Das Osmanische Reich und seine Minderheiten

Der ökonomische Wandel im 19. Jahrhundert


Thèse de Bachelor, 2012

40 Pages, Note: 2,3


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

ZUSAMMENFASSUNG

1. EINLEITUNG

2. Das Osmanische Reich und ihre Minderheiten
2.1 Die Wirtschaft des Reiches
2.2 Der Status der Nicht-Muslime

3. Der ökonomische Stillstand
3.1 Die islamischen Partnerschaften
3.2 Das Fehlen von modernen Unternehmensgesellschaften

4. Der Aufstieg der Minderheiten
4.1 Der islamische Rechtspluralismus
4.2 Die Verwestlichung der Minderheiten

5. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1: Handelsrouten im Osmanischen Reich

Abb. 2: Größenverteilung der Partnerschaften in Istanbul, 1602 – 1697

Abb. 3: Osmanische Aktiengesellschaften zwischen 1850 und 1920

Abb. 4: Anteile der Minderheiten im Import-Export Sektor von Trabzon (1884)

Abb. 5: Anteile der Minderheiten im Import-Export Sektor von Beirut (1848)

Abb. 6: Hauptanteile der Muslime und Minderheiten an osmanischen Händlern (1912)

ZUSAMMENFASSUNG

Das Osmanische Reich bestand von 1299 bis 1923 und war damit eines der langlebigsten Imperien der Geschichte. Es erstreckte sich, auf dem Höhepunkt seiner Macht, auf drei Kontinenten einschließlich des Balkans, des Maghrebs, Kleinasiens und des Nahen Ostens. Folglich war es in seiner ethnischen Zusammensetzung ein Vielvölkerstaat und hatte dabei enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu anderen europäischen Mächten. Um die wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Beziehungen zu analysieren, ist es unumgänglich, die Tätigkeiten und Handelsbeziehungen der christlichen und jüdischen Minderheiten im Reich zu betrachten. So waren die osmanischen Minderheiten vor allem als Steuerpächter und im internationalen Handel erfolgreich, während die muslimischen Kaufleute den Binnenhandel dominierten. Somit bestand bis ins 18. Jh. ein gewisses Gleichgewicht zwischen den muslimischen und den nicht-muslimischen Handelsaktivitäten.

Erst im 19. Jh. hatten die Nicht-Muslime des Osmanischen Reiches einen enormen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber der muslimischen Mehrheit erlangt. Diese Vorteile resultierten aus der Rechtswahl, die den Minderheiten aus dem islamischen Rechtspluralismus entstanden. Durch das Millet-System hatten die einzelnen Konfessionen ihre eigene Gerichtsbarkeit. Bis ins 18. Jh. übten die Minderheiten dennoch ihr Wahlrecht bezüglich ihrer wirtschaftlichen Angelegenheiten zugunsten des islamischen Rechtssystems aus. Die Folge war, dass sich die konfessionellen Gerichte der Nicht-Muslime an die islamische Rechtspraxis anglichen. Durch die organisatorische Stagnation der Region erwuchsen somit auch den Minderheiten erhebliche ökonomische Nachteile. So konnte keine der konfessionellen Gruppen fortschrittliche Organisationen entwickeln. Als jedoch die westeuropäischen Staaten im 19. Jh. durch ihre organisatorischen Institutionen endgültig den Nahen Osten dominierten, entstanden für die christlichen und jüdischen Minderheiten neue Möglichkeiten ihren Handel zu organisieren. Sie wurden zu Protegés der europäischen Mächte und stellten sich unter Ihren Schutz. Ihre Rechtswahl übten sie nun zugunsten der westlichen Rechtssysteme aus. Dadurch konnten sie ihre Handelsnetzwerke im Westen ausbauen und große bzw. komplexe Unternehmen nach westlichem Vorbild gründen.

