Welche Möglichkeiten dazu bestanden und welche durch das Reformpaket Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt angestrebt wurden, stellt einen zentralen Untersuchungsgegenstand im dritten Kapitel dar. Weiter hebt er die Beobachtung der Gesellschaftsspaltung in allen Bevölkerungs- und Berufsgruppen hervor, die damit auch Bevölkerungsteile erfasst, die bis zu dieser Entwicklung nicht mit Armut in Kontakt getreten waren. Diese ist nach Dietz kein „Zwischenspiel, welches sich kurzfristig störend in das Leben einschleicht und schnell wieder verschwindet“55. Das Konzept der neuen Armut ist der Vorgänger der drei nachfolgenden Verständnisse, aus diesem Grund werden dort einzelne Aspekte erneut aufgegriffen. Eine andere Sicht bezüglich der Zeitlichkeit von Armut wird im Folgenden dargelegt.

2.3.2.2 Armut im Sinne der Zwei-Drittel-Gesellschaft

Die Auffassung von Glotz und seinem Konzept der Zwei-Drittel-Gesellschaft aus dem Jahr 1984 unterscheidet sich in einem wesentlichen Kriterium von dem vorangegangenen Konzept der Neuen Armut und dem folgenden Konzept der Risikogesellschaft. Das Konzept der Zwei-Drittel-Gesellschaft geht von einer statischen Abgrenzung zwischen Armut und Nicht-Armut aus, während die Auffassungen der Theorien von der Neuen Armut und der Risikogesellschaft annehmen, dass Armut jeden treffen kann.56

Parallelen zum Konzept der neuen Armut sind allerdings in dem Bezug auf die Problembereiche der sozialen Ausgrenzung und Polarisierung57 zu erkennen. Diese wurden mit der Armut im Wohlstand (Vgl. 2.3.2.1) bereits thematisiert. Das Konzept der Zwei-Drittel-Gesellschaft erklärt, dass zwei Drittel der Gesamtbevölkerung aus Ober- und Mittelschicht bestehen, während das übrige Drittel „langfristig von materieller, sozialer, politischer und kultureller Partizipation ausgeschlossen [ist und seine] […] Lebens- und Teilhabechancen massiv eingeschränkt“58 sind. Der wesentliche Unterschied zur Theorie der Risikogesellschaft besteht darin, dass die Zwei-Drittel-Gesellschaft von einer Steigerung bereits existierender sozialer Ungleichheiten und einem erneuten Armutsanstieg ausgeht, die auf einer gewöhnlichen Idee der Gesellschaftsteilung in oben und unten basieren.59 Nach Hauser und Neumann korrespondiert, bezogen auf die Thesen der Zwei-Drittel- Gesellschaft, „Armut und Unterprivilegierung eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung […] mit Reichtum und Wohlstand eines anderen Teils der Gesellschaft“60.

2.3.2.3 Armut im Sinne der Risikogesellschaft

Ein weiteres Verständnis von Armut, welches ebenfalls im Konzept von Fischer untersucht wird, stellt die Risikogesellschaft aus dem Jahr 1986 dar. Sie konkurriert zu dem Modell der Zwei-Drittel-Gesellschaft, wurde in den 1980er Jahren von Beck geprägt und stellte durch die Einbeziehung der sozialen Gruppen mit hohem Bildungsabschluss ein Novum dar, die nach damaligem Verständnis nur in Ausnahmefällen von Armut betroffen waren. Der Schwerpunkt dieses Konzepts lag bei der Vorstellung der „neue[n] Armut als individualisierte und verzeitlichte Form von Armut […] in der postindustriellen Gesellschaft“61, welche aus dem Konzept der neuen Armut weiterentwickelt wurde. Die alte Armut ist, nach Beck, „eingrenzbar, zurechenbar und kompensierbar beziehungsweise versicherbar“62, die Neue Armut hingegen ist im Verständnis der Risikogesellschaft durch gegenteilige Merkmale charakterisiert. Als Beispiele führt Beck das mögliche technische Versagen eines Atomkraftwerks oder die Folgen eines Treibhauseffekts an, welche alle Menschen statusübergreifend und damit unabhängig vom allgemeinen Armutsverständnis, betreffen würde. Die starke Fokussierung des Konzepts auf Arbeitslosigkeit als wesentlicher Impuls für Armut und die Vernachlässigung weiterer Faktoren erfährt Kritik. Ein Bezug zwischen der Theorie und dem Inhalt dieser Arbeit verdeutlicht das Beispiel der atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Vgl. 4.3.1). Dietz bezeichnet die Sicht von Beck als eine „Entkollektivierung sozialer Risiken“63. In diesem Konzept wird also eine strukturell neue Form von Ungleichheiten und Risiken angenommen, was sie von der nachfolgenden Position grundlegend unterscheidet.64

2.3.2.4 Armut als kumulierte Deprivation

Die kumulierte oder auch multiple Deprivation stellt eine Weiterentwicklung der relativen Deprivation nach Townsend (1979) dar. Tschümperlin setzt im Jahr 1988 in seinem Schaubild, dem Pentagon der Armut, relevante Lebensbereiche und wichtige gesellschaftlichen Ressourcen zueinander in Bezug.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Pentagon der Armut nach Tsch ü mperlin (1988).

