Kontextoptimierte Förderung im Unterricht

Ausgewählte Praxisbeispiele aus einer zweiten Klasse mit dem Förderschwerpunkt „Sprache“


Examensarbeit, 2012

51 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Einleitung

Wie kann sprachtherapeutischer Unterricht[1] umgesetzt bzw. wie kann die Problematik der Vereinbarkeit von Therapie und Unterricht überwunden werden? Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Sprachheilpädagogik mit dieser grundlegenden Frage. Eine mögliche Antwort bietet Hans-Joachim Motsch mit seinem therapie- und unterrichtsdidaktischen Konzept „Kontextoptimierung“, dessen Schwerpunkt auf der Förderung grammatischer Kompetenzen liegt. Die Effektivität und Effizienz des didaktischen Ansatzes wird durch mehrere Interventionsstudien in Therapie- und Unterrichtssettings gestützt (vgl. Motsch 2010, S.15ff.). Seiffert schreibt dem Konzept der Kontextoptimierung eine „enorme Attraktivität“ zu, da es im Gegensatz zu anderen Didaktiken als erstes Konzept dem Anspruch, Unterricht sprachtherapeutisch zu gestalten und somit Therapie und Unterricht zu verbinden, tatsächlich entsprechen kann (vgl. Seiffert 2008, S.147f.). Auch Reber/Schönauer-Schneider heben die herausragende Stellung des Konzeptes hervor; im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die aus der Therapiedidaktik stammen und meist nur unzureichend auf Unterricht übertragbar sind, kann die Kontextoptimierung im Unterricht effektiv eingesetzt werden (vgl. Reber/Schönauer-Schneider 2011, S.11).

Mein Interesse an der Kontextoptimierung wurde durch die in der Literatur genannten Vorzüge sowie durch eine Fortbildung von Margit Berg, die ich im September besuchte, geweckt. Aufgrund dieser Erfahrungen beschloss ich, kontextoptimierte Förderung in meiner Klasse auszuprobieren und zum Thema meiner Prüfungsarbeit zu machen. Zentrale Fragen, die ich mir hierbei stellte, waren: (Wie) kann Kontextoptimierung im Unterricht einer zweiten Klasse eines sonderpädagogischen Förderzentrums mit dem Förderschwerpunkt „Sprache“ umgesetzt werden? Welche Möglichkeiten aber auch welche Schwierigkeiten entstehen bei der Anwendung des didaktischen Konzeptes?

In der vorliegenden Arbeit werden zunächst die theoretischen Grundlagen des Konzeptes herausgearbeitet (Kapitel 1). In Kapitel zwei erfolgt die Darstellung der Lerngruppe, indem die Lernvoraussetzungen dargelegt werden. Die Konsequenzen, die sich einerseits aus der Diagnostik konkret für den Unterricht und andererseits allgemein bezogen auf das Setting „Unterricht“ ergeben, werden in Kapitel drei erörtert. Die Planung und Durchführung kontextoptimierter Förderung im Unterricht wird in Kapitel vier in einer Übersicht skizziert, sowie an zwei exemplarischen Fördersequenzen didaktisch kommentiert. Anschließend wird die Unterrichtsarbeit insgesamt reflektiert. Schließlich soll in Kapitel fünf die Arbeit resümiert und das weitere Vorgehen dargelegt werden.

1. Theoretische Grundlagen der Kontextoptimierung

Zu Beginn wird die Entstehung und Begründung des Konzepts kurz skizziert. Anschließend werden die Zielgruppe, die wesentlichen Therapieziele sowie die Prinzipien der Kontextoptimierung dargestellt.