1. EINLEITUNG

Das Osmanische Reich und ihre Wirtschafts- bzw. Handelstätigkeiten wurden oft in der älteren Forschung behandelt. Dabei wurde jedoch die Grundperspektive auf die Makroebene gerichtet und damit eher die Import- und Exportbeziehungen des Reiches mit den europäischen Mächten betrachtet. Wichtige Ergebnisse dieser Forschungsrichtung waren u.a. die Erkenntnis, dass die Sultane, entgegen der herrschenden Meinung, den Handel förderten und schützten. So konnte Halil Inalcik (1994) zeigen, dass insbesondere Großhändler von der Regierung bevorzugt und ihnen Steuerermäßigungen und andere Privilegien gewährt wurden. Darüber hinaus förderte der Staat den Handel, indem in den Städten große Markthallen (Besistan) errichtet wurden, wo sowohl osmanische als auch ausländische Händler und Handwerker ihre Waren verkaufen konnten. Bei all diesen Untersuchungen wurden jedoch die individuellen Beziehungen und Netzwerke der Händler nicht berücksichtigt. Erst die jüngere Forschung konnte einen Blick in die Mikroebene und somit in die einzelnen Handelstätigkeiten der Händler des Reiches werfen. Dies wurde u.a. durch die Veröffentlichung und Erforschung von mehreren Monographien und Gerichtsregistern ermöglicht. So konnte jüngst Timur Kuran , durch seine Recherchen in Kadi-Registern von Istanbul aus dem 17. Jh. wichtige Erkenntnisse über die konkrete Abwicklung und Durchsetzung von Handelsbeziehungen gewinnen.

Ein wichtiges Ergebnis der neueren Forschung ist die Tatsache, dass die muslimischen Händler bis ins 18. Jh. einen beachtlichen Anteil an dem gesamten Handel innehatten und nicht, wie die ältere Literatur annahm, der Handel von den religiösen Minderheiten (dhimmi) dominiert wurde. Vielmehr passten sich die „Dhimmis“ an die islamischen Handelsmethoden an. In seiner Untersuchung über den maritimen Handel des Osmanischen Reiches im 18. Jh. konnte Panzac (1992) zeigen, dass vor allem der Binnenhandel in den Regionen des Schwarzen Meeres und des Indischen Ozeans von muslimischen Händlern dominiert wurde. Die Mittelmeerregion war zwar nach wie vor fester Bestandteil des Europäischen Handels und die Handelschiffe im Besitz der europäischen Mächte, jedoch waren auch hier die Auftraggeber an den Osmanischen Küstenstädten vorwiegend Muslime. So heuerten in Alexandria in den Jahren um 1750 muslimische Händler 6, 8, 10 oder sogar 16 französische Karawanenschiffe im Jahr an und entsandten sie in alle Bereiche des Osmanischen Reiches im Mittelmeerraum. Zwar waren auch die Handelstätigkeiten der Minderheiten im Binnenhandel von wachsender Bedeutung, jedoch lag ihre Stärke im internationalen Handel des Reiches. So waren in den maritimen Handel mit Indien und Persien vor allem Armenier involviert. Im Handel mit Europa waren die Dhimmis, bestehend aus Armeniern, Griechen und Juden, vor allem als Agenten der europäischen Händler tätig. Letztere hatten eine Monopolstellung im Handel mit Frankreich. Sie organisierten die Verkäufe und Lieferungen von europäischen Waren zu den lokalen muslimischen und nicht-muslimischen Abnehmern. Sie dienten auch als Vermittler zwischen den Schiffskapitänen und der Weizen-, Baumwoll- und Seidenproduzenten im Reich. Dabei waren sie immer bemüht einen „Berat“ zu erwerben, die sie in den Status eines Günstlings einer europäischen Macht erhob. Dieser schützte sie von der Osmanischen Gerichtsbarkeit und gewährte ihnen die Vorteile des jeweiligen europäischen Staates. Außerdem versuchten die Minderheiten aus dem Status eines Agenten zu einem selbständigen Händler zu wechseln. Ihre persönlichen Beziehungen zu den Europäern und das Beherrschen sowohl der lokalen als auch mindestens einer europäischen Sprache begünstigten die Minderheiten im internationalen Handel des Reiches. Nichtsdestotrotz war der Binnenhandel im 18. Jh. wichtiger als der internationale Handel, so dass die muslimischen Händler in ihren Bereichen den Minderheiten nicht nachstanden. Erst zum 19. Jh. vollzog sich der „Aufstieg“ der Minderheiten und somit der Niedergang der muslimischen Händler.

