Mathematisches Textverständnis. Eine empirische Untersuchung von Haupt- und Realschülern


Tesis de Máster, 2010

89 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Theoretischer Teil

1 Einleitung

2 Das Projekt Mathe-Meister

3 Mathematische Grundbildung und Lesekompetenz

4 Sachrechenaufgabe und Textaufgabe

5 Textverstehen und Textverarbeitung
5.1 Instruktionspsychologische Ansätze zur Textverarbeitung
5.2 Kognitionspsychologische Ansätze zur Textverarbeitung
5.2.1 Modelle des Textverstehens von Kintsch und van Dijk
5.2.1.1 Mikrostrukturmodell von Kintsch
5.2.1.2 Modell der zyklischen Verarbeitung von Kintsch und van Dijk
5.2.1.3 Makrostrukturmodell von van Dijk
5.2.1.4 Situationsmodell von Kintsch und van Dijk
5.2.1.5 Strategiemodell von van Dijk und Kintsch
5.2.2 Neuere Modelle zur Textverarbeitung

6 Verstehensmodelle zu mathematischen Textaufgaben
6.1 Mathematisch-logische Modelle
6.2 Textverstehensmodelle
6.3 Das Prozessmodell „SituationProblemSolver“
6.4 Vergleich der Modelle

7 Tabellen und Diagramme in Textaufgaben

8 Schwierigkeiten bei mathematischen Textaufgaben

Empirischer Teil

9 Methodik
9.1 Vorstellen des Tests
9.2 Einteilung der Fehlertypen
9.3 Vorgehen der Auswertung

10 Auswertung
10.1 Items 13-16: Bruchrechnung
10.2 Item 13: Addition
10.3 Item 14: Addition von Brüchen
10.3.1 Aufgabe nicht bearbeitet
10.3.2 Falsches Ergebnis
10.3.3 Richtiges Ergebnis
10.3.4 Fazit
10.4 Item 15: Umrechnung Bruch- in Prozentschreibweise
10.4.1 Falsches Ergebnis
10.4.2 Richtiges Ergebnis
10.5 Item 16: Multiplikation von Brüchen
10.5.1 Falsches Ergebnis
10.5.2 Fazit
10.6 Item 18: Antiproportionale Zuordnungen
10.6.1 Falsches Ergebnis
10.7 Item 19: Taxifahrt
10.7.1 Falsches Ergebnis
10.7.2 Richtiges Ergebnis
10.8 Item 20: Taxifahrt
10.8.1 Falsches Ergebnis
10.8.2 Richtiges Ergebnis
10.8.3 Auswertung Rechentest
10.9 Item 21: Satz des Pythagoras
10.9.1 Auswertung Rechentest
10.9.2 Richtiges Ergebnis
10.9.3 Falsches Ergebnis
10.9.4 Fazit
10.10 Item 22: Lötkolben-Aufgabe
10.10.1 Falsches Ergebnis
10.10.2 Fazit

11 Diskussion der Ergebnisse

12 Fazit und Ausblick

13 Literatur

14 Abbildungsverzeichnis

15 Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

Mathematische Grundqualifikationen sind der Schlüssel zum Erfolg in Schule und be- ruflicher Ausbildung. In Studien ist jedoch deutlich geworden, dass ein großer Teil von Auszubildenden mathematische Defizite aufweist [vgl. Averweg et al. 2009, S. 22]. Die häufigste Ursache für schulisches und berufliches Versagen liegt zunächst in einer ge- ringen Lese- und Schreibkompetenz, die dann Grundlage nahezu aller kognitiven Kom- petenzen ist und demzufolge auch eng mit dem Erlangen mathematischer Kompetenzen korreliert [vgl. Grundmann 2009, S. 186]. Bei der Bearbeitung mathematischer Text- aufgaben haben Schüler1 mit geringer Lesekompetenz fast zwangsläufig Schwierigkei- ten, da für den Lösungsprozess neben mathematischen Kompetenzen das Textverstehen eine notwendige Voraussetzung ist.

Die PISA-Studie 2000 bezeichnet die Lesekompetenz und mathematische Kompetenz vieler Schüler als besorgniserregend und stellt eine starke Korrelation beider Kompe- tenzbereiche fest [vgl. Kirsch et al. 2002, S. 16]. Nach dieser Studie ist fast jeder vierte jugendliche Schüler als (extrem) leseschwach einzustufen [vgl. Grundmann 2009, S. 186] und jeder fünfte erreicht lediglich die erste mathematische Kompetenzstufe [vgl. Prenzel et al. 2003, S. 6]. Sie rechnen auf Grundschulniveau und „können dieses Wissen abrufen und unmittelbar anwenden, wenn die Aufgabenstellung von vornherein eine bestimmte Standard-Mathematisierung nahe legt“ [Stanat et al. 2002, S. 37]. Durch die Defizite im Bereich der mathematischen Kompetenz und Lesekompetenz können die Ansprüche einer beruflichen Ausbildung höchstwahrscheinlich nicht erfüllt werden, da auch innerhalb von Ausbildung und Beruf ein enger Zusammenhang zwischen Vorwis- sen und fachlicher Leistungsfähigkeit vermutet werden kann [vgl. Prenzel et al. 2004, S. 72f, Averweg et al. 2009, S. 22].

Eine weitere Hürde ist die berufsspezifische Fachliteratur, die hohe Anforderungen an mathematische Kompetenzen und Lesekompetenz stellt und den Jugendlichen nicht nur in ihrer beruflichen Ausbildung, sondern auch im Berufsalltag begegnet. Dabei handelt es sich um eine Mischung von Texten, Diagrammen, Tabellen und Graphiken, die “selbst für geübte Leser eine besondere Herausforderung“darstellt [Grundmann 2009, S. 186f].

