Das betrogene Volk und seine Darstellung in ausgewählten Texten Georg Büchners


Estudio Científico, 2012

26 Páginas


Extracto


Einführende Überlegungen

Während seines kurzen Lebens fühlte sich der Schriftsteller, Mediziner und Naturwissenschaftler Dr. phil. Georg Büchner (17. Oktober 1813 - 19. Februar 1837), Sohn des angesehenen Darmstädter Medizinalrats Ernst Karl Büchner (1786 – 1861) und dessen Frau Caroline Louise, geb. Reuß (1791 – 1858), stets dem einfachen Volk verbunden. Dies gilt sowohl für die überwiegend bäuerliche Bevölkerung seiner Heimat, dem Großherzogtum Hessen, als auch gegenüber den unterdrückten Volksmassen aller anderen Regionen im Deutschland seiner Zeit, sowie gegenüber der französischen Bevölkerung, mit deren Lebensverhältnissen er während seiner Aufenthalte in Straßburg (1831 – 1833 und März 1835 bis Oktober 1836) und durch seine historischen Studien – insbesondere seine intensive Auseinandersetzung mit der französischen Revolution – vertraut geworden war.

Eine Beschäftigung mit der Thematik des „betrogenen Volkes“ (eine Formulierung aus dem „Hessischen Landboten“ von 1834) im Sinne Büchners setzt voraus, dass man sich vergegenwärtigt, welche bedeutende Rolle diese Verbundenheit mit dem einfachen Volk in seinem Leben, seinen politischen Aktivitäten und seiner schriftstellerischen Arbeit gespielt hat. Es erweist sich deswegen von großem Vorteil, wenn man sich auf Spurensuche begibt und die schriftlichen Dokumente, die Büchner in Form von Briefen, Traktaten, literarischen Texten oder sonstigen Publikationen der Nachwelt hinterlassen hat, diesbezüglich einer Überprüfung unterzieht. Ein solcher Versuch wird mit dieser Arbeit unternommen, wobei sich die Auswahl sinnvollerweise auf besonders aussagekräftige Schriftstücke beschränkt. Die Untersuchung konzentriert sich daher auf folgende Texte:

1. Büchners Schriftverkehr mit seiner Familie, seinen Freunden, seinen Förderern und politischen Gefährten,
2. seine sozialrevolutionäre Kampfschrift „Der Hessische Landbote“ und
3. sein Revolutionsdrama „Dantons Tod“.

Georg Büchner und die politischen Verhältnisse seiner Zeit

Die Juli-Revolution von 1830 in Frankreich

Nach dem endgültigen Sieg über Napoleon wurden auf dem Wiener Kongress von 1814/15 die politischen Strukturen in den europäischen Staaten neu geordnet. Dies geschah im Sinne einer politischen Restauration durch die Wiederherstellung vorrevolutionärer Verhältnisse. Von 1815 bis 1830 kehrten in Frankreich mit Ludwig XVIII (1815 – 1824) und Karl X (1824 – 1830) die Bourbonen auf den Thron zurück. Nach dem Juli-Aufstand von 1830, der vorwiegend von Arbeitern, Kleinbürgern, Studenten und fortschrittlich denkenden Intellektuellen getragen wurde, etablierte sich mit Unterstützung einflussreicher Bankiers und Fabrikanten Louis-Philippe als „Bürgerkönig“. Damit verschaffte sich im Unterschied zu den vorrevolutionären feudalen Grundbesitzern das wirtschaftlich erstarkte Großbürgertum gesellschaftliche Macht und Ansehen. Diese Entwicklung verschärfte die sozialen und politischen Gegensätze erheblich. Viele Pariser Arbeiter betrachteten sich als Betrogene der Juli-Revolution und verbündeten sich in den folgenden Jahren mit Handwerkern, Ladenbesitzern und sympathisierenden Intellektuellen gegen das regierende Bürgerkönigtum. Ihre Aufstände wurden aber 1834 endgültig niedergeschlagen.