Diese Arbeit behandelt hier anknüpfend die Fragestellung, wie und unter welchen Umständen sich dieser Wandel unter den osmanischen Muslimen und den Nicht-Muslimen vollzogen hat. Dabei ist zu beachten, dass die Dominanz der Dhimmis im 19. Jh. mit dem endgültigen ökonomischen Stillstands des Nahen Ostens verknüpft ist. Daher muss, um den Aufstieg der Minderheiten zu begreifen, zuerst die ökonomische Stagnation des Nahen Ostens näher betrachtet werden. Die Argumentation diesbezüglich wird hauptsächlich den Thesen von Timur Kuran aus seinem 2011 erschienen Buch „The Long Divergence“ folgen.

Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst die allgemeinen Wirtschaftsbedingungen des Osmanischen Reiches und die Stellung der Nicht-Muslimen betrachtet. Anschließend werden die Umstände des ökonomischen Stillstands erörtert. Hierbei werden die im Reich dominierenden islamischen Partnerschaften und das Fehlen von modernen Unternehmens- bzw. Aktiengesellschaften näher betrachtet. Darauf aufbauend werden die Tätigkeiten der Minderheiten und vor allem die Umstände, die zur Dominanz der Nichtmuslimen führten, analysiert. Der Fokus liegt dabei u.a. auf dem islamischen Rechtspluralismus, welche paradoxerweise den Minderheiten enorme Vorteile gegenüber den Muslimen bot und trotzdem zu einer Islamisierung der Dhimmis führte. Im nächsten Unterabschnitt werden dann die Umstände, die zur anschließenden Verwestlichung der Dhimmis führten betrachtet. Im letzten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse zusammengefasst und einer persönlichen Einschätzung bzw. einer Stellungnahme unterzogen.

2. DAS OSMANISCHE REICH UND IHRE MINDERHEITEN

2.1 Die Wirtschaft des Reiches

Das Wirtschafts- und Handelsverständnis im Osmanischen Reich wurde hauptsächlich vom Gedanken der maximalen Anhäufung der Staatskasse bestimmt. Somit war das Streben zur Maximierung der öffentlichen Einnahmen der zentrale Grundsatz des Wirtschaftstrebens als der wirtschaftliche Zweck an sich (vgl. Inalcik 1994, S.44). Darüber hinaus bestand die Vorstellung, dass einzig und allein militärische Kraft den Wohlstand des Staates sichern kann. Diese beiden Prinzipien, Maximierung der Staatseinnahmen und die militärische Kraft, bildeten die Basis der Osmanischen Eroberungspolitik (vgl. ebd.). Der wichtigste Wirtschaftssektor war die Landwirtschaft. Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stand daher zunächst vorwiegend die Eroberung von neuen Territorien, um diese in Militärlehen (timar) zu unterteilen. Diese wurden einzelnen Kavalleristen (sipahi) für ihre Dienste zugeteilt (vgl. Schuß 2008, S.89 f.). Die Timar-Inhaber bzw. Sipahi konnten somit die von der Regierung festgelegte Steuer von den Bauern einziehen und mussten als Gegenleistung Militärdienste leisten (vgl. Faroqhi 2003, S.67). Das Grundstück war Staatseigentum und somit Eigentum des Sultans (miri-Land). Daher waren die Lehen nicht erblich und die Timarioten konnten jederzeit ausgewechselt werden. Somit wurde die Bildung einer mächtigen Adelsklasse, wie sie in Form von Feudalherren in Europa bestand, verhindert. Daneben konnte das Land - nach islamischem Recht - einer Privatperson (mülk) oder einer Stiftung (waqf) angehören (vgl. Schuß 2008, S.90).

