In dieser Facharbeit wird der Frage auf den Grund gegangen, durch welche Faktoren der Erstspracherwerb des Kleinkindes positiv oder negativ beeinflusst wird. Dazu wird zunächst kurz dargestellt, wie der Erstspracherwerb normalerweise abläuft, um im Anschluss daran aufzuzeigen, wodurch die Sprachentwicklung begünstigt oder beeinträchtigt werden kann. Dabei wird zuerst auf mögliche körperliche Ursachen eingegangen und anschließend auf die Umweltbedingungen, denen das Kind ausgesetzt ist, wobei besonders untersucht wird, inwiefern das Verhalten der Bezugspersonen – also in der Regel der Eltern – die Sprachentwicklung beeinflussen kann.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Überblick über den normalen Verlauf des Spracherwerbs
III. Körperliche Ursachen für eine gestörte Sprachentwicklung
1. Die Rolle von Grob-, Fein- und Mundmotorik
2. Auswirkungen einer Schädigung des Gehörs
IV. Die Rolle der Bezugsperson
1. Das Vermitteln von Sicherheit
2. Das zeitintensive Vermitteln der Sinnhaftigkeit der Sprache
3. Ausnutzen des natürlichen Forschungsdrangs
4. Der richtige sprachliche Input
5. Das korrekte „corrective Feedback“
6. Fördern der Sprachentwicklung durch Vorlesen, Musik und Spiele
V. Weitere Faktoren
1. Die Gefahren durch Fernsehen und Computer
2. Der Einfluss von Geschwistern
VI. Schluss
VII.Anhang
1. Glossar
2. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Anfang Februar 2012 hieß es auf der Titelseite der NGZ „1,1 Millionen Kinder können nicht richtig sprechen“1 und somit leide „[f]ast jedes dritte Vorschulkind in Deutschland […] unter einer Sprachstörung“2. Auch wenn solche Schlagzeilen umstritten sind,3 folgt doch aus ihnen unweigerlich die Frage, worin diese sprachlichen Probleme begründet sind. Der zugehörige Leitartikel nimmt die Eltern in die Verantwortung und behauptet, es sei deren Aufgabe, in den ersten Lebensjahren des Kindes ihm das Sprechen richtig beizubrin- gen.4 In dieser Facharbeit möchte ich der Frage auf den Grund gehen, durch welche Fakto- ren der Erstsprach erwerb5 des Kleinkindes positiv oder negativ beeinflusst wird. Dazu werde ich zunächst kurz darstellen, wie der Erstspracherwerb normalerweise abläuft, um im Anschluss daran aufzuzeigen, wodurch die Sprachentwicklung begünstigt oder be- einträchtigt werden kann. Dabei werde ich zuerst auf mögliche körperliche Ursachen ein- gehen und mich anschließend auf die Umweltbedingungen, denen das Kind ausgesetzt ist, konzentrieren, wobei ich besonders untersuchen werde, inwiefern das Verhalten der Be- zugspersonen - also in der Regel der Eltern - die Sprachentwicklung beeinflussen kann. Beim Verschaffen eines ersten Überblicks über den kindlichen Spracherwerb waren die gut verständlichen Ausführungen von Jürgen Dittmann in „Der Spracherwerb des Kindes“ eine große Hilfe. Ebenfalls hilfreich waren die Andi-Hefte von Werner Radigk, deren „Was wäre wenn“-Teil nach jedem Kapitel zum Nachdenken über die Folgen von „weniger güns- tigen Umweltbedingungen“ anregte.