Büchner in Straßburg (1831 – 1833)

Während seines ersten Straßburger Aufenthaltes erlebte Georg Büchner diese vergeblichen Anstrengungen als eine Serie von entmutigenden Rückschlägen gewissermaßen hautnah mit. Seine Briefe aus dieser Zeit sind beeindruckende Zeugnisse seiner Anteilnahme und Auseinandersetzung mit diesen Vorgängen. Die fortschrittlichen Ideen, mit denen er als Student der Medizin in Straßburg bekannt wurde, beeinflussten sein Denken und förderten seine politische Handlungsbereitschaft. Von der Straßburger „Société des Droits de l’Homme et du Citoyen“ war Büchner tief beeindruckt. Nach ihrem Vorbild gründete er später in Gießen und in Darmstadt eine geheime „Gesellschaft der Menschenrechte“, deren militante Parolen („Krieg gegen die Reichen“ und „Alles Vermögen ist Gemeingut“) Ausdruck ihrer radikalen Gesinnung waren.

Vorkämpfer für eine gerechtere Gesellschaftsordnung

Im Laufe der Zeit bekannte Büchner sich immer stärker zu der Notwendigkeit einer grundlegenden, auch gewaltsamen, Veränderung der politischen Verhältnisse und verstand sich als revolutionärer Vorkämpfer für eine Gesellschaft, die die materiellen Bedürfnisse der notleidenden arbeitenden Bevölkerung zu ihrem Hauptanliegen machte. Er war der Auffassung, dass nur ein revolutionärer Kampf für die elementaren Belange der großen Masse eine wirkliche Veränderung der Verhältnisse herbeiführen könne. Damit grenzte er sich deutlich von bürgerlich-liberalen Forderungen ab, die sich seiner Meinung nach mit zweitrangigen Fragen wie Verfassung, Regierungsform, Rede- und Pressefreiheit beschäftigten. In dieser Hinsicht unterschied er sich auch deutlich von den Vertretern der literarischen Oppositionsbewegung „Junges Deutschland“, die sich für religiöse Toleranz, Pressefreiheit, Gleichheit der Bürger und Recht auf Bildung in einem liberalen Staat einsetzten.

Deterministische Geschichtsauffassung und revolutionärer Veränderungswille

Aus dem scheinbar unauflöslichen Gegensatz zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen in der Gesellschaft seiner Zeit entwickelte Büchner Maßstäbe für ein radikales Umdenken. Geprägt durch seine intensive Beschäftigung mit der französischen Revolution, erkannte er das objektive Wirken eines „ehernen Gesetzes“ (Brief an seine Braut Minna Jaeglé aus Gießen im Januar 1834; BW 30), nach dem die Geschichte als unaufhaltsamer, zwangsläufiger Prozess abläuft, der vom Einzelnen nicht beeinflusst werden kann. Mit dieser deterministischen Geschichtsauffassung setzte er sich zugleich in scharfen Gegensatz zu einem idealistischen Geschichtsoptimismus, demzufolge die Geschichte (gemäß der Figur des Schillerschen Wallenstein) von einzigartigen, genialen Persönlichkeiten mit überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten gestaltet wird. [1] Obwohl dieser Brief deutliche Züge einer fatalistisch gestimmten, resignativen Haltung in Bezug auf den Ablauf geschichtlicher Prozesse aufweist, war Büchner von einem revolutionären Veränderungswillen beseelt. Er wurde nicht müde, die seiner Meinung nach unmenschliche Kehrseite der Wirklichkeit als Irrweg anzuprangern [2] und für die von ihm als absolut notwendig erkannte Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zu kämpfen. Sein Standort war auf der Seite der Besitzlosen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten, d. h. des einfachen Volkes, dem er durch sein Schreiben und Agitieren Stimme verleihen und das er in seinem Selbstbehauptungswillen stärken wollte.

Die politischen Verhältnisse in Deutschland

In Deutschland waren die Verhältnisse keineswegs besser. Auch hier setzten sich restaurative Maßnahmen in der Politik durch. Im 1815 gegründeten Deutschen Bund wurden rund zehn Jahre nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches 39 Einzelstaaten zusammengefasst, die durch 35 Fürsten im Frankfurter Bundestag vertreten waren. Die politische Zersplitterung innerhalb Deutschlands blieb somit weiterhin bestehen. Im gleichen Jahr schlossen sich die Monarchen Russlands, Österreichs und Preußens zur „Heiligen Allianz“ zusammen mit dem Ziel, nationale und freiheitliche Bestrebungen im Volk zu unterdrücken und die neu geschaffene Ordnung gegen revolutionäre Aufstände zu schützen. Auf ihrem Wartburgfest versammelten sich 1817 deutsche Studenten unter dem Wahlspruch “Ehre, Freiheit, Vaterland“ und vereinigten sich im Jahr darauf zur Deutschen Burschenschaft. Der politisch motivierte Mord eines Studenten an August von Kotzebue im März 1819 lieferte dem österreichischen Außenminister und Staatskanzler Fürst Metternich einen willkommenen Vorwand, um mit den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819 scharfe Maßnahmen gegen nationale und liberale Bewegungen – insbesondere innerhalb der Studentenschaft – zu ergreifen.