Die wirtschaftlichen Einheiten in den Städten wurden von Kaufleuten und selbständigen Handwerkern gebildet. Die einzelnen Berufsgruppen organisierten sich in Zünften (Lonca) und genossen eine Art der Selbstverwaltung. So legten sie selbst die Anzahl der Handwerker und die Preise der Produkte fest. Außerdem konnten sie in eigener Regie die Steuern auf ihre Mitglieder aufteilen. Der Handel fand in unterschiedlichen Märkten statt, wobei diese staatlichen Regulierungen unterworfen waren (vgl. ebd., S.91). So mussten bestimmte Berufsorganisationen die Städte mit Nahrungsmitteln versorgen. Hierbei hatte die Hauptstadt Istanbul eine herausragende Stellung inne. Es wurden für die Belieferung von z.B. Getreide und Fleisch ganz bestimmte Regionen ausgesucht, wobei bestimmte Kaufleute (Kapan Tüccarlari) das Monopol für den Ankauf erhielten. Die Preise wurden dabei durch den Staat festgelegt, um in Krisensituationen die Versorgung sicherzustellen. Die Kontrolle der Marktpreise oblag dabei dem Marktaufseher (Muhtesib). Dieser sorgte auf den Märkten auch für die Einhaltung von vorgegebenen Maß- und Gewichtseinheiten (vgl. Inalcik 1994, S.46). Ansonsten war die eigentliche Produktion fei von staatlichen Eingriffen (vgl. Schuß 2008, S.91).

Eine andere Einnahmequelle für die meist größeren Kaufleute war das Pachten von Steuereinheiten (Iltizam). Hierbei gewährte das Reich für eine bestimmte Summe einzelnen Personen das Recht, Steuern von festgelegten Einheiten für eine bestimmte Zeit einzuholen. Später wurde dieses Abkaufsystem auch auf andere Einnahmeeinheiten wie z.B. Zölle, Marktgebühren oder auch Bergwerke angewandt. Durch hohe Pachtsummen mussten sich mehrere Kaufleute zusammentun, wodurch sich der Geldverleih immer mehr ausdehnen konnte (vgl. Panova 1997, S.146 ff.). Im Geschäftsleben des Reiches hatten Kredite eine besondere Rolle. So benutzten die Kaufleute und Händler verschiedene Finanzierungsformen wie z.B. die Übertragungen von Schulden (hawala), den Wechsel (suftaga) oder den Scheck (ruq’a) (vgl. Schuß 2008, S.93). Dabei waren Zinsen im Grunde verboten. Jedoch wurde das Zinsverbot häufig durch unterschiedliche Kunstgriffe umgangen, wodurch die islamischen Gerichte letztendlich Zinsen, die 15% nicht überschritten, teilweise erlaubten (vgl. Inalcik 1994, S.492).

Die lokalen sowie internationalen Handelsbeziehungen wurden durch verschiedene islamische Partnerschaften ausgebaut. Die bekannteste Form, die Mudarba Partnerschaft, war im mittelalterlichen Europa als die Commenda bekannt. Somit konnten die Händler und Kaufleute Geschäftskapital erhalten, dass in verschiedene Unternehmungen bzw. Handelswaren investiert werden konnte.

Durch ihre geographische Lage zwischen Europa und Asien, verliefen durch das Osmanische Reich wichtige Handelsrouten (vgl. Abb.1). Städte wie Bursa, Iznik und Saloniki wurden dadurch zu wichtigen Handelszentren, von wo Waren wie z.B. Seide, Wolle und Gewürze nach Europa (weiter)vermittelt wurden. Die wichtigsten Handelspartner waren Venedig, Frankreich, England und Holland. Von hier wurden Manufakturwaren und fertige Stoffe importiert (vgl. Panova 1997, S.75). Im 17. Jh. hatte das Reich in seiner größten Ausdehnung alle wichtigen Routen nach Asien unter seiner Kontrolle. Das Schwarze Meer wurde zu einem Binnenmeer des Reiches, indem vor allem muslimische Handelsnetzwerke dominierten. Mit der Eroberung Mesopotamiens hatte das Reich Zugang zum Roten Meer und damit eine verkürzte Seeroute zu Indien (vgl. Panzac 1992, S.190 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Handelsrouten im Osmanischen Reich[1]

Die Schlüsselregion war jedoch das östliche Mittelmeergebiet. Hier kontrollierte das Reich die Küste von Dalmatien bis Marokko. Der Handel wurde mit kleinen Schiffen nahe der Küste zu den einzelnen Häfen betrieben. Der maritime Handel war von großer Bedeutung. Es war der kürzeste und billigste Weg, die Seeroute Istanbul-Smyrna-Alexandria mit den Routen nach Makedonien, Syrien und den Maghreb zu verbinden.