1 Vgl. http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-02/verfassungsgericht-hartz-urteil [05.09.2012].

2 Vgl. http://www.stern.de/politik/deutschland/gerichtsurteil-hartz-iv-saetze-sind- verfassungsgemaess-1856702.html [05.09.2012].

3 Vgl. Serge Paugam: Die elementaren Formen der Armut. Hamburg 2008.

4 B. Seebohm Rowntree: Poverty. A Study of Town Life, London 1908.

5 Peter Townsend: Poverty in the United Kingdom. A survey of household resources and standards of living, Harmondsworth 1979.

6 Vgl. Judith Fischer: Verarmungsrisiken im Wandel. Analyse des Einflusses gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedingungen auf die Beantragung von Sozialhilfe, Hamburg 2009.

7 Vgl. Klaus-Uwe Gerhardt: Hartz plus. Lohnsubventionen und Mindesteinkommen im Niedriglohnsektor, in: Michael Opielka (Hg.): Perspektiven der Sozialpolitik. Wiesbaden 2006.

8 Vgl. Alfred Schleimer: Die Entwicklung von Hartz I bis Hartz IV - Ziele und Maßnahmen, Ergebnisse und Bewertung. Freiburg im Breisgau 2004.

9 Vgl. Jürgen Zehmer: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Die Reform des Arbeitsmarktes durch Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Norderstedt 2005.

10 Vgl. Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2009.

11 Vgl. http://de.statista.com/ [05.09.2012].

12 Vgl. https://www.destatis.de/DE/Startseite.html [05.09.2012].

13 Franz Nuscheler: Entwicklungspolitik. Eine grundlegende Einführung in die zentralen entwicklungspolitischen Themenfelder Globalisierung, Staatsversagen, Hunger, Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt, 6. Aufl., Bonn 2005, S. 143f.

14 Erkl ä rung: Die Definitionen zu der absoluten und der relativen Armut werden im folgenden Kapitel beschrieben.

15 Vgl. Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 4. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 202.; Nuscheler, Entwicklungspolitik, S.144.

16 Vgl. Fischer, Verarmungsrisiken im Wandel, S. 25.

17 Vgl. Nuscheler, Entwicklungspolitik, S.144.

18 Rowntree, Poverty, S. 87.

19 Vgl. Butterwegge, Armut in einem reichen Land, S.18.

20 Vgl. http://povertydata.worldbank.org/poverty/home [12.06.2012].

21 Organisation for Economic Co-operation and Development: The DAC Guidelines. Poverty Reduction. Paris 2001. S. 42.

22 Vgl. http://data.worldbank.org/about/country-classifications [12.06.2012].

23 Vgl. Werner Hübinger: Prekärer Wohlstand. Neue Befunde zu Armut und sozialer Ungleichheit. Freiburg im Breisgau 1996. S.57.

24 Ebd. S.57.

25 Vgl. Maria Funder: Soziologie der Wirtschaft. Eine Einführung, München 2011. S.11.

26 http://www.iwkoeln.de/de/infodienste/iw-dossiers/beitrag/15186 [15.06.2012].

27 Erkl ä rung: Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Ma ß , das vom italienischen Statistiker Corrado Gini zur Darstellung von Ungleichverteilungen entwickelt wurde.

28 Vgl. http://www.amtliche-sozialberichterstattung.de/A3gini-koeffizient.html [13.06.2012].

29 Vgl. Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn: Armut und soziale Ausgrenzung. Ein multidisziplinäres Forschungsfeld, in: Dies. (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 2008, S. 18.

30 European Commission: Portfolio of overarching Indicators and streamlined social Inclusion, Pensions, and Health Portfolio. Brüssel 2006. S. 18.

31 Vgl. http://www.amtliche- sozialberichterstattung.de/Aeinkommensarmutundverteilung.html [13.06.2012].

32 Vgl. Wolfram Kempe, Hilmar Schneider: Weiterentwicklung des Niedrigeinkommenspanels. Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bonn 2002. S. 5.; Erkl ä rung: Die Datens ä tze an dieser Stelle aus Gr ü nden der Vollst ä ndigkeit erw ä hnt.

33 Vgl. Huster et al.: Armut und soziale Ausgrenzung, S. 13 f.

34 Karl-Jürgen Bieback, Helga Milz: Zur Einführung: Armut in Zeiten des modernen Strukturwandels, in: Dies. Hg.): Neue Armut. Frankfurt am Main 1995. S. 7-27, hier S. 9.