Unterdrückung oppositioneller Bewegungen

Mit dem Verbot der Burschenschaften, der Einführung einer strengen Pressezensur und Einschränkungen der Meinungsfreiheit versuchte man, jede oppositionelle Regung im Keim zu ersticken. Männer wie Ernst Moritz Arndt, Fritz Reuter und Friedrich Ludwig Jahn wurden als Volksverführer und Demagogen verfolgt, eingekerkert und mit dem Tode bedroht. Mitglieder der literarischen Oppositionsbewegung „Junges Deutschland“ wie Heinrich Laube und Karl Gutzkow wurden mit Gefängnis bestraft. Universitäten

unterlagen besonderer Überwachung. Unbequeme Hochschullehrer, die zu ihren demokratischen Grundüberzeugungen standen, wie Wilhelm von Humboldt und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, wurden ihrer Lehrämter enthoben. Viele engagierte junge Schriftsteller, die sich für Freiheit und Fortschritt einsetzten – wie Heinrich Heine, Ludwig Börne und auch Georg Büchner – sahen sich unter dem Druck der Verhältnisse gezwungen, Deutschland zu verlassen oder gingen daran zugrunde, wie Christian Dietrich Grabbe, der mit Büchner zu den bedeutendsten Dramatikern des Vormärz und wichtigen Wegbereitern des modernen Dramas gehört.

Protestaktionen und Aufstände

Es herrschte unter der akademischen Lehrerschaft und den Vertretern der Intelligenz eine weit verbreitete Atmosphäre der Verunsicherung und des Misstrauens. Es gelang ihnen nicht, ihre weltanschaulichen und politischen Überzeugungen in einem einheitlichen Programm zu bündeln und die Massen der Arbeiterschaft hinter sich zu bringen. So kam es in der arbeitenden Bevölkerung – vor allem unter dem Eindruck der Pariser Juli-Revolution von 1830 – nur zu vereinzelten spontanen Erhebungen, wie der Sturm auf die Frankfurter Hauptwache am 2. April 1833. Auf dem Lande gab es auch einige Aufstände, zumeist von hungernden Bauern und Handwerkern, die jedoch lokal begrenzt waren und niedergeschlagen wurden, wie der Aufstand der oberhessischen Bauern bei dem Dorf Södel im September 1830, der Georg Büchner in seiner revolutionären Haltung stark beeinflusst hat.

Die politischen Verhältnisse in Büchners Heimatland Hessen

Unter allen deutschen Kleinstaaten dieser Zeit galt das Großherzogtum Hessen als einer der reaktionärsten. Es war ein Agrarstaat mit einer Bevölkerung, die neben Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden überwiegend aus Bauern bestand und in dem es aufgrund der sich erst später entwickelnden Industrie kein Proletariat in nennenswerter Größenordnung gab. [3] Der gesamte Staatshaushalt, der herzogliche Hofstaat, der Beamtenapparat und das Militär, wurde durch die den Bauern aufgebürdete Besteuerung finanziert. Die Einführung einer Ständeverfassung im Jahre 1820 brachte dem Volk durch die restriktive Handhabung des Wahlrechts im Landtag keine wirklichen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Die der Regierung lästige zweite Kammer, in der vorwiegend Mitglieder des besitzenden Bürgertums vertreten waren, wurde im Oktober 1834 durch die Auflösung des Landtages neutralisiert. Unter dem Druck der Abgaben und Belastungen kam es zu einer größeren Verarmung des Landes und vor allem zu einer unerträglichen Verelendung der ländlichen Bevölkerung. Durch die restaurativen und repressiven Maßnahmen der Metternich-treuen Landesregierung unter Großherzog Ludwig II [4] kristallisierte sich ein reaktionäres System heraus, dessen erbarmungslosen Unterdrückungsmechanismus Wilhelm Grimm in folgenden Worten beschrieb: „Jeder Widerspruch gegen den geäußerten Willen des Landesherren, direkt oder indirekt ausgesprochen, ... [ist] ein Verbrechen.“ (Poschmann: Einleitung XVI) Auf dem Hintergrund der Tatsache, dass unter der Herrschaft Napoleons aus dem benachbarten Frankreich Ansätze zu einer gerechteren sozialen und politischen Ordnung – u. a. durch ein bürgerliches Gesetzbuch, den „Code civil“ – auch ins Land

Hessen Eingang gefunden hatten, stellte die despotische Handhabung der Regierungsgewalt durch den Großherzog einen groben Anachronismus dar.

