Kritische Analyse des Chansons "Les Flamandes" von Jacques Brel unter besonderer Berücksichtigung der Genrespezifika des französischen Chansons des 20. Jahrhunderts


Dossier / Travail de Séminaire, 2010

24 Pages, Note: 1,3

Lucius Burgess (Auteur)


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Gattungsbestimmung des Chansons
- Die textliche Ebene
- Die Form
- Die inhaltliche Ebene
- Die musikalische Ebene
- DieEbene derlnterpretation
- Zusammenfassung desersten Kapitels

Kritische Analyse des Chansons Les Flamandes von Jacques Brel
- Zusammenfassung des zweiten Kapitels

Resumee

Appendix

Quellen

1. Einleitung

Mit Les Flamandes veroffentlichte der Auteur-Compositeur-Interprete Jacques Brel 1958/59 ein Chanson, das, wegen der darin geubten scharfen Sozialkritik an der flamischen Kultur, fur groGe Verargerung bei den Betroffenen, aber auch bei AuGenstehenden sorgte - eine Verargerung, die sich unter anderem in der Presse niederschlug und sogar dazu fuhrte, dass Brel in Flandern zur persona non grata erklart wurde1. Ganz offensichtlich wird das Chanson als Gattung ernst genug genommen, um auch in politischen und intellektuellen Kreisen Beachtung zu finden. Nichtsdestotrotz hat sich die Literaturwissenschaft bisher nur peripher mit dem Chanson beschaftigt, was nicht zuletzt darauf zuruckzufuhren ist, dass der Kunstcharakter der Gattung immer wieder in Frage gestellt wurde und wird. Brel selbst leistete dieser Tendenz Vorschub, wenn er es ablehnte, seinen Chansons irgendeinen lyrischen Wert zuzuerkennen2. Da die Chansonsprache also hochsten kunstlerischen Anspruchen nicht genugen kann - so konnte gefolgert werden - tangiert es die Literaturwissenschaft nicht. Dieser Annahme liegt der Irrtum zugrunde, dass das Chanson auf rein sprachlicher Ebene funktioniere und sich daher mit moderner Lyrik oder ahnlichen Gattungen messen konnen musse. Tatsachlich jedoch besteht die Besonderheit des Chansons gerade darin, dass es mehrere Ausdrucksmoglichkeiten gleichzeitig integriert. Erst im Zusammenspiel von Text, Musik und Buhnendarbietung kann es seine volle Bedeutung und kunstlerische Kraft entfalten.

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, wie dieses Zusammenspiel funktioniert und wie mit seiner Hilfe Bedeutung im Allgemeinen und Gesellschaftskritik im Besonderen transportiert werden konnen. Auf der Grundlage einer umfassenden Gattungsbestimmung des Chansons werden im zweiten Kapitel die Interdependenzen der einzelnen konstitutiven Gattungselemente mithilfe von Brels Les Flamandes exemplifiziert und erlautert werden.

2. Gattungsbestimmung des Chansons

Allen weiteren Ausfuhrungen soil an dieser Stelle zunachst eine Gattungsbeschreibung des Chansons vorangestellt werden, da sie wichtige Ansatze zu einer wissenschaftlichen Betrachtung dieses Mediums liefert. Zudem stellt sie wertvolle Informationen uber die Art der Rezeption des Chansons sowie uber sein Publikum und damit auch uber seinen Wirkungskreis bereit. Es wird sich dabei zeigen, dass eine solche Definition nicht unproblematisch ist. Die Fulle der qualitativ teilweise stark divergierenden Lieder, die gemeinhin unter dem Begriff Chanson subsumiert werden, ist so groR, dass es auf den ersten Blick schwer fallt, eine zufriedenstellende Begriffsbestimmung zu finden. Um dieses Problem zu vermeiden, werden wir uns im Folgenden auf das moderne literarische Chanson beschranken.

Das Chanson ist grundsatzlich fur den Einzelvortrag bestimmt. Daneben ist als wesentliches, das Chanson von vergleichbaren anderen Kunstgattungen unterscheidendes, Merkmal die Korrelation der drei Elemente Text, Musik und Interpretation anzufuhren. MATHIS deutet das Chanson daher als qualitativ interdisziplinare Kunstform, in der „Text, Musik und Vortrag als in der Art des Interplay sich durchdringende Bereiche zu sehen"3 seien. Im Unterschied zur quantitativ interdisziplinaren Kunst, mit der etwa die vertonten lyrischen Texte Jacques Preverts zu beschreiben sind, mussen im Falle des Chansons die einzelnen konstitutiven Elemente als sinngebende Teile betrachtet werden, die sich im Zusammenspiel zu einer Gesamtaussage fugen. Auf wissenschaftlicher Ebene ergibt sich daraus, dass „der Einzelanalyse einer der drei Organisationsstrukturen stets eine integrierende Zusammenschau zu folgen"4 hat.