II. Überblick über den normalen Verlauf des Spracherwerbs
Das Kind kommuniziert zunächst durch Schreien, welches sich später differenziert, sodass es z. B. Hunger oder Angst signalisieren kann.1 Im Alter von etwa sechs Wochen fängt es an, verschiedene Laute, u. a. Gurrlaute und Vokale, zu erzeugen.2 Mit 0;43 tritt es in das Lallstadium ein, in dem verschiedene Laute zu Silben-ähnlichen Lautgruppen verbunden werden.4 Es erlernt dabei bereits grundsätzliche kommunikative Fähigkeiten, z. B. das Turn-Taking (abwechselndes Sprechen).5 Ab 0;7 werden Lautgruppen auch wiederholt ge- äußert (repetitives Babbeln: „gaga“).6 Während des Spielens mit der Stimme trainiert das Kind die Bildung einzelner Laute, die Übergänge zwischen diesen und das Variieren von Stimmhöhe und Lautstärke. In dieser Phase äußert es auch wilde Laute, z. B. Schnalzlaute, die nicht Bestandteil des Lautrepertoires der Muttersprache sind und ab 0;9 weniger oft ge- bildet werden.7 Loben und Nachahmen der Laute durch die Bezugsperson motivieren das Kind, bestimmte Laute aufzunehmen und weiterzuüben.8 In der Alphabetische äußert das Kind zunächst Laute, die „hinten“ mit Hilfe des Kehlkopfes gebildet werden, und erst spä- ter die „vorne“, im Mund-Rachen-Raum gebildeten, da für letztere eine gute Mundmotorik notwendig ist, die sich erst im ersten Lebensjahr entwickelt.9 Ab etwa 0;10 werden ver- schiedene Silben kombiniert (buntes Babbeln: „dadu“) und die Äußerungen haben die Into- nation der Muttersprache.10 Mit etwa 1;1 erhalten Laute für das Kind eine Bedeutung und es tauchen die ersten Wörter auf. Die bedeutungsunterscheidenden Phoneme werden von „vorne“ nach „hinten“ erlernt.11 Deshalb sprechen Kinder zunächst vom „Tinderdarten“, bevor sie „Kindergarten“ richtig aussprechen können. Mit 4;5 sind in der Regel alle Laute erworben.12 Wenn ein Kind ein bestimmtes Wort noch nicht aussprechen kann, was anfangs ganz normal ist, bedient es sich sogenannter Protowörter , z. B. „wauwau“ für „Hund“.13 Es kann nun auch mit Hilfe des triangulär en Blicks die Bezugsperson auf Objekte in seiner Umgebung aufmerksam machen, um so z. B. neue Informationen über diese zu be- kommen.14
Beim Erlernen des Wortschatzes ist es für das Kind wichtig, möglichst viele Informationen, am besten mit verschieden Sinnen, über einen Begriff sammeln zu können; denn je mehr Informationen es hat, desto besser kann es Wörter im men talen Lexikon abrufen.15 Beim Bedeutungserwerb kommt es zunächst zu Überdiskriminierungen und Übergenerali- sierungen. Ersteres bedeutet zum Beispiel, dass das Wort „Ball“ nur für den eigenen, roten Ball verwendet wird, jedoch nicht für andere Bälle. Übergeneralisierung heißt beispiels- weise, dass das Wort „Apfel“ zunächst für alles, was rund und essbar ist, verwendet wird, und erst später mit Hilfe weiterer Informationen, z. B. über Größe und Geschmack, von an- deren Begriffen abgegrenzt wird. Mit 0;9 hat das Kind verstanden, dass Objekte auch dann noch existieren, wenn diese aus seinem Blickfeld verschwinden (Objektp er man enz ).16 Sobald das Kind in Alter von 1;6 etwa 50 Wörter aktiv benutzt - passiv versteht es 50 Wörter mit ca. 1;117 -, kommt es zu einer „Wortschatzexplosion“18, da das Kind erkannt hat, dass jedes Objekt einen Namen hat (Benenn einsicht ). Mit 2;1 benutzt es dann etwa 200 bis 300 Wörter.19