Der Außenhandel des Reiches wurde maßgeblich durch die Kapitulationen[2] (Imtiyazat) beeinflusst. Diese Verträge gewährten den westlichen Staaten einseitige Privilegien. So durften diese z.B. ihre Importe und Exporte mit niedrigen Zollsätzen von 2%-5% durchführen, wohingegen die osmanischen Händler viel höhere Zollsätze zahlen mussten. Hierbei wird auch das Außenhandelsverständnis der Osmanen deutlich. Der Import von europäischen Waren wurde gefördert, während der Export von vor allem strategischen Waren reglementiert wurde (vgl. Schuß 2008, S.95). Dies hatte mit der Vorstellung zu tun, die Güter, die wichtig für den Reichtum waren, im eigenen Land zu behalten. Darüber hinaus waren die ausländischen Bürger von Steuern und Gebühren befreit. Außer wirtschaftlichen Privilegien gewährten die Kapitulation auch Garantien für die Freiheit und Sicherheit der ausländischen Bürger. Diese exterritoriale Vereinbarung garantierte ebenfalls die freie Religionsausübung. Des Weiteren wurden für die privilegierten Staaten Konsuln bestätigt, die Immunität genossen und nicht der osmanischen Jurisdiktion unterstanden (vgl. Panaova 1997, S.78 f.). Die erste und umfangreichste Kapitulation wurde 1535 von Sultan Süleyman I. an Frankreich gewährt. Später folgten Verträge mit Venedig, England und Österreich.

2.2 Der Status der Nicht-Muslime

Der rechtliche Status der Minderheiten im Osmanischen Reich begründete sich im Wesentlichen auf die alten Traditionen und Überlieferungen aus der Entstehungsphase des Islam. Einerseits war der Islam auf die Islamisierung der umliegenden Gegend gerichtet, andererseits wurden die anderen monotheistischen Religionen respektiert und toleriert (vgl. Gerber 2008, S.35). So ist überliefert, dass der Prophet Mohammed selbst bei der Eroberung der Arabischen Halbinsel, die dort ansässigen Juden und Christen als sogenannte Buchbesitzer und daher als Schutzbefohlene (dhimmi) ansah. Als Bürger (reaya) hatten die Dhimmis dabei das Recht ihre Religion im Grunde frei auszuleben und Eigentum zu besitzen, solange sie die Überlegenheit des Islams akzeptierten und als symbolische Unterlegenheit eine spezielle Kopfsteuer (cizye) entrichteten (vgl. ebd.). Dafür wurden sie, im Gegensatz zu den muslimischen Bürgern, von der Militärpflicht befreit. Als Beschränkungen unter islamischer Herrschaft, durften Christen und Juden keine neuen sakralen Gebäude errichten, keine Waffen tragen und mussten spezielle Kleidung tragen. Außerdem konnten sie vor Gericht gegenüber einem Muslimen nicht als Zeugen auftreten oder eine muslimische Frau heiraten (vgl. Gibb and Bowan, 1950, S.207ff.). Diese Tradition wurde von den Seldschuken und schließlich von den Osmanen übernommen (vgl. Panova 1997, S.50). Insbesondere nach 1453 mit der Eroberung von Konstantinopel beherrschten die Osmanen das Zentrum der griechisch-orthodoxen Kirche. Zu dieser Zeit hatte das Reich bereits weite Teile des Balkans erobert, womit es eine große Population an Christen ins Reich einverleibte. Konstantinopel wurde in Istanbul umbenannt und als Hauptstadt neu ausgebaut. Sultan Mehmet II begann direkt nach der Eroberung mit der Neubesiedlung der Stadt, wobei er neben Muslimen interessanterweise Christen und vor allem Juden ansiedeln ließ. Damit bezweckte er neben einem kulturellen Zweck, besonders das Ziel ein wirtschaftliches Zentrum aufzubauen (vgl. Menzel 2008, S.18). Diese politischen Ziele führten zu einem besonderen Umgang mit den Minderheiten. Die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Staat und den Minderheiten basierte dabei auf dem Prinzip des Millet-Systems (vgl. Panova 1997, S.49). Demzufolge konnten sich die griechisch-orthodoxe, die armenisch-gregorianische und die jüdische Gemeinschaft auf religiöser Basis selbst organisieren. Solange kein Muslim beteiligt war, konnten die einzelnen Millets ihre wirtschaftlichen bzw. rechtlichen Belange und Streitigkeiten in ihren eigenen Gerichten erledigen. Bei Streitigkeiten, wo mindestens ein Muslim beteiligt war, galt jedoch das islamische Recht (Scharia). Die Führung der Millets oblag bei den Christen den Patriarchen und bei den Juden den Oberrabbiner[3]. In ihren Aufgabenkreis gehörten auch Bereiche, wie die Eheschließung, das Erbrecht und die Bildung der Gemeinschaften.