Mathematische Kompetenzen und Lesekompetenzen werden in Schule, beruflicher Ausbildung, Berufsalltag und täglichem Leben gefordert. Auf diese Herausforderungen können Schüler mit Hilfe sinnvoller mathematischer Textaufgaben vorbereitet werden, wenn diese zu einem besseren Verständnis komplexer mathematischer Probleme beitra- gen und ihnen die Kompetenz des selbstständigen Problemlösens vermitteln. Denn Ju- gendliche müssen in Ausbildung und Beruf in der Lage sein, eigenständig mathemati- sche Problemstellungen unterschiedlicher Gestaltung verstehen und lösen zu können und sich selbstständig weiter zu bilden [vgl. Averweg et al. 2009, S. 22; Grundmann 2009, S. 186].

Voraussetzung für die Verbesserung dieser Kompetenzen ist die Einsicht des Jugendli- chen, dass er persönlich und im Berufsalltag von diesen Kompetenzen profitiert [vgl. Grundmann 2009, S. 188]. An diese Stelle setzt das Mathe-Meister-Projekt an. Es er- möglicht den Schülern und Berufsschülern durch ein webbasiertes Mathematikpro- gramm eine individuelle Einschätzung ihrer mathematischen Kompetenzen und Durch- führung einer Defizitanalyse, um vorhandene Schwächen mit Hilfe des Programms in- dividuell auszugleichen. Das Projekt wird im zweiten Kapitel vorgestellt.

Das Verstehen und Lösen mathematischer Textaufgaben setzt sich aus unterschiedli- chen Verstehensprozessen zusammen und verlangt sowohl Lesekompetenz als auch mathematische Kompetenzen. Im dritten Kapitel wird ein Zusammenhang dieser Begrif- fe hergestellt und im vierten Kapitel Definitionen zu den Begriffen Sachrechen- und Textaufgabe aufgezeigt.

Das Verstehen von Texten ist Voraussetzung für das erfolgreiche Lösen einer Textaufgabe. Über die Entwicklung unterschiedlicher Modelle zum Textverstehen und der Textverarbeitung wird im fünften Kapitel ein Überblick gegeben.

Diese Textverstehensmodelle sind die Basis für Verstehensmodelle zu mathematischen Textaufgaben. Drei Grundtypen von mathematischen Verstehensmodellen werden im sechsten Kapitel dargestellt und miteinander verglichen.

Die Textaufgaben des Mathe-Meister-Tests umfassen neben dem Textteil auch Dia- gramme und Tabellen, zu denen im siebten Kapitel Modelle der kognitiven Verarbei- tung erläutert werden. Allgemeine Schwierigkeiten beim Lösen von Textaufgaben wer- den im achten Kapitel genannt.

Der empirische Teil der Arbeit umfasst die Auswertung von neun Items aus dem Mathe- Meister-Test. Es werden auftretende Fehler charakterisiert, nach der Art des Fehlers in aufgabenspezifische Fehlertypen und Hauptfehlertypen eingeteilt und versucht, sie mit den mathematischen Verstehensmodellen aus dem sechsten Kapitel zu erklären.

2 Das Projekt Mathe-Meister

Im Rahmen des Mathe-Meister-Projektes wird ein internetbasiertes Programm entwi- ckelt, mit dem Auszubildende und Teilnehmer von Meisterlehrgängen durch Selbsttests ihre mathematischen Fähigkeiten und Defizite erkennen und diese mit den konkreten mathematischen Anforderungen aus ihrem Berufszweig vergleichen können. Durch eine individuelle Auswertung der Ergebnisse erhält jeder Teilnehmer Rückschlüsse über seine Fähigkeiten aber auch mathematischen Schwächen und individuelle Fördermaß- nahmen in Form von Übungsmaterialien oder Lehrgängen. Der Test orientiert sich an den mathematischen Qualifikationen, die vor Beginn der Meisterausbildung vorhanden sein müssten. Diese Anforderungsbereiche wurden auf Grundlage von Lehrbüchern und Prüfungsmaterial erstellt und können sich in verschiedenen Berufsfeldern unterschei- den.

Das Projekt beschäftigt sich außerdem mit der Frage nach der Verbesserung des Textverständnisses, speziell mathematischer Texte aus unterschiedlichen Berufszweigen, die Grundlage sowohl von Aus- und Weiterbildung als auch dem Berufsalltag sind. Das Textverständnis soll durch computergestützte Programme zum Textverständnis gefördert werden [vgl. Stein, Winter 2009, S.887ff].

3 Mathematische Grundbildung und Lesekompetenz

Durch das Lösen mathematischer Textaufgaben erlernen Schüler mathematische Begrif- fe und Verfahren sowie ihre Anwendung und erlangen dadurch ein mathematisches Verständnis. Textaufgaben sind ein bedeutender Bestandteil des Mathematikunterrichts und sind in den Lehrplänen unter der Kompetenz „problemlösendes Denken“ verankert. International wird der Begriff „mathematical literacy“ verwendet. Mathematical literacy ist die Fähigkeit „die Rolle, die Mathematik in der Welt spielt, zu erkennen und zu ver- stehen, begründete mathematische Urteile abzugeben und sich auf eine Weise mit Ma- thematik zu befassen, die den Anforderungen des gegenwärtigen und künftigen Lebens einer Person als eines konstruktiven, engagierten und reflektierten Bürgers entspricht“ [OECD 2000, S. 47]. Der Begriff umfasst somit neben der bloßen Kenntnis mathemati- scher Begriffe und Verfahren auch die Anwendung und Reflexion mathematischer Fä- higkeiten in einem „breiten Spektrum unterschiedlicher Situationen“ [OECD 2000, S. 47f]. Der Begriff „mathematische Grundbildung“ entspricht diesem Begriff im Allge- meinen. Winter stellt heraus, dass die Aufgabe von Mathematikunterricht die Vermitt- lung mathematischer Grundbildung ist, die durch folgende drei Grunderfahrungen an- strebt wird:

„1. Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen,
2. mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert in Sprache, Symbolen, Bildern und Formeln, als geistige Schöpfungen, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art kennen zu lernen und zu begreifen,
3. in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die über die Mathematik hinaus gehen, (heuristische Fähigkeiten) zu erwerben“[Winter 1995, S. 37].