35 Ebd. S.9.

36 Vgl. Anita B. Pfaff: Was ist das Neue an der neuen Armut?, in: Karl-Jürgen Bieback, Helga Milz (Hg.): Neue Armut. Frankfurt am Main 1995. S. 28-57, hier S. 39 f.

37 Vgl. Olaf Groh-Samberg,: Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven, Wiesbaden 2009, S. 106.

38 Ebd. S.107.

39 Erkl ä rung: Der Terminus der „ kumulierten Deprivation “ wurde durch Peter Tsch ü mperlin begr ü ndet und wird unter dem Punkt „ Verarmungsrisiken im Wandel der Zeit “ n ä her erl ä utert.

40 Olaf Groh-Samberg, Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur, S.107.

41 Daniela Klimke: Prekarität, in: Werner Fuchs-Heinritz, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Hanns Wienold (Hg.): Lexikon zur Soziologie. 4. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 506.

42 Olaf Groh-Samberg, Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur, S.107.

43 Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land, S.25.

44 Vgl. https://www.destatis.de/DE/Meta/AbisZ/AtypischeBeschaeftigung.html [16.06.2012]. 16

45 Wirtschafts und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung: Wie prekär sind atypische Beschäftigungsverhältnisse? Eine empirische Analyse, Düsseldorf 2007. S.3.

46 Vgl. Berndt Keller, Hartmut Seifert: Atypische Beschäftigung und soziale Risiken. Entwicklung, Strukturen, Regulierung, WISO Diskurs 10/2011. S.6.

47 Erkl ä rung: Nach OECD-Standard handelt es sich um eine Niedriglohnbesch ä ftigung, wenn der Verdienst einer T ä tigkeit weniger als zwei Drittel des Medianlohns eines Landes betr ä gt (Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin f ü r Sozialforschung: Datenreport 2011. Ein Sozialbericht f ü r die Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2011. S.123).

48 Vgl. Peter Bescherer, Silke Röbenack, Karen Schierhorn: Eigensinnige „Kunden“ - Wie Hartz IV wirkt … und wie nicht, in: Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2008. S. 145.

49 Erkl ä rung: Unter 2.1.2.1 dargestellt: Abh ä ngigkeit von Datenquellen und Auswertungsmethoden.

50 Vgl. Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 174.

51 Nadja Klinger, Jens König: Wo fängt Armut an, wo hört sie auf?, in: Dies. (Hg.): Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland, Hamburg 2008. S.73.

52 Vgl. Fischer, Verarmungsrisiken im Wandel, S.31.

53 Fischer, Verarmungsrisiken im Wandel, S.29.

54 Berthold Dietz: Soziologie der Armut. Eine Einführung. Frankfurt am Main 1997. S.19.

55 Ebd. S.18.

56 Vgl. Fischer, Verarmungsrisiken im Wandel, S.31.

57 Erkl ä rung: Mit Polarisierung ist die Aufspaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Lager gemeint. Der Begriff der sozialen Ausgrenzung steht f ü r mangelnde Partizipationsm ö glichkeiten des Individuums, siehe auch unter Exklusion (Vgl. 2.3.1).

58 Fischer, Verarmungsrisiken im Wandel, S.31.

59 Vgl. Lutz Leisering: Zweidrittelgesellschaft oder Risikogesellschaft?, in: Karl-Jürgen Bieback, Helga Milz (Hg.): Neue Armut. Frankfurt am Main 1995. S.58 f.

60 Richard Hauser, Udo Neumann: Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Die sozialwissenschaftliche Thematisierung nach dem zweiten Weltkrieg, in: Stephan Leibfried, Wolfgang Voges (Hg.): Armut im modernen Wohlfahrtstaat (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Opladen 1992. S.242.

61 Leisering, Zweidrittelgesellschaft oder Risikogesellschaft?, S.75.

62 Ebd. S.76.

63 Dietz, Soziologie der Armut, S.77.

64 Vgl. Leisering, Zweidrittelgesellschaft oder Risikogesellschaft, S.59.

Excerpt out of 94 pages

Details

Title
Die Hartz-Reformen und die Armutsentwicklung in Deutschland
Subtitle
Ursachen und armutsbeeinflussende Folgen Deutschlands umfangreichster Sozialreform
College
University of Siegen
Grade
1,3
Author
Year
2012
Pages
94
Catalog Number
V203152
ISBN (eBook)
9783656315988
ISBN (Book)
9783656316800
File size
1039 KB
Language
German
Keywords
Hartz, ALG, Arbeitslosengeld, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Innovationsmodul, Reform, Arbeitsmarkt, Beschäftigung, Erwerbstätigkeit, Sozialsystem, Niedriglohn, Bundesregierung, atypisch, geringfügig, befristet, Stufenplan, Kommission
Quote paper
Simon Jung (Author), 2012, Die Hartz-Reformen und die Armutsentwicklung in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203152

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