Minna Canth: Wie ich Schriftstellerin wurde

Aus dem Finnischen übersetzt von Nadine Erler


Clásico, 2012

19 Páginas


Extracto


Das Finnische Theater hatte im Herbst 1878 einige Stücke in Jyväskylä aufgeführt. Wir hatten “Marianne[1]”, “Sirkka[2]”, “Oma Toivoni[3]” und einige andere Stücke gesehen. Aber diese machten besonders tiefen Eindruck auf mich, die ich kaum jemals ein Theaterstück gesehen hatte – wenn man ein paar Gesellschaftsstücke in meiner Jugendzeit in Kuopio und später im Lehrerinnenseminar in Jyväskylä nicht mitzählt.

Die Theatergruppe verließ die Stadt bald wieder, und in unserer kleinen Stadt kehrte wieder die frühere Ruhe ein. Aber mir gingen weder “Marianne” noch “Sirkka” aus dem Kopf. Frau Aspegren[4]war ein höheres Wesen, ebenso Herr Wilho[5]– denn die beiden bewunderte ich am meisten.

Oh – wenn man nur zum Theater gehen und Schauspieler hätte werden können! Aber ich hatte einen Mann und sechs Kinder[6]– an so etwas war nicht zu denken.

Denken? Warum nicht? Gedanken sind doch zollfrei. Abends, wenn ich meine Kinderschar ins Bett gebracht hatte, stellte ich mir vor, Schauspielerin am Theater zu sein. Ich träumte davon, die ganze finnische Öffentlichkeit mit meinem Spiel mitzureißen. Ich war manchmal “Marianne” und manchmal “Sirkka”, und ich spielte so herrlich bewegend, daß das ganze Publikum mir atemlos zusah.

Und ich genoß meine Triumphe, obwohl sie nur Phantasiegebilde waren. Tagsüber setzte ich alle meine sechs Kinder in eine Reihe, selbst warf ich mich vor ihnen in Pose und begann, ihnen etwas vorzuspielen. Mein Sohn Pekka, der damals ungefähr zwei Jahre alt war, gluckste einmal vergnügt und sagte aus tiefstem Herzensgrund: “Mama ist verrückt!” Was mir natürlich etwas peinlich war.

Aber es gab in Jyväskylä noch jemanden, der das Theater genauso liebte wie ich – und außerdem die Literatur und andere Künste. Er war erfahrener als ich, reifer, er war in Helsinki gewesen, hatte mehr gesehen und die Kunst in einer ganz anderen Weise zu schätzen gelernt als ich, die ich in dieser Beziehung sehr naiv und völlig unerfahren war. Dieser Jemand war Robert Kiljander[7].

Eines schönen Tages – oder vielleicht war es auch kein schöner Tag, ich erinnere mich nicht genau – kam Kiljander mit seiner Frau zu Besuch. Ich war sehr stolz darauf, denn es war bekannt, daß Kiljander Damengesellschaft nicht gerade liebte, sondern daß er sie im Gegenteil soweit wie möglich mied.

Nun ja – ich eilte ihnen natürlich entgegen. Wir begrüßten uns, gingen in den Salon und setzten uns. Und sofort kam das Gespräch auf die Theatergruppe, die kurz zuvor Jyväskylä verlassen hatte.

Ich bedauerte, daß das Finnische Theater so spät gegründet worden war – warum nicht früher, als ich noch jung war? Denn erst jetzt hatte ich begriffen, daß ich zur Schauspielerin geschaffen war und nicht zur Frau eines Pädagogen aus Jyväskylä. Und nun war es zu spät.

“Natürlich ist es zu spät”, räumte Kiljander ein. “Aber ich weiß einen anderen Rat: Schreib selber Theaterstücke!”

Wahrhaftig! Das war in meinen Augen kein dummer Gedanke. Ich sah ihn eine Weile forschend an, aber es war kein Scherz – er sah aus, als meine er es ganz ernst.

“Ich schlage vor, daß wir gemeinsam schreiben.”

“Das machen wir. Was für ein Stück soll es sein?”
“Ein Volksschauspiel in fünf Akten.”

“Oho, oho? Reicht nicht ein Einakter als Anfang?”

“Nein, ein Volksschauspiel – es müssen fünf Akte werden.”

“Schreiben wir erst eine Komödie – über die Mittelschicht einer Stadt!”

Eine Komödie! Das fehlte mir gerade noch – mir, in deren Hirn so herzbewegende Stücke wie “Marianne” und “Sirkka” herumspukten!

“Nein, ich möchte lieber ein Volksschauspiel!”

Aber auch Kiljander war nicht von seiner Idee abzubringen, und da es fast zum Streit gekommen wäre, beschlossen wir zuletzt, daß jeder für sich schreiben würde. Aber wir wollten einander unsere Werke vorlesen, sobald sie fertig waren.