Die Einbettung von Texten ist charakteristisch für mathematische Textaufgaben. Dem- zufolge sind Lesekompetenz und Textverstehen Grundlage für einen erfolgreichen Lö- sungsprozess. Lesekompetenz ist nach PISA definiert als die „Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu errei- chen, das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln und aktiv am gesellschaftli- chen Leben teilzunehmen“ [OECD 2002, S. 28]. Ein anderer Ansatz zum Begriff Lese- kompetenz sieht die Unterscheidung in eine enge und weitere Fassung des Begriffs vor. Im engen Sinne meint Lesekompetenz die Kompetenz, schriftliche Texte mit lediglich verbalen Informationen zu verstehen. Im weiteren Sinne wird in dem Begriff zusätzlich das Verstehen von Kombinationen aus Bildern, Diagrammen, Tabellen und Graphiken erfasst. Beispielsweise gehört die Kompetenz, einem Graphen Informationen zu ent- nehmen in den Bildungsstandards gleichzeitig zum Bereich „Lesekompetenz“ sowie einer Teilkompetenz des Kompetenzbereiches „mathematische Darstellungen verwen- den“ . Die starke Korrelation zwischen mathematischen Leistungen und der Lesekompe- tenz von Schülern kann auf den ähnlichen Aufbau und Überschneidungen der beiden Kompetenzbereiche zurückgeführt werden [vgl. Schukajlow, Leiss 2008, S. 97f]. Schwierigkeiten beim Lösen von Textaufgaben entstehen aus dem Zusammentreffen sprachlicher und mathematischer Anforderungen. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff Textaufgabe verwendet. Die Begriffe „Sachrechenaufgabe“ , „Sachaufgabe“ und „eingekleidete Aufgabe“ stehen in einem Zusammenhang mit diesem Begriff und sollen daher im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

4 Sachrechenaufgabe und Textaufgabe

Der Begriff „Sachrechenaufgabe“ ist in der Literatur nicht einheitlich definiert. Fricke versteht darunter Aufgaben, „die von außermathematischen Sachverhalten handeln und über die mit mathematischen Mitteln Aussagen gemacht werden können“ [Fricke 1987, S. 6]. Stern charakterisiert Sachrechnen als das „Bindeglied zwischen Alltagssituationen und Mathematik“ [Stern 1998, S.84]. Winter stellt heraus, dass das Lösen von Sachre- chenaufgaben ein „komplexer und anspruchsvoller geistiger Vorgang, ein Problemlöse- prozess (ist), der uns unweigerlich mit der Problematik des Verstehens konfrontiert“ [Winter 1992, S. 11]. Er nennt drei Zielsetzungen des Sachrechnens: Es ist Lernstoff, Lernprinzip und Lernziel. Hauptziel des Sachrechnens als Lernstoff ist die Vermittlung von „Wissen über Größen und Fertigkeiten im Umgang mit Größen“ [Winter 1992, S. 24]. Sachrechnen als Lernprinzip meint, dass durch die Herstellung eines Bezuges zwi- schen Mathematik und der Lebenswelt des Schülers seine Motivation erhöht wird, weil Sachprobleme und Phänomene aus seiner realen Umwelt thematisiert werden. Durch die Lebensnähe und Anschaulichkeit werden den Schülern mathematische Begriffe und Zusammenhänge besser verdeutlicht und diese dadurch besser gelernt [vgl. Winter 1992, S. 26]. Sachrechnen als Lernziel ist die umfassendste Funktion des Sachrechnens und beinhaltet das Sachrechnen selbst als Gegenstand des Mathematikunterrichts. Es integriert die beiden Funktionen Sachrechnen als Lernstoff und Lernprinzip und soll die Schüler befähigen, „umweltliche Situationen durch mathematisches Modellieren klarer, bewusster und auch kritischer zu sehen“ [Winter 1992, S. 31].

Maier nimmt eine Klassifikation von Sachrechenaufgaben in die drei Aufgabentypen „eingekleidete Aufgaben“ , „Textaufgaben“ und „Sachaufgaben“ vor [vgl. Maier 1970, S. 155]. Zu jedem dieser Aufgabentypen existiert eine Fülle unterschiedlicher Definitionen. Die Grenzen zwischen den Aufgabentypen sind zum Teil fließend, sodass sie kaum präzise zu definieren und voneinander abzugrenzen sind und teilweise sogar von einigen Autoren synonym verwendet werden. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, sie voneinander abzugrenzen:

Eingekleidete Aufgaben sind auf das Erlangen rechnerischer und mathematischer Begriffe und Einsichten ausgerichtet. Bei diesen Aufgaben stehen Zahlen im Vordergrund, der Sachzusammenhang ist unbedeutend [vgl. Maier 1969, S. 721]. Die durchzuführenden Zahloperationen sind zumeist unmittelbar aus der Aufgabe ersichtlich und der Schwierigkeitsgrad der geforderten Operationen vom Leistungsstand und Alter des Schülers abhängig [vgl. Fricke 1987, S. 7].

Textaufgaben sind „durch einen Text beschriebene außermathematische Sachverhalte, über die gewisse qualifizierende Aussagen gemacht werden sollen“ [Fricke 1987, S. 8]. Sie haben einen höheren Realitätsgehalt als eingekleidete Aufgaben und bei ihnen steht das Verständnis für den Zahl-Sache-Zusammenhang im Vordergrund [vgl. Maier 1969, S. 721]. Textaufgaben können nach ihren Sachbezügen unterschieden werden. Lörcher unterteilt sie in die unterschiedlichen Bereiche, die im Mathematikunterricht berück- sichtigt werden sollen. Dazu gehören Aufgaben zu Situationen des täglichen Lebens, aus der weiteren Umwelt (Verkehrsprobleme, Umweltschutz, soziale Probleme,…), fächerübergreifende Themen, Abstraktionen der Realität und rein mathematische The- men [vgl. Lörcher 1974, S. 76]. Der Aufgabentyp „Textaufgabe“ nimmt eine mittlere Position zwischen dem Typ „Sachaufgabe“ und „eingekleidete Aufgabe“ ein, er ist rea- litätsnäher als eingekleidete Aufgaben, im Vergleich zu Sachaufgaben jedoch eher künstlich.