Ausgehend von dieser sehr allgemein gehaltenen ersten Wesensbestimmung des Chansons sollen nun die Komponenten Text, Musik und Interpretation, wie wir sie im Chanson vorfinden, einzeln beschrieben werden.

2.1. Die textliche Ebene

2.1.1. Die Form

Der Kern eines jeden literarischen Chansons ist zweifelsohne sein Text5. So verwundert es wenig, dass immer wieder, etwa im Verlag Pierre Seghers, ausgewahlte Texte von Chanson- Autoren veroffentlicht und mit groRem Erfolg verkauft werden6. „Dieser Sachverhalt", so folgert LINDNER, „legt es nahe, das Chanson auch unter seinem sprachlich-textuellen Aspekt zu untersuchen"7. Eine solche Untersuchung, wie MATHIS, LINDNER, WEINRICH und viele andere sie angestellt haben, legt zahlreiche Parallelen zu (anderen) literarischen Gattungen wie etwa der des lyrischen Gedichts frei. Tatsachlich hat das Chanson mit dem Gedicht eine gewisse Poetizitat gemeinsam. Allerdings ist zu vermerken, dass Abweichungen von der Normalsprache im Chanson in vielen Fallen eine andere Funktion haben als im Gedicht. So erfullt die Metapher, wenn sie im Chanson erscheint8, weniger den Zweck, Sachverhalte poetisch zu verschlusseln9, als vielmehr den, Inhalte zu verdeutlichen oder zu unterstreichen. Dieses Phanomen liegt in der Eigenschaft des Chansons begrundet, dass dieses fur den mundlichen Vortrag ausgelegt ist - das Chanson wird gehort und nicht gelesen. Daraus ergibt sich fur den Auteur-Compositeur-Interprete die Aufgabe, sein Chanson so zu strukturieren, dass es trotz des anzunehmenden „schwankenden Konzentrationspegel[s]"10 des Horers verstanden wird. Noch vor der Metapher ist die Redundanz in all ihren Erscheinungsformen das wohl am ausgiebigsten genutzte Mittel, um der besonderen Kommunikationssituation beim Chansonvortrag gerecht zu werden.

Redundanz kann zum Beispiel als Geminatio, als Reduplicatio oder als Anapher auftreten, wobei letztere „die weitaus hochste Frequenz aufzuweisen [hat]."11

Zu den typischen Stilmitteln, derer sich sowohl die Gedicht- als auch die Chansonsprache bedienen, zahlen weiterhin der Endreim, der „geradezu als eines der ausnahmslosesten Gattungsmerkmale des Chansons gelten"12 kann, sowie die Metrik. Jedoch unterscheidet sich die metrische Struktur des Chansons haufig von der des Gedichts. Sie ist meist nicht mehr silbenzahlend, sondern orientiert sich, basierend auf den Elementen der Tonhebungen und des Reims, vielmehr am „Vers furs Ohr". Diese Art des Verses gehort damit einem Verstypus an, dessen „Rhythmus unter Missachtung der Tonsenkungen ausschlieRlich auf den Tonhebungen beruht."13

Wahrend das (traditionelle) Gedicht und das Chanson bezuglich der Metapher, der Metrik und des Reims durchaus eine Verwandtschaft erkennen lassen, so gilt dies fur den Bereich der Syntax nicht. Indem das Chanson die in der Alltagssprache gebrauchliche Normalsyntax kaum durchbricht, steht sie, wie die Metapher, im Zeichen der Kommunizierbarkeit. Ahnliches lasst sich auch uber die Auswahl des lexikalischen Materials sagen. Es „ist im wesentlichen [...] der Umgangssprache entnommen"14 und mit gelegentlichen Raritaten, Archaismen und Neologismen angereichert. Auch Kolloquialismen und Argot-Ausdrucke finden Einzug in das Chanson, wobei diese in Opposition zu „traditionell poetischem und mythologischem Wortschatz"15 treten und auf diese Weise ein Poetisierung und Literarisierung erfahren konnen16.