Der Staat hatte durch diese interne Autonomie das Ziel, die Probleme und die Pflichten der Minderheiten auf die Gemeinschaften zu übertragen (vgl. ebd., S.50). Besonders der Steuereinzug wurde somit von den religiösen Führern der einzelnen Gemeinschaften durchgeführt und der Zentralmacht überführt. Hinter diesem System stand weniger eine Toleranzpolitik seitens der Hohen Pforte als vielmehr reines politisches Kalkül. Die geistlichen Führer konnten als gut organisierte und (im Falle der orthodoxen Kirche) bereits etablierte Verwaltungsinstrumente genutzt werden, um die Minderheiten zu überwachen und zu kontrollieren (vgl. Werner 1985, S.335).

In wirtschaftlicher Hinsicht waren die osmanischen Christen und Juden insbesondere als Steuerpächter aktiv. Dadurch konnten sie großes Kapital anhäufen. Als Großhändler und Kreditgeber hatten sie im 15. und 16. Jh. großen Einfluss bei der Pforte erlangt (vgl. Inalcik 1994, S.260 f.). Dabei hatten in Bereichen wie der Medizin und diversen Bankgeschäften besonders die jüdischen Immigranten aus Spanien eine führende Rolle. Durch ihre früheren Kontakte und Kenntnisse von unterschiedlichen europäischen Sprachen erlangten sie außerdem hohe Positionen als Diplomaten des Reiches. Bis zum 18. Jh. wurden jedoch die hohen Positionen der Juden von meist griechischen Christen ersetzt (vgl. Issawi 1982, S. 262 f.). Eine andere herausragende Stellung hatten die Minderheiten als Handwerker und Händler in den großen Zentren wie z.B. Istanbul, Bursa oder Saloniki. Den letzteren Ort hatten die jüdischen Siedler zu dem größten Textilzentrum im Reich ausgebaut. Wie die muslimischen Handwerker, organisierten sich die Minderheiten ebenfalls in Zünften mit eigenen Regelungen.

Erst mit den Tanzimat-Reformen[4] im 19. Jh. wurde das Millet-System abgeschafft und die Minderheiten erhielten den gleichen Status wie die Muslime (vgl. Faroqhi 2003, S. 276).

[...]


[1] Quelle: Inalcik 1994 S. 220-221.

[2] Der Begriff der Kapitulation kommt vom lat. Capitule (Kapitel), in die die Verträge unterteilt waren.

[3] Nach Braude (1982) hatte die Funktion des Oberrabbiners nicht über alle Juden im Reich Geltung. Vielmehr hatten die unterschiedlichen jüdischen Gemeinden ihre eigenen Gemeinderabbis.

[4] Als Tanzimat werden die Reformen im Osmanischen Reich bezeichnet, die das Militär, die Regierung, die Justiz und die Wirtschaft modernisieren sollten.

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Résumé des informations

Titre
Das Osmanische Reich und seine Minderheiten
Sous-titre
Der ökonomische Wandel im 19. Jahrhundert
Université
Free University of Berlin  (Institut für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte)
Note
2,3
Auteur
Année
2012
Pages
40
N° de catalogue
V203317
ISBN (ebook)
9783656307648
ISBN (Livre)
9783656311515
Taille d'un fichier
2244 KB
Langue
allemand
Mots clés
Osmanisches Reich, Wirtschaft, Handel, Osmanische Minderheiten, Wirtschaftsgeschichte, islamische Institutionen, islamischer Rechtspluralismus, Islam, Juden, Christen, Timur Kuran, Osmanischer Handel
Citation du texte
Safak Kirkkanat (Auteur), 2012, Das Osmanische Reich und seine Minderheiten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203317

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