Sachaufgaben stellen den dritten Typ von Sachrechenaufgaben dar. Bei ihnen ist keine ausformulierte Aufgabenstellung sondern lediglich ein „Rahmenthema“ vorhanden [Fri- cke 1987, S. 8]. Ziele dieses Aufgabentyps sind das Lösen von Sachproblemen und die mittelbare Gewinnung von Informationen [vgl. Maier 1969, S. 721]. Rechenoperationen stehen bei diesem Aufgabentyp eher im Hintergrund. Die Lösung von Sachaufgaben erfolgt in vier Schritten: Zunächst beginnt der Schüler mit der Problemfindung. Im zweiten Schritt schließt sich die Suche nach Parametern an. Dann erfolgt die Daten- sammlung und zuletzt die eigentliche Rechnung [vgl. Fricke 1987, S. 8]. Nach Winter sind die Ziele vieler Sachaufgaben häufig nicht mathematisch, sondern liegen eher in dem Gewinnen von Sachinformationen im Sinne einer Umwelterschließung [vgl. Win- ter 1992, S. 31].

Nach Fricke handelt es sich bei Textaufgaben und eingekleideten Aufgaben um „Sachrechenaufgaben im engeren Sinne“ , da zwischen den beiden Aufgabentypen häufig keine scharfe Abgrenzung vorgenommen werden kann. Sie sind durch „einen textlich formulierten außermathematischen Sachverhalt mit Angabe von Daten und eventuell durch quantitative Nebenbedingungen und durch die Frage nach einer oder mehreren unbekannten Größen“ gekennzeichnet [Fricke 1987, S. 9]. Textaufgaben und eingekleidete Aufgaben sind von der mathematischen Zielsetzung geprägt, die passenden Operationen und deren Reihenfolge zu finden [vgl. Fricke 1987, S. 9].

Der Lösungsprozess von Sachaufgaben und Textaufgaben besteht nach Bremer und Dahlke aus vier Schritten:

1. „Erkennen des Sachzusammenhanges“ : Textverstehen
2. „Abbildung des Sachzusammenhanges in einen mathematischen Operationszusam- menhang“in drei Phasen: Reduzierung des Vorstellungsbildes auf einen mathematisch relevanten Kern, Reduzierung der Objekte auf quantitative Merkmale, Übersetzung dieser Merkmale in mathematische Symbolsprache
3. „Rechnung“
4. „Interpretation des Ergebnisses im Kontext des Sachzusammenhanges“ [Bremer, Dahlke 1980, S. 10ff].

Der Lösungsprozess bei Sachrechenaufgaben wird häufig auch als Modellierungskreis- lauf dargestellt. „Modellbildung oder Modellieren ist die Bearbeitung von - in der Re- gel außermathematischen - Fragestellungen durch die Einbettung in innermathemati- sche Kontexte“ [Greefrath 2006, S. 8]. In der Literatur existieren unterschiedliche Dar- stellungen des Modellierungskreislaufs. Darin wird eine Beziehung zwischen Realität und Modell hergestellt mit unterschiedlich ausgeprägter Detailliertheit und unterschied- lich starker Vereinfachung des Lösungsprozesses [vgl. Blum 1985; Fischer, Malle 1985; Büchter, Leuders 2005; Winter 1994].

Schwierigkeiten können in jedem Schritt des Modellierungskreislaufes auftreten. Winter betont sogar, dass die Schwierigkeiten selten in der algorithmischen Berechnung, son- dern in der Verarbeitung und dem Verstehen der Sachsituation [vgl. Winter 1992, S. 12f] bestehen, sowie der „Übersetzung einer Problemsituation in Textform in eine ma- thematische Gleichung“ [Reusser 1992, S. 225]. Auf Schwierigkeiten beim Lösen von Textaufgaben und Sachaufgaben wird in den folgenden Kapiteln eingegangen.

Da mathematische Textaufgaben in einen Text eingebettet sind, ist das Verstehen des Textes eine notwendige Voraussetzung für das Lösen von Textaufgaben. Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklung unterschiedlicher Modelle der kognitiven Textverarbeitung und des Textverstehens.

5 Textverstehen und Textverarbeitung

Am Anfang des Lösungsprozesses einer mathematischen Textaufgabe steht die Verar- beitung und das Verstehen des Aufgabentextes. Textverarbeitung ist ein kognitiver Pro- zess, der auf das Verstehen eines Textes als kohärentes Gebilde ausgerichtet ist. Dabei handelt es sich außerdem um einen konstruktiven und durch Vorwissen beeinflussten Prozess, bei dem der Leser Informationen aktiv in einen sinnvollen Zusammenhang ordnet und neue in bestehende Wissensstrukturen integriert [vgl. Jahr 1996, S. 9]. Text- verstehen ist somit die Schaffung neuen Wissens als Ergebnis der Interaktion zwischen Leser und Text. Im „Bottom-up-Prozess“ werden Informationen aus dem Text und im „Top-down-Prozess“ Fähigkeiten des Lesers miteinander verknüpft und so mentale Re- präsentationen des Textes beim Leser aufgebaut [vgl. Grütz 2010, S. 93].

Die beim Lesen eines Textes ablaufenden Prozesse beschäftigen Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Forschungen zum Prozess der Textverarbeitung haben ihre Anfänge in der Entwicklung der Psycholinguistik sowie der generativen Grammatik von Chomsky 1965, nach der beliebige grammatisch korrekte Sätze gebildet werden können. Bei der Analyse des Textverstehens kann diese Regelgrammatik jedoch nur bedingt angewendet werden, weil jeder Mensch Texte zum Teil nach seinen eigenen Regeln verarbeitet [vgl. Hasebrook 1995, S. 66f]. Im Laufe der Forschungen kamen Ansätze zur Analyse kogni- tiven Sprachverstehens hinzu [vgl. Naceur 2001, S. 22] und es entwickelten sich zwei wesentliche Forschungsrichtungen, die sich inhaltlich zum Teil überschneiden. Über das Textverstehen als Prozess kognitiver Verarbeitung wurden instruktions- und kognitionspsychologische Textverstehensmodelle entwickelt [vgl. Jahr 1996, S. 9]. Im Folgenden werden diese Ansätze erläutert.

