Invertierung vs. Komplexisierung - Die Konzepte des Brautwerbungsschemas bei Walter Haug und Peter Strohschneider


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Dem Besten die Schönste – Das Brautwerbungsschema
2.1 Brautwerbung als Erzähltradition
2.2 Das Brautwerbungsschema

3. Konzepte des Brautwerbungsschemas im Nibelungenlied
3.1 Walter Haugs Modell der invertierten Brautwerbung als Strukturmuster des Untergangs
3.2 Peter Strohschneiders Modell der Brautwerbungs als Komplexisierung

4. Diskussion: Invertierung versus Komplexisierung

5. Schlussbemerkungen

6. Bibliographie

1. Einleitung

"Es wäre irrig, den 'Ereignissen' eine größere Wirklicheit zusprechen zu wollen als den sogenannten Strukturen nur weil die Ereignisse im konkreten Ablauf des Geschehens dem empirisch einlösbaren Vorher und Nacher der naturalen Chronologie verhaftet bleiben. Die Historie würde verkürzt, wenn sie zur Erzählung verpflichtet würde auf Kosten der Analyse von Strukturen, deren Wirksamkeit auf einer anderen Zeitebene liegt, deshalb aber nicht geringer ist."[1]

Innerhalb der deutschen Literatur nimmt das Nibelungenlied eine Sonderstellung ein und gilt heute noch - trotz des Missbrauchs durch die Machthaber des dritten Reichs - als bekanntestes Werk des deutschen Mittelalters. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied reißt nicht ab. Unzählige Interpretationen liegen vor und wahrscheinlich werden noch unzählige folgen. Untersucht wurden beispielsweise sagengeschichtliche Ursprünge, historische Situation, Aufbau des Werks, seine Figurenkonstellation und nicht zuletzt die Motive des Handelns dieser Figuren. Immer wieder stößt man dabei auf die großen Themen von Liebe und Hass, Ergebenheit und Treue.

Seltener findet man hingegen die Beschäftigung mit den Strukturen des Werks, dem Regelgeflecht, das die Handlung bestimmt. Walter Haug und Peter Strohschneider haben auf unterschiedliche Art und Weise den Versuch unternommen, diese Strukturen zu durchleuchten. Dabei beschäftigen sich beide mit dem Strukturschema der Brautwerbung, welches in Punkt 2 vorgestellt werden soll. Ihre Interpretation bauen sie auf das Schema der Brautwerbung auf. Die Brautwerbung, der weitere Weg ihrer Thesenentwicklung und der Vergleich beider Konzepte stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit und werden in Punkt 3 und 4 behandelt.

2. Dem Besten die Schönste - Das Brautwerbungsschema

2.1 Brautwerbung als Erzähltradition

Brautwerbungssagen waren Teil der mündlichen und schriftlichen Erzähltraditionen vieler Völker und Zeiten. Belege dafür finden sich nicht nur in der mittelhochdeutschen, sondern auch mittellateinischen, skandinavischen, slavischen und byzantinischen Literatur. Im Mittelhochdeutschen erfreute sich die Brautwerbungsdichtung ab Mitte des 12. Jahrhunderts außerordentlicher Beliebtheit. Sie nimmt auch deshalb eine Sonderstellung in der mittelhochdeutschen Literatur ein, weil sie nicht auf schriftlichen Vorlagen basiert. Ihre Sprache wirkt "im Vergleich mit der gleichzeitig aufkommenden vorhöfischen und höfischen Dichtung meist [...] altertümlich und kunstlos."[2] Das mag daran liegen, dass sich die Autoren der Brautwerbung im Gegensatz zu denen der höfischen Literatur nicht auf schriftliche Vorbilder stützen konnten. Ihre Stoffe gehen allein auf mündliche Erzählungen zurück und sind sprachlich noch sehr stark an diesen orientiert.

"Das Interesse der Autoren von Brautwerbungsdichtungen galt daher weniger dem sprachlich bewältigten Text als genuinem literarischen Artefakts, sondern der inneren Handlungslogik [...]."[3]

Insbesondere in der Spielmannsepik wurde die Brautwerbung zum beherrschenden Strukturprinzip, wobei "König Rother" als das stärkste am Brautwerbungsschema orientierte Werk gilt. Auch in der Heldenepik wurde auf das Muster der Brautwerbung zurückgegriffen. Das dazugehörige Nibelungenlied ist in der Forschung allerdings nur selten unter Gesichtspunkten der Brautwerbung betrachtet worden. Um Besonderheiten der nibelungischen Brautwerbung deutlicher hervorheben zu können, soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die schemagemäße Brautwerbung gegeben werden.

2.2 Das Brautwerbungsschema

Wesentliche Elemente des Brautwerbungsschemas sind Raumstruktur, die Besetzung der Handlungsrollen und die Strukturierung der Handlung.

Die Raumstruktur ist dreigeteilt. Es gibt auf der einen Seite den Machtbereich des Werbers, auf der anderen Seite den Machtbereich des Brautvaters, bzw. Brauthüters. Beide Bereiche sind meist durch ein Meer voneinander getrennt.

"Dabei erscheint der Machtbereich des Werbers stets als bekannter, meist europäischer Festlandraum, der Machtbereich des Brautvaters bzw. -hüters als fremdes, jenseits des Meeres liegendes Gebiet."[4]

Die schemagemäße Brautwerbung wird also aus der Sicht des Werbers erzählt.