Ein grundlegendes formales Strukturmerkmal des Chansons, welches bisher noch unberucksichtigt blieb, ist die „auRere Gliederung in Strophe und Refrain"17, die LINDNER auf den Liedcharakter des Chansons zuruckfuhrt. Damit ist hier ein Bereich angesprochen, in dem das Chanson mit dem Schlager ubereinzustimmen scheint. Jedoch weist LINDNER darauf hin, dass das Couplet gegenuber dem Refrain im Chanson eine deutlich gewichtigere Rolle spielt als im Schlager, „was das Chanson zur Entwicklung kurzer narrativer oder lyrischer Strukturen befahigt"18.

Nachdem wir uns bisher nur auf formale Merkmale des Chansontextes bezogen haben, sollen nun inhaltliche Aspekte beleuchtet werden.

2.1.2. Die inhaltliche Ebene

Wir haben bisher uber die zentrale Bedeutung der paroles im Chanson gesprochen, ohne dabei auf die implizierte Tatsache, dass das Chanson etwas sagen will, naher einzugehen.

Mit der Ausrichtung des Chansons auf Informationsvermittlung19 und auf eine (mehr oder weniger) aktive Rezeptionshaltung20 beim Horer unterscheidet es sich grundlegend vom Schlager, der seine Aufgabe vornehmlich in der Unterhaltung und Zerstreuung eines zumeist passiven Horers sieht. Das Chanson will nicht wie der Schlager „die Realitat des Lebens vergessen machen"21, sondern die Welt mit all ihren Facetten widerspiegeln und damit das Bewusstsein des Horers verandern22. Das sich daraus ergebende kritische Potential erhalt besonderes Gewicht durch das Faktum, dass es sich beim Chanson um ein Medium handelt, mit dessen Hilfe auch „der literarisch kaum gebildete[...], wenig lesefreudige Frangais moyen" 23 erreicht werden kann. Vor diesem Hintergrund reflektiert das Chanson zum Beispiel den Tod und das Altern oder den Alltag des Menschen in der modernen Arbeitswelt und entfaltet so mitunter komplexen philosophischen Stoff24, ohne jemals den Anspruch auf Kommunizierbarkeit aus den Augen zu verlieren, denn in ihr liegt der Schlussel zu einem breiten Publikum. Lyriker wie Paul Fort, Raymond Queneau, Sartre, Aragon und Prevert haben diese Moglichkeit erkannt und schrieben selber Chansons25.

Die bereits angedeutete Wirklichkeitsnahe des Chansons tritt besonders deutlich in Liebesliedern hervor. Anders als im Schlager wird die Liebe im Chanson nicht nur von der leidenschaftlichen Seite, sondern auch „mit all ihren aggressiven, alltaglichen und schmerzlichen Eigenschaften [...] prasentiert."26 Damit wirkt es idealisierten Vorstellungen von der Liebe entgegen und ubt indirekt Kritik an traditionellen Normen und Wertevorstellungen.

[...]


1 Vgl. TINKER, Chris: George Brassens and Jacques Brel. Personal and Social Narratives in Post­War Chanson, S. 149f.

2 Vgl. BREL, Jacques: Derzivilisierte Affe. (mit e. Kontext von Jean Clouzet. aus d. Franz. v. Heinz Riedel), S.7.

3 MATHIS, Ursula: Existentialismus und franzosisches Chanson, S. 31. Im Unterschied zu nur quantitativ interdisziplinaren Kunstformen besteht zwischen den einzelnen Komponenten des Chansons eine regelrechte Interdependenz. Bedeutung entsteht also erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche. Die musikalische Untermalung eines Gedichts von Jacques Prevert hingegen kann zwar als ein Bedeutung verstarkendes Element fungieren, bleibt aber dennoch fur das Gesamtverstandnis verzichtbar.

4 Ebd.

5 „Eine Umfrage bei den bekanntesten Chansonniers unserer Zeit [d.i. 1971] hat ergeben, dass die meisten Chansonniers den Text fur das wesentlichere Element des Chansons halten" (WEINRICH, Harald: Ein Chanson und seine Gattung. in: Literaturfur den Leser. Essays und Aufsatze zur Literaturwissenschaft, S. 132).

6 Brels paroles zum Beispiel sind in Tout Brel und auch in Der zivilisierte Affe (u.v.m.) abgedruckt. Im Vorwort zu Der zivilisierte Affe unterstreicht CLOUZET ausdrucklich die Bedeutung der lyrischen Komponente des Chansons und rechtfertigt so das Abdrucken ausgewahlter Chansontexte. Signifikant ist in diesem Zusammenhang auch, dass einige Chanson-Autoren (z.B. Jacques Brel und George Brassens) im KINDLER unter der Rubrik Jyrisches Werk" besprochen werden. Weiterhin wird die Zwitterhaftigkeit des Chansons auch unterstrichen durch die Tatsache, dass der Auteur-Compositeur-Interprete Charles Trenet sich 1983 um die Aufnahme in die Academie Frangaise bewarb und abgelehnt wurde. Vgl. TODD, S. 135.