5.1 Instruktionspsychologische Ansätze zur Textverarbeitung

Die Instruktionspsychologie befasst sich seit den 1960er Jahren als Zweig der pädagogi- schen Psychologie mit Lehr-Lern-Prozessen im Unterricht und untersucht, welche Be- dingungen das Verstehen von Texten fördern und zu einer Optimierung von Texten füh- ren [vgl. Christmann 1989, S. 9f]. Durch Arbeiten von Gray und Leary in den 1930er Jahren entstand die Lesbarkeitsforschung als Vorläufer der Instruktionspsychologie. Sie hat die Bedeutung von Wort- und Satzschwierigkeit für die Lesbarkeit von Sätzen nachgewiesen und Hinweise zur sprachlichen Gestaltung von Texten gegeben. Diese können auch für eine kritische Überprüfung von Unterrichtstexten verwendet werden, wenn die Überprüfung des Textes auf Merkmale der Textoberfläche beschränkt ist. Die Lesbarkeitsforschung gilt heute als abgeschlossen. Die Strukturierung von Textinhalten sowie individuelle Textverarbeitungsprozesse wurden durch diesen Forschungsansatz nicht berücksichtigt [vgl. Christmann 1989, S. 12]. Eine stärkere Berücksichtigung von Textverarbeitungsprozessen ging von der sich Ende der 1950er Jahre entwickelnden psycholinguistischen Syntaxforschung aus. Sie untersucht den Einfluss unterschiedli- cher Satztypen auf die Verarbeitung von Texten und erfasst die Behaltensmaße von Texten. Trotz zum Teil kontroverser Befunde wurde gezeigt, dass „weniger die sprach- lich-stilistische Gestaltung eines Textes als vielmehr dessen inhaltliche Strukturierung für die Verständlichkeit relevant ist“ [Christmann 1989, S. 13].

Um Lösungs- und Verstehensprozesse bei mathematischen Textaufgaben zu begreifen ist es entscheidend, Prozesse der kognitiven Verarbeitung von Texten zu erforschen. Da der Kern der instruktionspsychologischen Forschungen jedoch in der Analyse und Optimierung von Texten liegt, werden die innerhalb dieser Forschungsrichtung entwickelten Ansätze im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter erläutert.

In den kognitionspsychologischen Ansätzen wurden einige Modelle entwickelt, die die Verstehensprozesse beim Lesen von Texten darstellen und erklären sollen. Diese Modelle wurden anhand empirischer Untersuchungen modifiziert, um zusätzlich Prozesse des Verstehens von mathematischen Textaufgaben beschreiben zu können.

5.2 Kognitionspsychologische Ansätze zur Textverarbeitung

Die Kognitionspsychologie ist der Forschungszweig der Psychologie, der sich mit Pro- zessen der Informationsaufnahme und -speicherung beschäftigt. Bis heute existiert keine umfassende Theorie, sondern lediglich unterschiedliche Ansätze und Modelle, die je- weils andere Schwerpunkte in der Erforschung des Textverarbeitungsprozesses setzen. Als Grundlage für kognitionspsychologische Ansätze zur Textverarbeitung gilt die ge- dächtnis- und sprachpsychologische Forschung zum Wort- und Satzverstehen. Durch die Verbindung neuerer Theorien und neue wissenschaftliche Erkenntnisse entstand nach und nach die noch heute bestehende Theorie, dass die Verarbeitung von Sprache ein konstruktiver Vorgang mit Bedeutungszuweisung ist, bei der neue sprachliche In- formationen auf Grundlage vorhandenen Wissens verarbeitet werden. Aus diesem ver- änderten Verständnis über die Verarbeitungsprozesse von Texten entwickelten sich seit Anfang der 1970er Jahre neue kognitionspsychologische Ansätze zur Textverarbeitung, die kontinuierlich modifiziert und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst wurden. Diese werden im Folgenden vorgestellt. Das Konzept der Propositionen zur Analyse und relativ präzisen Beschreibung semantischer Strukturen in Texten hatte eine große Bedeutung für die Entwicklung einer empirischen Textpsychologie [vgl. Christ- mann 1989, S. 35ff]. Die Anfänge dazu bildeten Kintsch mit seinem Mikrostrukturmo- dell sowie nachfolgende Erweiterungen des Modells von Kintsch und van Dijk.

5.2.1 Modelle des Textverstehens von Kintsch und van Dijk

5.2.1.1 Mikrostrukturmodell von Kintsch

Kintsch beschäftigte sich mit dem Prozess des Textverstehens und der Textverarbeitung und entwickelte das Mikrostrukturmodell, welches den Beginn der empirischen Text- psychologie kennzeichnet. Ansatzpunkt für dieses Modell war die Feststellung, dass der Mensch in der Lage ist, komplexe Texte wiederzugeben, obwohl das Gedächtnis auf- grund der geringen Speicherkapazität nicht fähig ist, Texte detailliert zu speichern [vgl. Heinemann, Heinemann 2002, S. 176]. Er hat erkannt, dass beim Lesen eines Textes durch den Leser automatisch eine Gliederung in minimale Sinneinheiten erfolgt. Diese Grundeinheiten eines Textes bestehen aus Propositionen, die aus mindestens zwei Aus- sageelementen - einem Prädikat und mindestens einem Argument - gebildet und durch gemeinsame Argumente miteinander verknüpft werden [vgl. Kintsch 1974]. Prädikate sind Verben, Adjektive, Adverbien und Bindeglieder. Argumente sind „Nomen, Nomi- nalphrasen und Satzteile“ [Solso 2005, S. 315]. Dem Mikrostrukturmodell zufolge be- steht der Verstehensprozess beim Lesen eines Textes in der Bildung und Strukturierung von Propositionen sowie der Erstellung einer Liste von Propositionen, die als Textbasis bezeichnet wird [vgl. Christmann 1989, S. 50]. Der Satz „Sara spielt mit dem Ball“ könnte die Proposition „spielt (Sara, Ball)“ haben. Ein Schwachpunkt des Mikrostruk- turmodells ist, dass es nur auf die Analyse einzelner Sätze oder kurzer Texte begrenzt ist und Textverstehen als einen mechanischen Vorgang betrachtet [vgl. Christmann 1989, S. 38]. In nachfolgenden Modellen bestand die Theorie der Mikropropositionen jedoch als Kernbestandteil fort.