1.1 Entstehung und Begründung des Konzepts

Das therapie- und unterrichtsdidaktische Konzept „Kontextoptimierung“ wurde Ende der 90er Jahre/Anfang 2000 von Hans-Joachim Motsch entwickelt. Seither ist es mehrmals in Form von Interventionsstudien empirisch überprüft, evaluiert und weiterentwickelt worden. Ziel der Kontextoptimierung ist die Förderung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten bei Kindern mit Spracherwerbsstörungen auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene. Motsch sieht die Notwendigkeit eines neuen Konzepts zur Förderung grammatischer Kompetenzen in zwei problematischen Entwicklungen begründet. Sprachtherapeuten und –therapeutinnen sowie Sprachheillehrer und –lehrerinnen zeigen oftmals Unsicherheiten im therapeutischen Umgang mit grammatischen Störungen. Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, beobachtet Motsch, wird entweder auf „allgemeine Sprachförderung“ oder auf Förderung der phonetisch-phonologischen Sprachebene, die ebenfalls bei vielen Kindern mit Spracherwerbsstörungen beeinträchtigt ist, ausgewichen. Die Sprachheillehrkräfte hingegen, die grammatische Förderung im Unterricht anbieten, greifen meist auf ungünstige produktionsorientierte Satzmusterübungen („pattern practice“) zurück. Hierbei werden künstliche Situationen geschaffen, in denen das Kind Sätze nachsprechen soll, die keine Kontraste aufzeigen, beispielsweise nur aus Subjekt-Verb-Objekt-Sätzen bestehen, ohne diesen beispielsweise Objekttopikalisierungen gegenüber zu stellen. Darüber hinaus lernen Schüler und Schülerinnen nicht in kommunikativ sinnvollen Kontexten, das heißt, die Lebenswelt und Emotionalität des Kindes wird nicht angemessen berücksichtigt. Hieraus resultiert zum einen eine geringe Motivation auf Seiten der Kinder, zum anderen wenige bis ausbleibende Erfolge beim Transfer der Zielstruktur in den Alltag. Da auf die Überprüfung des individuellen Lernstandes eines jeden Kindes verzichtet wird, bleibt die Förderung oberflächlich und ist somit nicht effektiv genug, um grammatische Blockierungen zu lösen (vgl. Motsch 2010, S.10f., S.86f. und S.100). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bisherige therapiedidaktische Konzepte zur grammatischen Förderung nicht ausreichen, um den Spracherwerb grammatisch beeinträchtigter Kinder adäquat anzustoßen bzw. zu fördern. Bei der Entwicklung der Kontextoptimierung greift Motsch auf bewährte therapeutische Erkenntnisse und Vorgehensweisen therapiedidaktischer Ansätze zurück, wobei er hierbei anstrebt, deren Schwächen zu vermieden. Beispielsweise wird angelehnt an den entwicklungsproximalen Ansatz von Dannenbauer der individuelle Förderbedarf (mithilfe der Evozierten Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten (ESGRAF)) erfasst und die relevante Zielstruktur auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse über den Entwicklungsstand im Sinne der „Zone der nächsten Entwicklung“ konkludiert (vgl. ebd., S.12 und S.100). Anschließend sollen „[…] die Inputstrukturen dann so verändert werden, dass sie die Zielstrukturen in dafür geeigneten Handlungs- bzw. Spielhandlungskontexten häufiger, eindeutiger, prägnanter und kontrastiver enthalten.“ (Motsch 2010, S.12).

1.2 Ziele kontextoptimierter Förderung

1.2.1 Zielgruppe

Ein unauffälliger Spracherwerb auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene ist bereits mit der Vollendung des vierten Lebensjahres abgeschlossen[2]. Kinder in diesem Alter haben bis dahin alle wesentlichen grammatischen Regeln erworben. Das lässt sich daran erkennen, dass sie zu 90-100%[3] grammatisch korrekte Sätze bilden können. Motsch orientiert sich bei seinem Ansatz am Erwerbsphasenmodell nach Clahsen (1982):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Übernommen aus: Motsch 2010, S.26

Kinder mit einer Spracherwerbsstörung[4] auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene befinden sich in einem höheren Alter, beispielsweise im Grundschulalter, noch in einer der oben aufgeführten Phasen. Der Erwerb grammatischer Regeln ist oftmals stagniert, das heißt, das Kind ist in seinem grammatischen Spracherwerb in einer Phase des Erwerbs „stehen geblieben“. Es kann in seinem Spracherwerb nicht weitergehen, die nächste(n) Phase(n) können nicht erreicht werden, solang die Blockade nicht gelöst wird.[5] Beispielsweise wird ein 7jähriger Schüler, der die Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz und die Subjekt-Verb-Kontrollregel noch nicht erworben hat auch nicht die Verbendstellungsregel im Nebensatz oder die Dativregel sicher erwerben können (vgl. ebd., S.24ff. und S.46).