Das Kind macht anfangs nur Einwortäußerungen, die der situationsbezogen Interpretation durch die Bezugsperson bedürfen. Mit 1;6 und 2;1 kommen Zwei- bzw. Dreiwortäußerun- gen hinzu, wodurch der Interpretationsspielraum eingeschränkt wird.20 Die Mehrwortäuße- rungen enthalten oft schon (meist fehlerhaft) flektierte Wörter21 und die Verbposition ist meist korrekt. Zunächst werden die wichtigsten Verbformen gelernt (Infinitiv, 3. Person Singular, bei Hilfsverben auch 1. Person) und das Partizip Perfekt wird ohne ge- oder mit e- gebildet.22 Mit etwa 2;1 werden Pluralformen, Artikel und Pronomen vom Kind verwen- det. Die richtigen Formen von stark konjugierten Verben sind mit 3;1 erlernt; vorher sind Übergeneralisierungen wie „singte“ möglich. Die in der Alltagssprache wenig verwendeten Präteritum- und Futurformen werden später23 und die Wortstellung im Nebensatz und kom- plexe Passivkonstruktionen ab 3;1 erlernt. Ab 3;6 werden Sätze miteinander verbunden und bis 5;1 ist der Grammatikerwerb größtenteils abgeschlossen; nur noch bei unregelmäßigen Formen werden vereinzelt Fehler gemacht.24
Damit das Kind überhaupt Wörter lernt, ist es auf sprachliche Anregungen („Input“) durch seine Umwelt angewiesen. Zunächst wird dem Kind gegenüber die Ammensprache verwendet, die sich durch deutliches Sprechen, Überakzentuierung, einfache Satzstruktur und eine hohe Tonlage, welche Säuglinge besser wahrnehmen können, auszeichnet.25 Außerdem bevorzugen sie die Stimme der Mutter, da sie diese bereits aus dem Mutterleib kennen.26 Bis zu einem Alter von einem Jahr versteht das Kind nicht ganze Äußerungen, sondern versucht basierend auf der gegenwärtigen Situation, der Intonation und bestimmter Schlüsselwörter die Bedeutung zu erschließen.27
III. Körperliche Ursachen für eine gestörte Sprachentwicklung
1. Die Rolle von Grob-, Fein- und Mundmotorik
Voraussetzungen für den Spracherwerb sind das Kontrollieren von Zunge und Lippen, eine exakte Sinneswahrnehmung, wobei vor allem das Hören eine wichtige Rolle spielt, und psychische Fähigkeiten, z. B. Konzentration.1
Die Ausbildung der Grobmotorik ist wichtig, damit das Kind selbst erfahren und aus- probieren kann, was Wörter wie „schnell“ und „vorne“ bedeuten. Sobald es Krabbeln kann, erhält es durch den vergrößerten Aktionsradius viele neue Lernmöglichkeiten. So kann es beispielsweise selbstständig auf Entdeckungstour gehen und ausprobie- ren, ob die Bücher im Bücherregal hart oder weich sind und ob sie sich bewegen und durchblättern lassen. Erst wenn es die Bedeutung von Gegenständen und deren Ei- genschaften kennt, wird es die zugehörigen Begriffe verstehen und verwenden kön- nen. Ein eingeschränkter taktiler Sinn kann daher auch die Sprachentwicklung stö- ren. Leidet das Kind unter einer spastischen Lähmung, bei der störende Würge- und Beißreflexe auftauchen, wird im Extremfall der Spracherwerb verhindert.2
Die Sprachentwicklung ist auf die Zusammenarbeit beider Gehirnhälften angewiesen, welche z. B. durch Krabbeln gefördert wird. Man hat herausgefunden, dass Kinder, die an einer Sprachentwicklungsverzögerung leiden, oft wenig gekrabbelt sind.3 Das Krabbeln fördert außerdem die Sinneswahrnehmung, wodurch das Verknüpfen von Eigenschaften mit bestimmten Begriffen erleichtert wird. Ein Umtrainieren der Händigkeit kann sich negativ auf die Sprachentwicklung auswirken, weil dadurch die Zusammenarbeit der Gehirnhälften gestört wird.4
Für eine richtige Aussprache unerlässlich ist eine funktionierende Mundmotorik. Durch Saugen, Schlucken und Gegenstände in den Mund nehmen wird die Zungen- bewegung geübt. Wie wichtig die Zungenbewegung für die richtige Aussprache ist, kann man leicht mit Hilfe von Zungenbrechern herausfinden. Die Beweglichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit im Mundbereich können z. B. durch die bei einer Lippen- Kiefer-Gaumenspalte notwendigen Operationen, bei denen es zu Muskelverkürzun- gen kommen kann, eingeschränkt werden.5 Durch eine myof unktion elle Stö - rung, ein Muskelungleichgewicht im Gesichtsbereich, kann es zu einer falschen Zungenlage und falschen Schluckmustern kommen. Diese wiederum können Artikulationsprobleme, vor allem bei Zischlauten wie [z] und [ʃ], verursachen.