5.2.1.2 Modell der zyklischen Verarbeitung von Kintsch und van Dijk

Kintsch und van Dijk fokussieren in ihrem Modell von 1978 den prozedualen und zykli- schen Aspekt bei der Verarbeitung von Sätzen und kurzen Texten. Sie haben erkannt, dass Informationen zyklisch verarbeitet werden, das heißt Propositionen dem Arbeits- gedächtnis immer nur eine kurze Zeit als aktive Propositionen zur Verfügung stehen und bei ihrer Verarbeitung nicht in den gesamten schon verarbeiteten Text eingegliedert werden, sondern immer nur Teile des Textes für eine Kohärenzbildung zur Verfügung stehen [vgl. Rickheit, Strohner 1993, S. 74]. Grundlage dieser Annahmen bildet das Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffin, nach dem aufgenommene Informationen nur kurz vollständig zur Verfügung stehen und nur wenige dieser Informationen durch selektive Aufmerksamkeit im Kurzzeitgedächtnis weiter verarbeitet werden. In das Langzeitgedächtnis gelangen nur besonders intensiv verarbeitete Informationen [vgl. Hasebrook 1995, S. 48].

Mit dem Modell von Kintsch und van Dijk können Aussagen über den zeitlichen Ver- lauf des Verstehensprozesses gemacht werden, indem die Verarbeitungsszeit und die 11

Behaltensleistung beim Lesen eines Textes gemessen werden [vgl. Hasebrook 1995, S. 70]. Dieses Modell besagt, dass eine Beziehung zwischen der Anzahl der Propositionen in einem Text und der Zeit, die für die Verarbeitung eines Textes benötigt wird, besteht. Diese lässt sich in der Formel t= 6,37 + 0,94p (t entspricht der Zeit und p der Anzahl der Propositionen) ausdrücken [vgl. Solso 2005, S. 316].

Die Verarbeitung und Speicherung eines Textes nach seiner Argumentwiederholungsstruktur wird nur dann angewendet, wenn der Aufbau des Textes und die Argumentwiederholung übereinstimmen [vgl. Hasebrook 1995, S. 74].

5.2.1.3 Makrostrukturmodell von van Dijk

Das Makrostrukturmodell stellt eine Weiterentwicklung des Mikropropositionsmodells dar. Es ist auf die Analyse längerer zusammenhängender Texte angelegt und beschreibt diese als eine Reihe zum Teil verschachtelter Propositionen [vgl. Christmann 1989, S. 38]. Van Dijk geht davon aus, dass beim Lesen eines Textes auf Grundlage der elemen- taren Propositionen der Mikrostruktur eine umfassende Makrostruktur gebildet wird, die neben den Propositionen auch das Thema und Textbedeutungen beinhaltet und aus einer hierarchischen Untergliederung von Propositionen gebildet wird [vgl. Kintsch, van Dijk 1978, S. 365; Heinemann, Heinemann 2002, S. 78]. Van Dijk unterscheidet im Verstehensprozess die vier Makroregeln Löschen, Selektieren, Generalisieren und Kon- struieren, die in Interaktion mit dem Vorwissen des Lesers angewendet werden und zur Verdichtung und Ordnung der Propositionen beitragen [vgl. Kintsch, van Dijk 1978, S. 365f]. Die hierarchische Abstufung einer Proposition beeinflusst die Erinnerungsfähig- keit [vgl. Guthke 1992, S. 9].

Aufgenommene Informationen werden vom Leser permanent auf Kohärenz, einen sinn- bildenden Zusammenhang, überprüft. Ist die Herstellung von Kohärenz nicht möglich, greift der Leser auf Inferenzen - bereits verarbeitete Informationen aus dem Langzeitge- dächtnis - zurück, um eine Verknüpfung zu konstruieren. Es werden dabei nur solche Inferenzen in das Strukturmodell des Lesers eingebunden, die notwendig zur Herstel- lung von Kohärenz auf lokalem oder globalem Level sind [vgl. van Dijk, Kintsch 1983, S. 336].

Dieses und das Mikrostrukturmodell sind aufgrund ihrer starren Auswahl von Proposi- tionen nicht dazu geeignet zu erklären, warum bestimmte Informationen aus Texten aktiv bleiben und andere vergessen werden [vgl. Hasebrook 1995, S. 76]. Außerdem berücksichtigen sie nicht die kognitiven Fähigkeiten des Lesers und seine Strategien zum Textverstehen [vgl. Naceur 2001, S. 32].

5.2.1.4 Situationsmodell von Kintsch und van Dijk

Kintsch und van Dijk haben ihre Modelle fortwährend modifiziert, um sie neuen wis- senschaftlichen Erkenntnissen anzupassen. Das Situationsmodell ist eine Erweiterung des Makrostrukturmodells und gehört zu den mentalen Modellen. Mentale Modelle sind innere Modelle, die Repräsentationen von Merkmalen einer Situation beinhalten. Der Begriff des mentalen Modells wurde maßgeblich von Johnson-Laird geprägt: „a repre- sentation can be a representation of a real thing but it is not the real thing itself“ [John- son-Laird 1983, S. 402]. Ein mentales Modell „ist ein ‘innerer Gegenstand’, mit Hilfe dessen aufgrund der Analogiebeziehung zum Original … Aufgaben und Probleme stell- vertretend und mental an diesem inneren Objekt gelöst werden können“ [Moser 2003, S. 185].

