Zäsurbedarf und Epochenillusionen

Zum Phänomen des alltäglichen Chronozentrismus


Essay, 2012

18 Seiten


Leseprobe


I. VORBEMERKUNG

In den Medien sind wir heutzutage einem pausenlosen Feuerwerk von Aussagen und Formulierungen einer bestimmten Machart ausgesetzt, von denen ich einleitend einige zwar nicht wörtliche, aber dennoch exemplarische Kostproben geben möchte: „Wir befinden uns in einer geschichtlichen Umbruchsituation, die der zum Zeitpunkt der Industrialisierung entspricht.“ „Unsere westlichen Gesellschaften werden bald hoffnungslos zusammenbrechen, wenn wir uns jetzt nicht an gemeinsam geteilten und verbindlichen Wertstandards orientieren.“ „Es ist 5 vor 12, die Klimakatastrophe kommt gewiss, die Polklappen schmelzen dahin!“ „ Ohne die jetzt einzuleitende Energiewende, machen wir diesen Planeten kaputt!“ “ Wir erleben gerade den Übergang von einer bipolaren zu einer multipolaren Weltgesellschaft, die weniger friedlich sein wird.“ „ Die kulturelle Moderne hat sich erschöpft, wir spielen nur noch mit ihren Beständen.“ „Wir befinden uns auf dem Weg zu einer globalisierten Welt, in der alleine die turbo-kapitalistischen Finanzhaie unser Schicksal bestimmen!“ „ Im Unterschied zum unangepassten Impetus der früheren Jugendgenerationen, macht sich die gegenwärtige Generation nur Gedanken über ihre materielle Versorgung.“ „Unsere Gesellschaft stirbt aus“.

Die Vielzahl solcher Aussagen, welche die Besonderheit einer behaupteten Zäsur, das Katastrophische einer unterstellten Veränderung und die exklusive Zeitzeugenschaft einer beobachteten Umbruchsituation ausdrücken sind Legende, deren Auflistung könnte seitenweise fortgesetzt werden. Mit dieser exemplarischen Aneinanderreihung soll zunächst nicht die Faktizität oder Plausibilität der Aussagen angesprochen werden, darauf kommt es hier nicht an. Vielmehr soll damit verdeutlicht werden, dass wir offensichtlich eine unwiderstehliche Bereitschaft, ein Bedürfnis für die Wahrnehmung und Entdeckung von Zäsuren, Umbrüchen, Zuspitzungen des Zeitlichen, nach historisch Außergewöhnlichem mit einem Hauch von Endzeit zu verspüren scheinen, wenn man die öffentlichen Diskurse der letzten Jahrzehnte Revue passieren lässt. Aber dies trifft evidenterweise nicht nur für die zeitgenössischen Gesellschaften zu. Wahrscheinlich gehört das ordnende Zeitbewusstsein generell zum Menschen. Sogar bei archaischen Gesellschaften werden Zeit- resp. Epochenabschnitte erlebt, beispielweise über den mythologisch erwarteten bzw. kulturell antizipierten Kontakt mit invasiv-bedrohlichen göttlichen Wesen, wie dies bei diversen Südsee-Kulturen oder präkolumbianischen mittelamerikanischen Zivilisationen festgestellt wurde.

Spätestens seit in menschlichen Gesellschaften Betrachtungen über vergangene Ereignisse und Begebenheiten angestellt und in schriftlicher Form zeitlich zurückliegende Entwicklungen von beruflichen Experten reflektiert werden, um so mehr lässt sich feststellen, dass diese Gesellschaften auch spezifische Formen der kollektiven Erinnerung und der Selbstvergewisserung zum Zweck ihrer Eigen-Verortung im Strom der vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse entwickeln. In hochkulturellen Zivilisationen wie der Antike entstand ein ausgeprägtes selbstreflexives Epochenbewusstsein, das von einer Intellektuellenschicht und den Gebildeten getragen wurde. Es gab eine berühmte und vielfältige Historikerzunft, Herodot, Thukydides, Tacitus, Cato und Titus Livius, um nur einige zu nennen, die ein differenziertes Zeitbewusstsein im Sinne einer zeitlichen Verortung menschlicher Erfahrung in der triadischen Verkopplung von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsprojektion pflegten Die Ereignisse anhand derer eine Zeitgliederung erfolgte, betrafen beispielsweise in der römischen Antike wichtige Sachverhalte wie z. B. die Eroberungen neuer Provinzen, der Wechsel der Herrschaftsformen, die Regentschaft von Kaisern, kriegerische Auseinandersetzungen usw. Im Vergleich zu den heutigen Beschleunigungsprozessoren von Gesellschaft und Kultur, mutet wahrscheinlich das Geschichts- und. Epochenbewusstsein der Antike eher als relativ statisch an. Die Frage ist, worauf sich dieses dynamische Epochenbewusstsein bezieht, woraus es sich speist, wodurch diese Intensivierung des Zäsurbedarfs verständlich gemacht werden kann und in welcher Weise mit diesem Phänomen umgegangen wird.

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Details

Titel
Zäsurbedarf und Epochenillusionen
Untertitel
Zum Phänomen des alltäglichen Chronozentrismus
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V203760
ISBN (eBook)
9783656299370
ISBN (Buch)
9783656299868
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zäsurbedarf Chronozentrismus Epochenbewusstsein Epochenillusion
Arbeit zitieren
Diplom-Soziologe, Dr. phil. Michael Seifert (Autor:in), 2012, Zäsurbedarf und Epochenillusionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203760

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