Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau
2 Über die Autoren
2.1 Alfons Goldschmidt
2.2 Karl I. Albrecht
3 Beobachtungen und Erfahrungen in Sowjetrussland
3.1 Alfons Goldschmidts Reiseberichte
3.2 Karl I. Albrechts Erlebnisse als hoher Staatsbeamter
4 Vergleich und Kritik
5 Schlussbetrachtung
5.1 Fazit
5.2 Ausblick
6 Quellen/Bibliographie
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
Abgesehen vom Ersten Weltkrieg, der Millionen von Todesopfern forderte und ein bis dato unvorstellbares Leid über ganz Europa brachte, gab es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wohl kein anderes Ereignis, das weltgeschichtlich so bedeutend war wie die russische Oktoberrevolution im Jahre 1917 sowie die anschließende Errichtung des kommunistischen Sowjetsystems.
Zu einer Zeit, in der es noch keine Mittel der Massenkommunikation gab, rankte sich eine Vielzahl von Halbwahrheiten, Mythen und Legenden um die neue, als „Paradies der Werktätigen“ propagierte Gesellschaftsorganisation, die wie kaum eine andere polarisierte und auch im europäischen Westen das Interesse zahlreicher Menschen auf sich zog, zumal die kommunistische Bewegung aufgrund der vorherrschenden gesellschaftlichen Konfliktlinien international und omnipräsent war. Um sich ein Bild von den neuen Verhältnissen in Sowjetrussland machen zu können, waren Ausländer auf die möglichst wahrheitsgetreuen Erfahrungsberichte reisender oder (zeitweise) emigrierter Landsleute angewiesen. Zu den deutschsprachigen Autoren solcher meist autobiographisch geprägter Schriften zählten der linksintellektuelle Publizist und Ökonom Alfons Goldschmidt sowie Karl I. Albrecht, der sich – soviel sei an dieser Stelle schon verraten – infolge seiner Erfahrungen in Sowjetrussland vom Kommunisten zum Nationalsozialisten wandelte.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Russlandbilder von Goldschmidt und Albrecht in einer vergleichenden Betrachtung gegenüberzustellen, auf Plausibilität zu überprüfen und hinsichtlich der Fragestellung, ob bzw. inwiefern die Zustände in der jungen Sowjetunion tatsächlich als „paradiesisch“ bezeichnet werden konnten, zu bewerten. Der jeweilige persönlich-historische Kontext soll dabei besondere Berücksichtigung finden.
1.2 Aufbau
Im folgenden Kapitel werden die behandelten Autoren anhand biographischer Eckdaten zunächst kurz vorgestellt. Dies erscheint angesichts der relativen Unbekanntheit notwendig und dient zudem einer ersten soziopolitischen Einordnung.
Die Ausführungen in Kapitel 3 gehen analysierend auf die Beobachtungen und Erfahrungen ein, die die Autoren während ihrer Aufenthalte in Sowjetrussland gemacht haben. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen vor allem Goldschmidts Reiseberichte („Moskau 1920“ bzw. „Wie ich Moskau wiederfand“ von 1925) und Albrechts Abrechnung unter dem Titel „Der verratene Sozialismus“.
Kapitel 4 dient dem reflektierenden Vergleich beider Autoren sowie der kritischen Beschau ihrer Publikationen und wagt den Versuch einer Einschätzung darüber, wie realistisch die jeweiligen Darstellungen sind. Resümierende Ausführungen leiten schließlich den Weg zur Beantwortung der Ausgangsfrage.
Die nachfolgende Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal in kompakter Form zusammen und endet mit einem Ausblick auf offene beziehungsweise weiterführende Fragestellungen, die im Rahmen künftiger Abhandlungen aufgegriffen werden könnten.
2 Über die Autoren
2.1 Alfons Goldschmidt
Alfons Goldschmidts Leben war – so lässt sich fast sagen – das eines Entdeckers und Abenteurers.[1] Geboren wurde er im Winter 1879 als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns zur Hochzeit der Industrialisierung im westfälischen Gelsenkirchen. Und hätte er „gegen seine Interessen und Einsichten [...] leben können, dann wäre ihm zumindest bis 1933 in Deutschland bürgerliche Wohlhabenheit beschieden gewesen“[2].
Goldschmidt studierte in München und Berlin zunächst Jura, was für den vielseitig Interessierten aber nicht die rechte Erfüllung war. Stattdessen besuchte er eine Vielzahl fachfremder Lehrveranstaltungen, unter anderem die Vorlesungen und Kollegs von Wilhelm Conrad Röntgen (Physik), Lujo Brentano (Ökonomie) oder Rudolf Virchow (Medizin).[3] Schließlich entschied sich Goldschmidt für ein Studium der Staatswissenschaften und wechselte dafür nach Freiburg/Breisgau, wo er sich mit den Werken von Marx und Tolstoi auseinandersetzte. Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1904.
Neben verschiedenen Tätigkeiten als Lehrer (Arbeiterbildungsschule Potsdam) bzw. Dozent (Universität Leipzig) in den Bereichen Wirtschaftspublizistik und Zeitungswesen war Goldschmidt auch selbst journalistisch aktiv. Beim Berliner Pressekonzern Ullstein hatte er eine dreijährige Anstellung als Leitender Handelsredakteur, ab 1917 bereicherte seine Mitarbeit unter dem Pseudonym Lorarius die Schaubühne / Weltbühne. Zudem war er Wirtschaftsjournalist bei der Tageszeitung Die Republik und Mitherausgeber der Räte-Zeitung.