Freundschaft mit Gleichgesinnten und Verlobung

Den jungen Georg Büchner ließen derartige Vorgänge schon als Schüler in Darmstadt keinesfalls kalt. Die politische Zurückhaltung seines Vaters, der in der Residenzstadt als Medizinalrat ein hoch angesehener Bürger war, teilte er nicht. Als Student der Medizin in Straßburg von 1831 bis 1833 – die einzige Zeit seines Lebens, die er selbst als „glücklich“ bezeichnete (vgl. Poschmann: Einleitung XIX) – schloss er Freundschaften mit gleichgesinnten jungen Männern und verliebte sich in Wilhelmine (Minna) Jaeglé, die Tochter des protestantischen Pfarrers Johann Christoph Jaeglé, in dessen Hause er damals wohnte. Jedoch musste er im Juli 1833 ins Großherzogtum Hessen zurückkehren und schrieb sich im Oktober des Jahres an der Landesuniversität in Gießen ein. [5]

Sozialrevolutionäres Engagement und politische Agitation

Bald nach Wiederaufnahme seines Studiums schloss Büchner sich oppositionellen Gruppierungen an und beteiligte sich mit Wort und Tat an sozialrevolutionären Aktivitäten. Er betrachtete sich als Revolutionär [6], der sich vehement für die Veränderung der Lebensverhältnisse des einfachen Volkes einsetzte. Seine revolutionäre Grundhaltung offenbart sich u. a. in seinen Briefen an seine Eltern, seinen jüngeren Bruder Wilhelm, seine Verlobte Minna Jaeglé, Freunde und Gesinnungsgenossen, sowie an den Literaturredakteur Karl Gutzkow. Gemäß seiner Überzeugung, dass eine Revolution von den Massen des Volkes getragen sein müsse, verfasste er 1834 die Flugschrift „Der Hessische Landbote“, ein frühes Beispiel politischer Agitationsliteratur, vergleichbar den Schriften Thomas Müntzers oder dem „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx. Damit richtete er einen glühenden Appell an das Landvolk im Großherzogtum Hessen in der Absicht, es zu einem Befreiungskampf aus Unterdrückung und Knechtschaft aufzurufen. Nach seiner intensiven Beschäftigung mit der französischen Revolution (vgl. den „Fatalismus“-Brief an seine Braut vom Januar 1834: „Ich studierte die Geschichte der Revolution.“) und wegen seiner revolutionären Flugschrift in Gefahr, jederzeit verhaftet zu werden, verfasste er sein einziges zu seinen Lebzeiten in Buchform erschienenes Werk „Dantons Tod“ [7], in dem das Volk – wie noch zu zeigen sein wird – eine ganz besondere Rolle spielt.

Die genannten Schriften stellen wichtige Dokumente für denjenigen dar, der auf Spurensuche geht, um herauszufinden, welche Bedeutung Georg Büchner dem notleidenden arbeitenden Volk im revolutionären Kampf für die Verbesserung seiner Lebensverhältnisse zubilligte. Er war überzeugt, dass diese Veränderungen nicht von den geschichtsgestaltenden Figuren vom Zuschnitt Friedrich Schillers kommen konnten, die auf den Sockel bedeutender Männer gehoben wurden, sondern durch eine Revolution von unten, die von den breiten Massen des Volkes getragen wird, obwohl es ihm nicht gelang, den dialektischen Widerspruch, der dieser Haltung innewohnt, aufzulösen.

[...]

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Detalles

Título
Das betrogene Volk und seine Darstellung in ausgewählten Texten Georg Büchners
Universidad
University of Hannover  (Philosophische Fakultät)
Autor
Año
2012
Páginas
26
No. de catálogo
V204399
ISBN (Ebook)
9783656304920
ISBN (Libro)
9783656306955
Tamaño de fichero
484 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
volk, darstellung, texten, georg, büchners
Citar trabajo
Hans-Georg Wendland (Autor), 2012, Das betrogene Volk und seine Darstellung in ausgewählten Texten Georg Büchners, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204399

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