Das Situationsmodell begreift im Gegensatz zu den bisherigen Modellen die Analyse eines Textes nicht nur als eine Wiederholung und Aneinanderreihung von Argumenten aus der Textoberfläche in eine Textbasis. Vielmehr begreift es diese als komplexen Prozess und geht von einer inhaltlichen Interpretation des Textes durch den Leser in Verbindung zu seinem Vorwissen aus [vgl. Hasebrook 1995, S. 75]. Der Leser erstellt auf Grundlage der Informationen aus dem Text mehrere innere Modelle:

- eine linguistische Oberflächenstruktur, die genaue Formulierungen enthält,
- ein Modell der Textbasis, das propositionale Repräsentationen und den Sinn des Textes enthält und
- ein Situationsmodell aus der Verbindung der Textinformationen mit dem Vor- wissen und Weltwissen des Lesers. Inhaltlich kann das Situationsmodell weit über die im Text enthaltenen Informationen hinausgehen und stellt dann die tiefste Form des Verstehens dar [vgl. Kintsch 1994, S. 39; Schnotz 2009, S. 156].

Textverarbeitung ist nach diesem Modell ein symbolischer, ganzheitlicher und dynami- scher Prozess, der in Konstruktions-, Transformations- und Revisionsprozessen immer differenziertere mentale Modelle entstehen lässt. Der Lernprozess kann erst einsetzen, nachdem der Leser diese inneren Modelle bzw. Situationsmodelle konstruiert hat [vgl. Naceur 2001, S. 35].

Eine Schwachstelle dieses Modells ist, dass es im Gegensatz zu den vorangegangenen Modellen durch seine Komplexität nicht mehr einem programmierbaren und überprüfbaren Algorithmus entspricht [vgl. Hasebrook 1995, S. 79].

5.2.1.5 Strategiemodell von van Dijk und Kintsch

Nach dem Modell des strategischen Textverstehens werden in einem zyklischen Prozess kontinuierlich Hypothesen über die Struktur und Bedeutung des Textes entwickelt und diese bei fortschreitender Textanalyse und Wiederholung von Verarbeitungszyklen ver- festigt oder bei fehlender Passung wieder verworfen. Dieses Modell fokussiert weniger die Hierarchiestufen, in denen der Verstehensprozess von Texten abläuft, sondern orien- tiert sich an der Komplexität und Gesamtheit des Textes und den Funktionen der ver- schiedenen Bestandteile untereinander [vgl. van Dijk, Kintsch 1983, S. 10f]. Textver- stehen läuft auf drei Ebenen ab: Die Verarbeitung der sprachlichen Oberfläche, die Ver- arbeitung der propositionalen Textbasis und die Konstruktion eines mentalen Modells bzw. Situationsmodells. Die strategische Analyse eines Textes hängt nach van Dijk und Kintsch nicht nur von den Merkmalen des Textes ab, sondern auch von Eigenschaften des Lesers, seinem Weltwissen und seinen Interessen. Die Autoren stellen heraus, dass beim strategischen Prozess keine einheitliche Repräsentation des Textes existiert [vgl. van Dijk, Kintsch 1983, S. 11].

Es wird deutlich, dass sich das Strategie- und Situationsmodell kaum voneinander un- terscheiden. Kintsch und van Dijk haben noch weitere Modelle entwickelt, die sich je- doch auch nicht mehr grundlegend von den dargestellten Modellen unterscheiden. Ein weiteres Modell ist zum Beispiel das Konstruktions- und Integrationsmodell von Kintsch, welches die Grundannahmen bisheriger Modelle um „die Rolle des Wissens und der persönlichen Erfahrung des Verstehens“erweitert. Nach diesem Modell wird Wissen in einem Netzwerk mit sich gegenseitig aktivierenden Wissensknoten gespeichert [Kintsch 1994, S. 39].

5.2.2 Neuere Modelle zur Textverarbeitung

Auch heutige Modelle nehmen an, dass bei der kognitiven Verarbeitung eines Textes multiple mentale Repräsentationen gebildet werden. Die Bildung der sprachlichen Ober- flächenstruktur ist Grundlage für die Erstellung von Propositionen zum semantischen Gehalt des Textes (Textbasis) sowie die darauf aufbauende Bildung mentaler Modelle [Schnotz 1994; Engelkamp 1992, 1995; Glenberg, Langston 1992; Fletcher, Chrysler 1990 und andere]. Einige Modelle nehmen an, dass bei diesen Konstruktionen mentale Datenstrukturen aktiviert werden, die Erfahrungen des Lesenden beinhalten. Das Ver- stehen eines Textes beruht demnach auf der Aktivierung dieser Datenstrukturen (kogni- tive Schemata) durch die Textinformation [vgl. Schnotz 2001, S. 301].

6 Verstehensmodelle zu mathematischen Textaufgaben

In den 1980er Jahren haben intensive Untersuchungen über den Verstehensprozess bei mathematischen Textaufgaben stattgefunden. Riley hat 14 Grundtypen von Textaufga- ben durch Einteilung in die drei Situationsmodelle „combine“ , „change“ und „compare“ (Kombinations-, Austausch- und Vergleichsaufgaben) in Kombination mit den gesuch- ten Mengen „Startwert“ , „Veränderungswert“ oder „Zielwert“ und den mathematischen Operationen Subtraktion oder Addition erstellt [vgl. Riley, Greeno 1988, S. 51; Nesher et al. 1982, S. 375]. Die Lösungsraten dieser Textaufgabentypen gaben Aufschluss über ihre Schwierigkeitsunterschiede. Es wurde deutlich, dass sowohl Aufgaben mit gleicher Rechenoperation aber unterschiedlicher sprachlicher Gestaltung als auch Aufgaben mit unterschiedlichem mathematischen Schwierigkeitsgrad aber ähnlicher sprachlicher Ge- staltung ganz unterschiedliche Lösungshäufigkeiten aufweisen und Austausch- und Kombinationsaufgaben für die Kinder generell einfacher zu lösen sind als Vergleichs- aufgaben [vgl. Stern, 1998, S. 90].

Auf Grundlage dieses Wissens wurde eine Reihe von Modellen entwickelt, die sowohl den Prozess des Verstehens und Lösens von Textaufgaben simulieren als auch Schwie- rigkeiten beim Lösen dieser Aufgaben erklären sollen. Die drei bedeutendsten sind die mathematisch-logischen Modelle, die Textverstehensmodelle und das Modell SituationProblemSolver.