7 LINDNER, Hermann: Zwischen Schlager und ,poesie absolue': Das Jiterarische' Chanson in Frankreich. in: H. STIMM und A. NOYER-WEIDNER (Hrsg.): Zeitschrift fur franzosische Sprache und Literatur. Bd. 82. Franz Steiner, S. 119.

8 WEINRICH konstatiert das beinahe vollige Fehlen von Metaphern im Chanson. (Vgl. WEINRICH, Harald: Ein Chanson und seine Gattung. in: Literaturfur den Leser. Essays und Aufsatze zur Literaturwissenschaft, S. 131).

9 Vgl. MATHIS, Ursula: Existentialismus undfranzosisches Chanson, S. 227.

10 Ebdv S. 240. nEbdv S. 231.

12 WEINRICH, Harald: Ein Chanson und seine Gattung. in: Literatur fur den Leser. Essays und Aufsatze zur Literaturwissenschaft, S. 130. Dieses Zitat wird hier trotz seiner inneren Widerspruchlichkeit angefuhrt, da in der Chansonforschung immer wieder darauf referiert wird. Siehe LINDNER, Hermann: Zwischen Schlager und ,poesie absolue': Das Jiterarische' Chanson in Frankreich, S. 129 und MATHIS, Ursula: Existentialismus und franzosisches Chanson, S. 238.

13 WEINRICH, Harald: Ein Chanson und seine Gattung. in: Literatur fur den Leser. Essays und Aufsatze zur Literaturwissenschaft, S. 132.

14 LINDNER, Hermann: Zwischen Schlager und poesie absolue': Das Jiterarische' Chanson in Frankreich, S. 128.

15 Vgl. ebd.

16 Vgl. ebd.

17 Ebd., S. 130.

18 Ebd., S. 130.

19 Vgl. ebd., S. 131.

20 Wobei nicht ausgeschlossen werden soll, dass sich auch beim Chanson „eine auf Zerstreuung ausgerichtete Rezeptionshaltung einstellen kann." (MATHIS, Ursula: Existentialismus undfranzosisches Chanson, S. 270).

21 BINKOWSKI, Bernhard (Hrsg.): Musikum uns. 7.-10. Schuljahr. 2., vollig uberarbeitete Auflage, S. 123.

22 Das Chanson versucht „durch Konfrontation mit unbequemen Inhalten den Horer in seiner Konsumentenhaltung zu storen, ihn zu einer positiven oder negativen Stellungnahme zu bewegen, d. h. also bewusstseinsverandernd zu wirken." (LINDNER, Hermann: Zwischen Schlager und poesie absolue': Das Jiterarische' Chanson in Frankreich, S. 134).

23 LINDNER, Hermann: Zwischen Schlager undpoesie absolue': Das Jiterarische' Chanson in Frankreich, S. 135.

24 In Existentialismus und franzosisches Chanson weist MATHIS bei einer Vielzahl von Chansons deutlich existentialistische Ansatze nach.

25 Vgl. WEINRICH, Harald: Ein Chanson und seine Gattung. in: Literatur fur den Leser. Essays und Aufsatze zur Literaturwissenschaft, S. 136.

26 LINDNER, Hermann: Zwischen Schlager und,poesie absolue': Das Jiterarische' Chanson in Frankreich, S. 133.

Fin de l'extrait de 24 pages

Résumé des informations

Titre
Kritische Analyse des Chansons "Les Flamandes" von Jacques Brel unter besonderer Berücksichtigung der Genrespezifika des französischen Chansons des 20. Jahrhunderts
Université
Ernst Moritz Arndt University of Greifswald  (Romanistik)
Cours
Text und Musik des französischen Chansons des 20. Jahrhunderts.
Note
1,3
Auteur
Année
2010
Pages
24
N° de catalogue
V205027
ISBN (ebook)
9783656321866
ISBN (Livre)
9783656322375
Taille d'un fichier
511 KB
Langue
allemand
Mots clés
Jacques Brel, Les Flamandes, Flandern, Belgien, Chanson, Existentialismus, Sprachenstreit
Citation du texte
Lucius Burgess (Auteur), 2010, Kritische Analyse des Chansons "Les Flamandes" von Jacques Brel unter besonderer Berücksichtigung der Genrespezifika des französischen Chansons des 20. Jahrhunderts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205027

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