Kinder mit grammatischen Störungen, haben es nicht (ausreichend) geschafft, aus ihrem sprachlichen Umfeld relevante Merkmale zur Entdeckung grammatischer Regeln zu extrahieren. Sie verfügen nicht im gleichen Maße über Bootstraping-Strategien (Strategien, um sich relevante grammatische Informationen herauszufiltern) wie sprachunauffällige Kinder. Kinder mit einem normalen Spracherwerb filtern die „[…] für ihr Lernen relevante Einheiten (Trigger) aus dem wesentlich größeren sprachlichen Input als Intake heraus.“ (Motsch 2010, S.46). Ein Trigger ist beispielsweise bei der Entdeckung der Subjekt-Verb-Kongruenz die nur einmal vorkommende Verbendung „-st“ die das Subjekt „Du“ erfordert. Als Schlussfolgerung muss aus diesen Erkenntnissen gezogen werden, dass der Sprachinput der Umgebung bzw. ein korrektes Sprachvorbild alleine nicht ausreicht, damit Kinder mit Störungen auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene grammatische Regeln entdecken und schließlich erwerben können. An dieser Stelle greift Motschs therapiedidaktisches Konzept. Der Kontext soll hierbei insofern optimiert werden (vgl. Kapitel 1.3), dass die relevanten Merkmale der zu erwerbenden grammatischen Regel entdeckt werden können (vgl. Motsch 2010, S.46ff.). Wie kann nun die Zielgruppe der Kontextoptimierung ermittelt werden? Zur Überprüfung grammatischer Störungen existieren bereits verschiedene diagnostische Verfahren, u.a. informelle Verfahren (Braun), Screenings (Penner), Profilanalysen (Kauschke/Siegmüller) oder Subtests standardisierter Sprachentwicklungstests (Grimm). Aufgrund verschiedener Defizite die Motsch an den Verfahren kritisierte entwarf er ein alternatives diagnostisches Verfahren: die Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten, die er in den letzten Jahren überarbeitete und weiterentwickelte (ESGRAF-R [6] ) (vgl. ebd., S.70ff.). „ESGRAF-R ist ein zeitökonomisches qualitatives und quantitatives Diagnoseverfahren, das förderrelevante Informationen über den erreichten Stand der grammatischen Fähigkeiten eines Kindes liefert.“ (Motsch 2009, S.12, Z.1).[7]

1.2.2 Sprachtherapeutische Ziele

Das übergeordnete Ziel des therapie- und unterrichtsdidaktischen Konzepts ist der optimierte Kontext. Hierunter versteht Motsch eine Phase in der Therapie oder im Unterricht, in welcher Variablen wie beispielsweise der Sprachinput, die Spiel- und Handlungssituation, die Sprechweise des Therapeuten/der Therapeutin sowie die Unterstützungsangebote bestmöglich gestaltet werden, sodass ein Kind mit grammatischen Störungen die grammatische Regel zuerst entdecken und schließlich auch erwerben kann (vgl. Motsch 2010, S.101).

Kontextoptimierung versucht die planbaren Komponenten des Kontextes so zu verändern, dass Blockaden im grammatischen Lernen beseitigt werden und sich der danach erfolgende grammatische Lernprozess intensiviert. Die Veränderungen sollen zur optimalen Fokussierung der kritischen Merkmale von sprachlichen Zielstrukturen führen, um dadurch dem Kind die Verarbeitungsmöglichkeit der sprachlichen Strukturen zu erleichtern und die Verarbeitungswahrscheinlichkeit zu erhöhen. (Motsch 2010, S.102, Z.1)

Die Therapieziele der Kontextoptimierung werden von dem Erwerbsphasenmodell nach Clahsen (siehe S.4) abgeleitet. Sie beschränken sich auf die wesentlichen grammatischen Regeln, deren Erwerb bei Kindern mit grammatischen Störungen im Vordergrund sprachtherapeutischer Arbeit steht (vgl. ebd., S.28).

1. Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz (Phase III-IV)
2. Subjekt-Verb-Kontroll-Regel (Phase III-IV)
3. Komplexe Syntax: Verbendstellung in subordinierten Nebensätzen (Phase V)
4. Kasusmarkierung in Akkusativ- und Dativkontexten (Phase V)
(übernommen aus Motsch 2010, S.28)