Zwischen 1920 und 1925 unternahm Alfons Goldschmidt insgesamt drei Russlandreisen, um sich ein Bild vom Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zu machen. Daneben hielt er sich mehrfach in Lateinamerika auf, bekam einen Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften in Córdoba (Argentinien) und unterrichtete an der Universität in Mexiko-Stadt. Geprägt von seinen Auslandsaufenthalten[4] verstärkte der überzeugte Kommunist sein soziales Engagement, etwa durch die Mitbegründung der Künstlerhilfe für die Hungernden in Russland (1921) oder die Übernahme des Vorsitzes der deutschen Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe (1929).
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten blieb Goldschmidt 1933 nichts anderes übrig, als das Schicksal all der anderen jüdischen Intellektuellen zu teilen und in die USA zu emigrieren – drei Jahre darauf wurden seine deutschen Staatsbürgerrechte und bald auch der Doktortitel aberkannt. Auf Einladung der Regierung siedelte er 1939 endgültig nach Mexiko über, um beratend tätig zu sein, „die Einreise antifaschistischer Flüchtlinge aus Europa zu konzipieren“[5] und an zwei Universitäten zu lehren.
Alfons Goldschmidt starb im Januar 1940, vermutlich an Erschöpfung in Verbindung mit diversen Vorerkrankungen. Für seine Verdienste wurde ihm ein Staatsbegräbnis auf dem Friedhof Panteón Civil de Dolores in Mexiko-Stadt bereitet.
2.2 Karl I. Albrecht
Nicht minder spannend als der Lebensweg von Alfons Goldschmidt liest sich die Geschichte von Karl I. Albrecht, der im November 1897 als Karl Matthäus Löw in Weingarten (Württemberg) auf die Welt kam und unter bescheidenen Bedingungen – der Vater war Feldwebel und verstarb sehr früh – zusammen mit seinen Geschwistern bei der Mutter aufwuchs.[6]
Im Ersten Weltkrieg wurde Löw mehrfach verwundet, brachte es dennoch bis zum Vizefeldwebel und erhielt das Eiserne Kreuz. Danach schloss er sich den Freikorps an und kämpfte aktiv an deren Seite, sympathisierte insgeheim jedoch mit den Spartakisten. Dies erklärt, warum sich der junge Freikorps-Offizier über eine Anweisung hinwegsetzte, die die Erschießung von gefangen genommenen Aufständischen bei inszenierten Fluchtversuchen vorsah. Auf diese Weise rettete er Willi Münzenberg und anderen Kommunisten das Leben.
Auf Münzenbergs und Clara Zetkins Empfehlung hin ging der mittlerweile zum Förster ausgebildete und der KPD beigetretene Löw Ende 1924 als Forst- und Holzspezialist in die Sowjetunion, wo er sich den Namen Karl I. Albrecht gab.[7] Schnell wurde er zu einem leitenden Staats- und Parteifunktionär, der neben seiner Zuständigkeit für Forstwirtschaft und Holzbearbeitungsindustrie (eine Befehlsbefugnis zur Ankurbelung der Holzproduktion kam direkt von Stalin und Molotow) auch damit betraut war, sich um die Zusammenfassung sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen der in der Sowjetunion weilenden Ausländer zu kümmern.
1932 wurde Albrecht von der sowjetischen Geheimpolizei GPU unter dem Vorwurf der Spionage bzw. Sabotage verhaftet, zum Tode verurteilt und begnadigt. Zwei Jahre darauf erfolgte die Abschiebung nach Deutschland, wo er einige Monate von den Nazis interniert wurde. Nach Albrechts Rückkehr aus dem selbst gewählten Schweizer Exil im Jahre 1938 brachte das nationalsozialistische Antikomintern-Büro in Zusammenarbeit mit dem Nibelungen-Verlag seine dort verfassten Memoiren („Der verratene Sozialismus“) heraus, die eine Gesamtauflage von zwei Millionen Exemplaren erreichten. Fortan engagierte er sich als Redner und Wachtmeister in der nationalsozialistischen Propaganda, die von Antisemitismus und Antibolschewismus durchdrungen war.
Zwischen 1945 und 1947 war Albrecht in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Danach trat er für eine christlich fundierte Ost-West-Verständigung ein („Moralische Aufrüstung“). Albrecht verstarb im August 1969 in Tübingen.
[...]
[1] Sofern nicht anders angegeben beziehen sich alle nachfolgenden biographischen Angaben auf den Eintrag zu Alfons Goldschmidt in: Gödden, Walther / Nölle-Hornkamp, Iris: Westfälisches Autorenlexikon, Bd. 3: 1850 bis 1900, Paderborn 1997, S. 200-202.
[2] Kießling, Wolfgang: Ein Zeitzeugnis und sein Verfasser werden betrachtet. In: Goldschmidt, Alfons: Moskau 1920. Tagebuchblätter. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Kießling, Berlin 1987, S. 10.
[3] Vgl. ebd., S. 10f.
[4] Für eine Auswahl der von Goldschmidt verfassten Reiseberichte vgl. Goldschmidt, Alfons: Große Liebe – weite Welt oder Zwischen Rio und Moskwa. Reise- und Zeitbilder 1920-1940, herausgegeben von Ruth Greuner, Berlin 1974.
[5] Kießling (1987), S. 80.
[6] Bzgl. dieser und nachfolgender Ausführungen zu Albrechts Biographie vgl. Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991, S. 349 sowie O.A.: Im Zickzack durch die Zeit. In: Die Zeit, 37/1988, unter: http://www.zeit.de/1988/37/im-zickzack-durch-die-zeit (abgerufen am 10.09.2011).
[7] Das I steht dabei für Iwanowitsch bzw. Iwan, angelehnt an den Vornamen seines Vaters Johann. Als Grund für die Änderung des Nachnamens vermutet der Autor des Zeit-Artikels, dass der Anschein vermieden werden sollte ein Jude zu sein. Löw bzw. Albrecht war demnach ein krasser Antisemit.