Ich machte mich natürlich sofort mit großem Eifer an die Arbeit, und so entstand der Anfang von “Murtovarkaus[8]”. Ich war unglaublich gespannt: Konnte ich wirklich Theaterstücke schreiben?

Es ging gut. Es ging wie von selbst. Es war, als würde eine fremde Macht mir die Worte diktieren und mir die Feder führen. Und wie glücklich ich war! Jede Replik, die aufs Papier kam, weckte Freude in mir. Daß ich wirklich schreiben konnte, wer hätte das geglaubt! Ich bedauerte nur, daß ich nicht eher darauf gekommen war. Wieviel Zeit hatte ich schon verschwendet!

Ich mußte auch andere an meiner Freude teilhaben lassen und las meinen Text Elias Erkko[9]vor, der damals bei uns wohnte, fünfzehn Jahre alt war und in die fünfte Klasse des Gymnasiums ging. Er schätzte meine Arbeit und spornte mich oft neu an. Meinen Dienstmädchen Riikka und Iida las ich es auch vor, und ihrer Meinung nach war es sehr gut. Hoppulainens Wortspiele und Redensarten gefielen ihnen besonders, und sie wetteiferten darum, noch mehr davon beizusteuern. Und wie stolz sie dann waren, wenn ich etwas aus ihrem Vorrat zu Papier brachte! Auf diese Art wurde mein Stück geradezu eine Gemeinschaftsarbeit der ganzen Familie. Mein Mann allerdings schmunzelte nur und sagte: “Ihr seid doch kindisch!”

Ich ging treu zu Kiljander und las ihm mein Geschriebenes vor, je mehr es fortschritt.

“Ja, ja – det är inte så illa det där. Fortsätt bara[10]”, pflegte er zu sagen.

“Inte så illa!” Das war meiner Meinung nach etwas dürftig, denn ich selbst war der heiligen Überzeugung, daß mein Stück das Beste war, das jemals auf der Welt geschrieben worden war.

“Das taugt nichts”, sagte er dann wieder, “es liest sich wie eine Novelle, schreib es noch mal.”

Und dann schrieb ich es um, damit Robert es gut fand. Denn er war trotz allem meine höchste Autorität.

Aber wie ging es mit Kiljanders eigenem Theaterstück? Ich bekam keine Zeile zu sehen, er schmunzelte nur, wenn ich neugierig danach fragte, und sagte, ich solle abwarten. “In unserer Vereinbarung war keine Zeit festgesetzt”, sagte er.

Das stimmte natürlich. Aber er hätte ja wenigstens schon anfangen können. Oder wollte er aufgeben?

Wie auch immer, ob er nun angefangen hatte oder nicht – ich arbeitete mit unerschütterlichem Mut und Selbstvertrauen an meinem Sück weiter.

Aber zur gleichen Zeit begann eine schwere Sorge, mich zu quälen. Die Gesundheit meines Mannes verschlechterte sich. Seine Kräfte ließen von Tag zu Tag nach, und ich konnte nicht länger die Augen davor verschließen. Die Ärzte wußten sich keinen Rat. Vielleicht sei es eine allgemeine Schwäche, sagten sie, und im Sommer wollten wir sehen, was die Bäder bewirkten.

Ich wartete auf den Sommer, abwechselnd mit Furcht und Hoffnung. Mein Mann selbst merkte nicht viel von seiner Schwäche, er nannte es Einbildung und war fast gekränkt von meiner ewigen Wachsamkeit und Fürsorge. Aber mir war nur zu klar, wie besorgniserregend sein Zustand war. Ich wagte nicht, an die Möglichkeit zu denken, die sich mir nun aufdrängte.

Es wäre zu schrecklich gewesen. Meine sechs kleinen Kinder...

Der Sommer kam. Er brachte keine Gesundheit und keine Rückkehr der Kräfte. Im Gegenteil!

Am 13. Juli geschah das Schrecklichste vom Schrecklichen. Der Schlag war vernichtend. Ich bekam nicht viel mit, sondern sah nur wie im Traum, daß meine Kinder schwarze Kleidung und Trauerflore trugen, genau wie ich selbst.

Aber die Anforderungen des wirklichen Lebens traten wieder an mich heran. Ich mußte doch entscheiden, wie ich mein zukünftiges Leben einrichten würde, wie ich den Unterhalt für meine Familie bestreiten würde.

“Du könntest Seminarteilnehmer bekochen – das wäre die beste Lösung!” rieten mir einige meiner Freunde in Jyväskylä.

Du liebe Zeit! Ich, die ich bisher nur gekocht hatte, weil es unbedingt sein mußte, sollte nun damit meinen Lebensunterhalt verdienen? Und würde sich das lohnen? Würde es reichen für eine so große Familie, wie ich sie hatte?

“Nein, widme dich lieber ganz der schriftstellerischen Arbeit”, sagten die anderen. “Du kannst doch gut schreiben.”