1.3 Prinzipien kontextoptimierter Förderung

1.3.1 Kick-off

Der Kick-off ist die Basis kontextoptimierter Förderung. Symbolisch gesehen ist hier der Startschuss einer neuen Therapieeinheit gemeint, der anzeigt, welches Therapieziel in der nächsten Zeit verfolgt wird. Zu Beginn soll durch einen starken, eindrucksvollen Impuls, eine „handlungsmäßige Erfahrung“, die grammatische Regel entdeckt werden. Die zu erwerbende Zielstruktur ist oftmals in kleinen Geschichten und Handlungen eingebettet, um die Emotionalität des Kindes anzusprechen und somit eine stärkere Verankerung zu erreichen. Im Kick-off soll die zu erwerbende grammatische Regel gezielt in den Fokus, in das Bewusstsein der Kinder gerückt werden. Auf die im Kick-off erarbeiteten Strukturen, beispielsweise „das faule Wort“ kann in den folgenden Sequenzen immer wieder zurückgegriffen werden (vgl. ebd., S.106f.). „Die konsequente Durchführung dieses Startschusses hat sich als einer der wesentlichen Wirkfaktoren eines effizienten, d.h. raschen Therapieerfolges herausgestellt.“ (Motsch 2010, S.106, Z.18)

1.3.2 Ursachenorientierung

Kinder mit einer Spracherwerbsstörung auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene weisen oftmals auch Störungen auf der phonetisch-phonologischen Sprachebene auf. Hierzu zählen u.a. Schwierigkeiten in der auditiven Wahrnehmung und Speicherung, in der phonematischen Differenzierung sowie in der phonologischen Bewusstheit. Diese Kompetenzen sind jedoch gerade zur Erkennung und Unterscheidung relevanter Endungen für die Entdeckung morphologischer Regeln[8] von zentraler Bedeutung. Beispielsweise muss ein Kind die Morphemmarkierungen „-t“ und „-st“ unterscheiden können, um die Veränderung am Verb bei der Subjekt-Verb-Kongruenz wahrzunehmen.[9] Solange Kinder mit grammatischen Störungen relevante morphologische Markierungen nicht oder nur unzureichend auditiv zu differenzieren vermögen, können sie trotz eines optimierten Kontextes die Zielstruktur nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen, was den Erwerb erheblich erschwert bis unmöglich macht. Aus dieser Erkenntnis resultiert die Aufgabe für den Therapeuten/die Therapeutin, im gegebenen Falle eine Fördereinheit zur Sensibilisierung auf Morphemmarkierungen vorzuschalten. Hierbei geht es um das kurzfristige Ziel, „finale Laute schnell identifizieren und unterscheiden zu können“. Eine Übung kann beispielsweise sein, Auslaute bei Nomen zu differenzieren („Höre genau hin. Wo hörst du ein „–st“? Bei Hut, Wurst oder Bett?“) (vgl. ebd., S.107f.).

Um die Einschränkungen spracherwerbsgestörter Kinder ebenfalls zu kompensieren, soll die Sprechweise des Therapeuten effektiv eingesetzt werden. Motsch geht davon aus, dass Kinder mit grammatischen Störungen von einer veränderten Sprechweise maßgeblich profitieren. Er beruft sich hierbei auf amerikanische Studien aus den 90er Jahren sowie die zehnjährigen Erfahrungen im Rahmen der Anwendung des Konzeptes Kontextoptimierung (die Sprechweise des Therapeuten war von Beginn an eine wesentliche Grundlage der Kontextoptimierung). Im Gegensatz zu anderen therapiedidaktischen Ansätzen grammatischer Förderung fordert er eine „unnatürliche“ Sprechweise: Langsames, fraktioniertes und betontes Sprechen mit einer veränderten Prosodie (vgl. ebd., S.108f.). „Die ausgeprägte professionelle Sprechweise führt beim Kind zu verbesserter Identifizierung, Sequentierung und Speicherung der kritischen Merkmale der Zielstruktur.“ (Motsch 2010, S.108, Z.29) Wenn ein Kind die ‚komische‘ Sprechweise entdeckt ist dies laut Motsch nicht hinderlich, sondern sogar hilfreich. Hiermit intensiviert sich seine Aufmerksamkeit auf die zu erwerbende Zielstruktur.