2. Auswirkungen einer Schädigung des Gehörs
Dass das Gehör eine entscheidende Rolle bei der Sprachentwicklung spielt, zeigt eine 1993 veröffentliche Studie, laut der 48 % der untersuchten sprachgestörten Kin- der ein beeinträchtigtes Gehör hatten.6 Wenn das Kind Schwierigkeiten bei der Verar- beitung von Höreindrücken hat, muss es sich mehr auf das Hören konzentrieren und kann sich nicht mehr aufmerksam mit der Sprache auseinandersetzen. Problematisch sind auch ständig wiederkehrende Mittelohrinfekte, da sich die Hörqualität ständig ändert und es für das Gehirn nicht möglich ist, sich einer bestimmten Hörleistung an- zupassen. Dadurch können dem Kind Informationen entgehen, wovon beispielsweise die hochfrequenten Zischlaute und die unbetonten Pronomina und Endungen betrof- fen sind. Ferner können sie auch zu Lautfehlbildungen und -verwechselungen führen, weil das Heraushören von Lautunterschieden erschwert wird, weshalb sie im ersten Lebensjahr die Sprachentwicklung mehr beeinflussen als später auftretende.7
Wie bereits erwähnt, stellen Kinder die Produktion von Lauten, die nicht in der Mut- tersprache vorkommen, nach einer Weile ein. Wenn das Kind jetzt aber durch eine starke Hörschädigung nicht in der Lage ist, der Bezugsperson zuzuhören, und somit nicht animiert wird, Laute nachzuahmen, wird es die Lautproduktion einstellen. Dazu kommt, dass es sich natürlich auch nicht selbst wahrnehmen kann und damit keine Selbstkontrollmöglichkeit hat, und hörgeschädigte Kinder im Allgemeinen weniger sprachliche Zuwendung erhalten.8
Eine nicht erkannte Hörstörung wäre also fatal. Jedoch ist die Erkennung einer zen- tralen Hörstörung, bei der die Weiterleitung der Schallinformation zum Gehirn und die Verarbeitung beeinträchtigt sind, nicht einfach möglich; ein simples Audiogramm reicht nicht aus, da nicht geprüft wird, ob die Hörreize im Gehirn richtig verarbeitet werden.9 Des Weiteren fällt es Kindern mit einer höheren Ordnungsschwelle schwe- rer, die Reihenfolge von Lauten zu hören und schnell aufeinanderfolgende Informa- tionen zu verarbeiten; sie können z. B. „Tamm“ nicht von „Kamm“ unterscheiden.10 Deshalb sollten überflüssige Hintergrundgeräusche vermieden werden.
[...]
1 Marschall 1.
2 Ebd.
3 Vgl. Hellrung, S. 128.
4 Vgl. Marschall 2.
5 Gesperrt gedrückte Wörter werden im Glossar erläutert
1 Vgl. Hellrung, S. 34.
2 Zum nachdeVgl. Dittmann, S. 21.
3 Altersangabe in der Form Jahr;Monat. Altersangaben dürfen nicht als Richtwerte angesehen werden und dienen nur der groben zeitlichen Einordnung; jedes Kind hat sein eigenes Tempo.
4 Vgl. ebd.
5 Vgl. Hellrung, S. 16.
6 Vgl. Dittmann, S. 21.
7 Vgl. a. a. O., S. 23.
8 Vgl. Hellrung, S. 34.
9 Vgl. Dittmann, S. 22.
10 Vgl. a. a. O., S. 23.
11 Vgl. Dittmann, S. 25.
12 Vgl. Hellrung, S. 37.
13 Vgl. Dittmann, S. 27.
14 Vgl. Hellrung, S. 28.
15 Vgl. a. a. O., S. 24.
16 Vgl. Dietenmeier, S. 27.
17 Vgl. Dittmann, S. 46.
18 Hellrung, S. 26.
19 Vgl. Dittmann, S. 47.
20 Vgl. a. a. O., S. 52 f.
21 Vgl. Hellrung, S. 42.
22 Vgl. Dittmann, S. 54.
23 Vgl. a. a. O., S. 86.
24 Vgl. Hellrung, S. 43.
25 Vgl. Dittmann, S. 30.
26 Vgl. a. a. O., S. 15.
27 Vgl. Hellrung, S. 20.
1 Vgl. Schindler 3, S. 3.
2 Vgl. Hellrung, S. 138.
3 Vgl. Dietenmeier, S. 24.
4 Vgl. a. a. O., S. 23.
5 Vgl. Hellrung, S. 136.
6 Vgl. Hellrung, S. 132.
7 Vgl. Dittmann, 101 f.
8 Vgl. a. a. O., 105.
9 Vgl. Butzkamm, S. 52.
10 Vgl. ebd.
- Quote paper
- Markus Brenneis (Author), 2012, Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung von Kleinkindern beim Erstspracherwerb, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203187
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