Ich hatte nämlich ein bißchen für Zeitungen geschrieben und Artikel ins Finnische übersetzt. Aber nach meiner Erfahrung war die Bezahlung für diese Arbeit nicht verlockend. Mit diesen Einkünften konnte man nicht sein Brot verdienen, dessen war ich sicher. Außerdem ging es mir sowohl körperlich als auch seelisch so schlecht, daß ich mich nicht an eine so anstrengende Tätigkeit heranwagen konnte.

Aber was dann? Mir ging ein Gedanke durch den Kopf, der schließlich den Sieg über die anderen davontrug. Mein Vater war früher in Kuopio als Kaufmann tätig gewesen, meine Mutter führte immer noch den kleinen Laden weiter – was, wenn ich es auch damit versuchen würde?

Meine Freunde in Jyväskylä hielten das für Wahnsinn.

“Du hast doch überhaupt keinen Geschäftssinn”, sagten sie. “Du machst bald Konkurs und verlierst auch noch das, was du hast.”

Das konnte passieren, aber es mußte nicht unbedingt sein. Man wußte es erst, wenn man es versucht hatte. Etwas Besseres fiel mir nicht ein, ich hielt also an meinem Gedanken fest und begann, meine Angelegenheiten dementsprechend zu ordnen.

Während mich diese Sorgen des wirklichen Lebens beschäftigten, schlummerte mein Theaterstück ungefähr drei Monate in den Tiefen der Schublade. Nebenbei entwischten meine Gedanken wohl ab und zu, aber ich hatte weder die Zeit noch das Bedürfnis, es wieder hervorzunehmen. Aber jetzt, da ich entschieden hatte, wie ich in Zukunft versuchen würde, mich und meine Kinderschar durchzubringen, hatte ich trotz aller Mühen genug Zeit und geistige Frische, um mein Stück fertigzubekommen und es gründlich zu überarbeiten. Ende November war es ganz fertig, und ich schickte es nach Helsinki – an Doktor Bergbom[11].

[...]


[1] “Marianne”: Gemeint ist das Stück “Marie-Jeanne” (1845) von Adolphe d'Ennery (1811 – 1899).

[2] “Sirkka”: “Sirkka eli Pikku Fadette”, finnische Version des Stücks “Die Grille” von Charlotte Birch-Pfeiffer (1800 – 1868), das wiederum auf George Sands Roman “La Petite Fadette” (1849) basiert (Anm. d. Übers.).

[3] “Oma Toivoni”: Finnische Version des Stücks “Mein Leopold” (1873) von Adolph L'Arronge (1838 - 1908). (Anm. d. Übers.)

[4] Aurora Aspegren (1844 – 1911): Finnische Schauspielerin und erste weibliche Darstellerin des Finnischen Theaters (Anm. d. Übers.).

[5] Oskari Vilho (eigentlich: Oskar Vilhelm Gröneqvist, 1840 – 1883): Finnischer Schauspieler und Förderer der finnischen Sprache (Anm. d. Übers.).

[6] Minna Canth war verheiratet mit dem Studienrat Johan Ferdinand Canth (1835 – 1879). Kinder der Canths: Anni (1866–1911), Elli (1868–1944), Hanna (1870–1889), Maiju (1872–1943), Jussi (1874–1929), Pekka (1876–1959) und Lyyli (1880–1969). Das jüngste Kind Lyyli kam nach dem Tod des Vaters zur Welt (Anm. d. Übers.).

[7] Robert Kiljander (1848 – 1924): Finnischer Schriftsteller, bekannt für seine Komödien (Anm. d. Übers.).

[8] “Murtovarkaus” (“Der Einbruch”): Theaterstück von Minna Canth, 1883 uraufgeführt (Anm. d. Übers.).

[9] Juho Elias Rudolf Erkko (1863 – 1888): Finnischer Literaturkritiker, Dichter und Übersetzer (Anm. d. Übers.).

[10]Schwedisch: “Ja, ja – das ist nicht so übel. Mach nur weiter!” (Anm. d. Übers.).

[11] Dr. Karl Johan (finn. Kaarlo Juhani) Bergbom (1843 – 1906), gründete 1868 die Suomalainen Seura (”Finnische Gesellschaft”), um die finnischsprachige Kultur weiterzuentwickeln, Leiter des Nya Teatern (”Das Neue Theater”) in Helsinki 1872 – 1905, Unterstützer und Berater von Minna Canth (Anm. d. Übers.).

Final del extracto de 19 páginas

Detalles

Título
Minna Canth: Wie ich Schriftstellerin wurde
Subtítulo
Aus dem Finnischen übersetzt von Nadine Erler
Autor
Año
2012
Páginas
19
No. de catálogo
V205143
ISBN (Ebook)
9783656327394
ISBN (Libro)
9783656328209
Tamaño de fichero
462 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
minna, canth, schriftstellerin, finnischen, nadine, erler
Citar trabajo
Nadine Erler (Autor), 2012, Minna Canth: Wie ich Schriftstellerin wurde, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205143

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