Ein dritter, zentraler Aspekt im Sinne der Ursachenorientierung ist die Beschränkung auf die kürzeste Zielstruktur . Motsch betont, dass die oftmals verminderte Speicherfähigkeit von Sprache bei Kindern mit Spracherwerbsstörungen im grammatischen Bereich ein Bedingungsfaktor ist, der für die Planung kontextoptimierter Förderung unbedingt berücksichtigt werden muss. Ist die Äußerungslänge inadäquat oder sind „sprachliche Ablenker“ vorhanden, beispielsweise grammatische Strukturen aus höheren Erwerbsphasen oder unbekannte Wörter, können sich die Kinder nicht mehr (ausreichend) auf die kritischen Merkmale der Zielstruktur konzentrieren. Innerhalb des didaktischen Konzepts ist es im Sinne der kürzesten Zielstruktur daher auch möglich bzw. in vielen Fällen sogar geboten mit Ellipsen zu arbeiten, welche der Alltagssprache ohnehin eher entsprechen. Es soll unbedingt vermieden werden, wie beispielsweise bei der Methode des „pattern drills“, von den Kindern zu verlangen, in ganzen Sätzen zu sprechen, da diese Praxis sehr künstlich und demotivierend wirkt. In mündlichen Kommunikationssituationen kommen ellipsenartige Äußerungen häufiger vor, da der Kommunikationsrahmen (beispielsweise etwas, das beide Gesprächspartner sehen können) oftmals viele Strukturen überflüssig macht. Insofern ist die Aufforderung, in situativen Kommunikationskontexten in ganzen Sätzen zu sprechen, nicht nachvollziehbar, sie ruft Irritationen vor und ist im Sinne der kürzesten Zielstruktur auch nicht gewollt. Bei dem Therapieziel Subjekt-Verb-Kongruenz wäre die kürzeste Zielstruktur beispielsweise „Du malst“. Die Struktur beschränkt sich auf Subjekt und Verb, es sind keine sprachlichen Ablenker wie beispielsweise bei „Du malst einen großen Fisch“ vorhanden. Das Sprachmaterial wird vorab so ausgewählt und reduziert, dass das Kind sich ganz auf die zu erlernende Zielstruktur (in diesem Fall die Endung „–st“ die das Subjekt Du erfordert) konzentrieren kann. Wichtig ist zudem, dass das Sprachmaterial kontrastiv ist. Bei dem Therapieziel Verbzweitstellung im Hauptsatz reicht es beispielsweise nicht aus lediglich Subjekt-Verb-Objekt-Sätze zu bilden („Ich kaufe Salat“). Die Verbzweitstellung kann hier nur entdeckt werden, wenn das Kind lernt, dass das Verb in verschiedenen Satzstrukturen immer an der zweiten Stelle steht („Was kaufst du?“, „Salat kaufe ich.“). Spiegelt die Länge bzw. Kürze der Zielstruktur die Quantität der Zielstruktur wider, so geht es im nächsten Abschnitt um die Qualität der Zielstruktur.

Zur Ursachenorientierung gehört schließlich noch das Ausschalten von „Verwirrern“ . Kinder mit Störungen auf der morphologisch-syntaktischen Sprachebene können nicht gleichermaßen auf Strategien zur Filterung relevanter sprachlicher Informationen zurückgreifen wie Kinder mit einer normalen Sprachentwicklung. Daher ist für sie zum Erkennen grammatischer Regeln ein eindeutiger Input erforderlich. Ein Negativbeispiel wäre, zum Erkennen der Subjekt-Verb-Kongruenz, das Verb „heißen“ zu verwenden. Zwischen „Du heißt“ (2.Person Singular) und „Er heißt“ (3.Person Singular) besteht kein phonetischer Unterschied. Auch andere unregelmäßige Verben sind für den Erwerb der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel ungünstig (vgl. ebd., S.108ff.).

Darüber hinaus sollte bei der methodischen Planung verstärkt darauf geachtet werden, situative Ablenker zu vermeiden. Hierzu zählen u.a. zu viele gestalterischen Elemente und Materialien (Gefahr der Reizüberflutung), komplizierte Spielabläufe oder zu hohe inhaltliche Anforderungen (vgl. Berg 2011, S.38).

1.3.3 Ressourcenorientierung

Ein weiteres Prinzip der Kontextoptimierung ist die Ressourcenorientierung. Hierbei geht es darum, „[…]vorhandene metasprachliche und auch schriftsprachliche Ressourcen der Kinder kompensatorisch zur Unterstützung des grammatischen Lernens zu nutzen.“ (Motsch 2010, S.111). Aufgrund der bereits erwähnten eingeschränkten auditiven Leistungsfähigkeiten können beispielsweise verstärkt visuelle und taktile Angebote eingesetzt werden. Motsch nennt das Gespräch, die Schriftsprache sowie wahrnehmbare Strukturen als drei zentrale Unterstützungshilfen. Er betont, dass jeweils individuell beobachtet werden muss, welches der Angebote dem Kind am besten hilft. Die Unterstützungshilfen werden sukzessive abgebaut, je weiter die Entwicklung des Kindes voranschreitet.