Beide Machtbereiche der Raumstruktur werden durch Werber und Braut vertreten. Diese sind nach dem Muster "Dem Besten die Schönste" füreinander bestimmt. Werber und Braut sind die festen Rollenträger der Brautwerbung und Teil jeder Brautwerbungsdichtung. Ihnen zugeordnet sind alle weiteren Handlungsrollen, die allerdings nicht in jeder Brautwerbung auftreten. Dem Werber können im Wesentlichen folgende Handlungsrollen zugeordnet sein: Der Nenner, der die zu werbende Braut benennt; der Kundige, der mit den Verhältnissen im Reich der Braut vertraut ist; der Werbungshelfer, der an Stelle des Werbers die Braut gewinnen muss; und der Bote, der dem Brautvater die Werbungsbotschaft überbringt.

Der Braut zugeordnete Rollen können sein: Der Brautvater, der dem Werber ebenbürtig, bzw. überlegen ist und sich dem Ansinnen des Werbers entgegensetzt; und die Brautmutter, die zwischen Werber und Brautvater vermittelt.

Auch wenn es kein festes Handlungsschema gibt[5], kann eine Art Handlungsgerüst ausgemacht werden, welches die aufeinanderfolgenden Teilhandlungen Planung und Vorbereitung der Werbung, Werbungsfahrt, Heimführung der Braut und Hochzeit beinhaltet. Zudem gibt es eine Anzahl schematypischer Handlungsfixpunkte.

"Unter einem Handlungsfixpunkt ist ein überindividuelles Handlungselement zu verstehen, das an bestimmte Orte der Raumstruktur sowie an bestimmte Handlungsrollen gebunden ist und im Handlungsablauf seinen festen Platz hat. Der Handlungsfixpunkt [ist] in seiner besonderen Ausprägung (Ort, beteiligte Handlungsrollen) und Funktion an das Brautwerbungsschema gebunden."[6]

Zu den Handlungsfixpunkten zählen Ratsszene, Botenbestimmung und -fahrt, Hilfeverpflichtung der Dienstleute, Landung am heimlichen Ort, Gang des Werbers vom heimlichen Ort zur Residenz des Brautvaters, Kemenatenszene, Entführung der Braut, Kampf zwischen Werber und Brautvater, Heimführung der Braut und schließlich die Hochzeit. Handlungsfixpunkte wirken sich immer auf den weiteren Fortgang der Handlung aus und evozieren darauffolgende Geschehnisse. Wird ein Handlungsfixpunkt übergangen oder nicht nach dem bekannten Schema behandelt, liegt ein Schemabruch vor. Der Autor kann sich ganz bewusst für dieses Abweichen entscheiden. So kann er z.B. ungewöhnliche Probleme thematisieren oder der Folgehandlung neue Wendungen geben. Das kann auch heißen, dass in einigen Brautwerbungsdichtungen das Schema verwendet wird, um es schließlich zu brechen.

"Der Autor benutzt das Schema als <Spielform>. Variation wird sinntragend eingesetzt, indem sie nicht isoliert geschieht, sondern sowohl syntagmatisch innertextlich, funktional in den Erzählverlauf eingebunden, wie auch paradigmatisch im Spiel mit Traditionen und Normen als Verhaltensentwurf eingesetzt wird."[7]

In schemagemäß erzählten Brautwerbungsdichtungen, wie beispielsweise "König Rother", bewährt und profiliert sich der Werber, gewinnt erfolgreich die Braut und zeigt somit herrscherliche Vorbildlichkeit. Darin liegt die Funktion der Brautwerbungsdichtung.

"Das Schema der Brautwerbung [...] eröffnet grundsätzlich einen politisch bedeutsamen, herrscherlichen Handlungsraum. Einem idealen Herrscher fehlt zur Vollkommenheit die ebenbürtige Frau. Mit dieser Ausgangssituation ist als Thema vorgegeben: Ideale Herrschaft im Hinblick auf das Problem ihrer zeitlichen Stabilisierung durch Thronfolge. Herrschaft ist vollkommen, wenn sie dauerhaft ist. Brautwerbung erscheint als Mittel zur Lösung dieses Problems."[8]

Mithilfe der Brautwerbung sollen Herrschaftsverhältnisse also legitimiert und verdichtet werden.

[...]


[1] Reinhart Koselleck: Darstellung, Ereignis und Struktur. In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1984, S. 152.

[2] Christian Schmid-Cadalbert: Der Ornit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985. S. 94.

[3] Ebd.: S. 97.

[4] Ebd.: S. 83.

[5] "Die Handlungsstruktur des mittelhochdeutschen Brautwerbungsschemas lässt sich nicht [...] eindeutig bestimmen. Die einzelnen Dichtungen, als Realisationen des Schemas, stellen unterschiedliche Handlungsentwürfe innerhalb derselben Raumstruktur und mit demselben Grundbestand an Handlungsrollen dar." Ebd.: S. 87.

[6] Ebd.: S.87

[7] Ebd.: S. 98

[8] Christa Ortmann/Hedda Ragotzky: Brautwerbungsschema, Reichsherrschaft und staufische Politik. Zur politischen Bezeichnungsfähigkeit literarischer Strukturmuster am Beispiel des 'König Rother'. ZfdPh 112. 1993, S. 324.

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Details

Titel
Invertierung vs. Komplexisierung - Die Konzepte des Brautwerbungsschemas bei Walter Haug und Peter Strohschneider
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Mittelalterlicher Roman zwischen Schemapoetik und Gesellschaftsfunktion
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
25
Katalognummer
V20317
ISBN (eBook)
9783638242288
ISBN (Buch)
9783638700788
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Invertierung, Komplexisierung, Konzepte, Brautwerbungsschemas, Walter, Haug, Peter, Strohschneider, Mittelalterlicher, Roman, Schemapoetik, Gesellschaftsfunktion
Arbeit zitieren
Nadine Wickert (Autor:in), 2002, Invertierung vs. Komplexisierung - Die Konzepte des Brautwerbungsschemas bei Walter Haug und Peter Strohschneider, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20317

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