Beim Gespräch wird gemeinsam mit dem Kind die jeweilige Zielstruktur reflektiert. Hierbei wird einerseits auf vorhandene metasprachliche Fähigkeiten zurückgegriffen, andererseits wird das Sprechen über Sprache etabliert und somit der Ausbau metasprachlicher Kompetenzen gefördert. Das Gespräch kann dazu genutzt werden, die fehlerhafte Struktur des Kindes der Zielstruktur gegenüberzustellen und somit eine Problematisierung zu schaffen, die es dem Kind ermöglicht bewusster über die eigene Sprache nachzudenken.

Die Schriftsprache ist eine weitere Ressource, die vielfältig genutzt werden kann, vorausgesetzt das Kind verfügt bereits über schriftsprachliche Fähigkeiten. Durch Schrift können beispielsweise kritische Merkmale der Zielstruktur wie Morpheme farblich oder durch Auslassungen hervorgehoben werden. Sie kann dazu dienen, die Regel festzuhalten oder zu Übungszwecken bei der Bearbeitung von Arbeitsblättern o.Ä. eingesetzt werden. Darüber hinaus können beim Erwerb der Syntax Wortkarten zum Bau von Sätzen genutzt werden.

Die Unterstützung des Lernprozesses durch wahrnehmbare Strukturen beinhaltet beispielsweise den Einsatz von visuellen Hilfen, u.a. Bauklötzchen für ein Wort oder ein Einkaufskorb für das Verb „kaufen“. Ebenso können Bilder, Symbole, sprachhandlungsbegleitenden Gesten und Zeichen, oder Unterstützungssystemen wie das Phonembestimmte Manualsystem zur Visualisierung der Morphemmarkierungen eingesetzt werden. Darüber hinaus können auch auditive Impulse genutzt werden, beispielsweise ein Signal bei einer fehlerhaften Äußerung, welches das Kind anregt, sich selbst zu korrigieren.

[...]


[1] In der Sprachheilpädagogik werden hier unterschiedliche Terminologien benutzt.

[2] Eine Ausnahme bildet die letzte Phase des Erwerbsphasenmodells, die lediglich die Entdeckung der Regel anzeigt. In welchem Alter der Erwerb der Regeln der Phase V als abgeschlossen gelten kann, gibt Clahsen nicht an. Motsch nennt an anderer Stelle das Grundschulalter (vgl. ebd., S.27 und S.49).

[3] Eine grammatische Regel gilt bei weniger als 10% Fehlbildungen als erworben (vgl. ebd., S.27).

[4] Der Begriff „Spracherwerbsstörung“ wird hier nach Motsch 2010 verwendet.

[5] Die Stagnation kann sich hierbei nicht „von selbst“ lösen, es muss sprachtherapeutisch interveniert werden.

[6] ESGRAF-R ist die Abkürzung für „Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten“. Das „-R“ gibt an, dass es sich hier um die überarbeitete und erweiterte Version des Verfahrens handelt. Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die Abkürzung des diagnostischen Verfahrens genutzt.

[7] Aus Platzgründen kann hier nicht weiter auf die Mängel der bisherigen diagnostischen Verfahren sowie auf die Vorteile der ESGRAF-R eingegangen werden (nachzulesen in Motsch 2010, S.70ff. und Motsch 2009, S.9ff.).

[8] Hierzu zählt die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel sowie Kasusmarkierungen in Akkusativ- und Dativkontexten.

[9] Alle Beispiele beziehen sich bereits vorgreifend auf die Therapieziele meiner Unterrichtseinheit, um hier einen Schwerpunkt zu setzen (aufgrund von Platzmangel können andere Therapieziele nur marginal mitgedacht werden).

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Kontextoptimierte Förderung im Unterricht
Untertitel
Ausgewählte Praxisbeispiele aus einer zweiten Klasse mit dem Förderschwerpunkt „Sprache“
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
51
Katalognummer
V203416
ISBN (eBook)
9783656298304
ISBN (Buch)
9783656302629
Dateigröße
4008 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Anhang enthält Bilder der verwendeten Medien und Materialien zur kontextoptimierten Förderung im Unterricht.
Schlagworte
Sprachheilpädagogik, Kontextoptimierung, grammatische Förderung, ESGRAF-R, Förderung, Unterricht, Förderschwerpunkt Sprache, Motsch, Unterrichtsmaterialien, Praxisbeispiele
Arbeit zitieren
Anja Huballah (Autor:in), 2012, Kontextoptimierte Förderung im Unterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203416

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