6.1 Mathematisch-logische Modelle

Ausgehend von Piagets Stufenmodell über die logisch-mathematische Entwicklung von Kindern gehen Vertreter dieses Modells davon aus, dass die Fähigkeit zur Lösung von Textaufgaben unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen von der Entwicklung logischmathematischer Wissensstrukturen und Konzepte, das heißt vom mathematischen Wissensstand und dem Vorhandensein von Problemmodellen beim Schüler abhängt [vgl. Nesher et al. 1982, S. 373; Riley, Greeno 1988, S. 50]. Nach Riley und Greeno beinhaltet das Verstehen von Textaufgaben zwei Prozesse:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Lösungsprozess nach dem mathematisch-logischen Modell [eigene Darstellung]

„1. representing patterns of information in the meanings of terms in the text

2. constructing a semantic model that represents the situation that the text describes“[Riley, Greeno 1988, S. 55].

Dem Text werden Informationen in Form von Propositionen entnommen und direkt in ein mathematisches Problemschema übertragen, falls dieses beim Schüler vorhanden ist. Einmal aufgebaute Problemschemata können nach diesem Modell direkt auf Probleme angewendet werden [vgl. Stern 1998, S. 97].

Untersuchungen zu den Grundtypen von Textaufgaben zeigten, dass Kindergartenkinder und Erstklässler einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben ohne mathematisches Wissen aus der Schule, sondern lediglich durch direktes Umsetzen in eine Zählstrategie lösen können. Für schwierigere Textaufgaben ist dagegen die Entwicklung mathemati- scher und logischer Wissensstrukturen in Form eines Teil-Ganzes-Schema notwendig [vgl. Nesher et al. 1982, S. 392; Stern 1998, S. 100]. Schüler durchlaufen mehrere Ent- wicklungsstufen und erlangen sukzessive diejenigen Fähigkeiten, die für das Lösen schwierigerer Typen von Textaufgaben notwendig sind [vgl. Riley, Greeno 1988, S. 66].

In den Untersuchungen von Greeno und Riley wurde außerdem deutlich, dass das Rechnen bei jüngeren Schülern an konkrete anschauliche Handlungen geknüpft ist. Dies wurde bei jüngeren Schülern dadurch deutlich, dass sie bei einfacheren Aufgaben mit Bauklötzen als Hilfsmittel bessere Ergebnisse erzielten als ohne. Schwierigere Aufga- bentypen wurden trotz Hilfsmittel nicht besser gelöst. Außerdem wurde deutlich, dass der Vergleich von Mengen für Schüler deutlich schwieriger zu sein scheint als der Aus- tausch und die Kombination von Mengen, da sie sich diese deutlich leichter vorstellen können [vgl. Riley, Greeno 1988, S. 55f].

Obwohl die Rechenoperationen in allen Aufgabentypen vergleichbar waren, wurden Aufgaben des Typs „compare“ am seltensten richtig gelöst. Kompliziertere Vergleiche und Teil-Ganzes-Beziehungen können nämlich erst von älteren Schülern gelöst werden, bei denen geeignete konzeptionelle Strukturen, die zur Lösung der Aufgabe nötig sind, vorhanden sind. Ein weiterer wichtiger Schritt beim Lösen von Textaufgaben besteht in der Aktivierung eines geeigneten mathematischen Problemmodells [vgl. Cummins et al. 1988, S. 406; Riley, Greeno 1988, S. 55f].

Riley und Greeno räumen in ihrem Aufsatz ein, dass Schwierigkeiten beim Lösen von Aufgaben des Typs „compare“ neben dem mathematischen Verständnis auch auf ein fehlendes Text- und Situationsverstehen beruhen müssen. Nach dem mathematischlogischen Verstehensmodell werden diese Aufgaben nämlich einem geringen Schwierigkeitsgrad zugeordnet, obwohl sie vielen Schülern enorme Schwierigkeiten bereiten [vgl. Riley, Greeno 1988, S. 84].

Bei diesen und anderen Aufgabentypen, bei denen die mathematisch-logischen Modelle keine Erklärungskraft mehr bieten, weil sie den Schwierigkeitsfaktor der Sprachverar- beitung nicht berücksichtigen, setzen die Textverstehensmodelle an. Sie sehen die Komponente des Textverstehens als Ursache für Schwierigkeiten beim Lösen von Text- aufgaben.

6.2 Textverstehensmodelle

Im Gegensatz zu den Vertretern von mathematisch-logischen Modellen, die die Bedeu- tung von mathematischem Wissen und das Vorhandensein geeigneter Modelle für das Lösen von Textaufgaben betonen, vertreten Cummins, Kintsch, Greeno, Dellarosa und Reusser einen Ansatz, welcher das Textverstehen für das Lösen von Textaufgaben her- vorhebt und vorhersagt, dass trotz vorhandenem mathematischen Wissen ohne ausrei- chendes Textverstehen Aufgaben nicht gelöst werden können [vgl. Reusser 1992, S. 228]. Die Tatsache, dass Schüler nicht in der Lage waren eine Textaufgabe zu lösen, wohl aber die dazugehörige Rechenaufgabe, ließ sie daran zweifeln, den Grund für Schwierigkeiten bloß in dem bei dem Schüler nicht vorhandenen spezifischen mathema- tischen Modell zu sehen. Die zum Teil sehr unterschiedlichen Lösungsquoten mathema- tisch ähnlicher Textaufgaben regten sie dazu an, den Einfluss des Textverstehens für das Bewältigen einer Textaufgabe zu untersuchen [vgl. Cummins et al. 1988, S. 405f].

Als Ansatzpunkt dienten Aufgaben des Typs Vergleichsaufgabe („compare“ ), zum Bespiel die folgende:

„5 Vögel haben Hunger. Sie finden 3 Würmer. Wie viele mehr Vögel als Würmer gibt es?“ . Diese Aufgabe wurde von 17% bis 64% der untersuchten Grundschüler richtig gelöst. Dagegen lag die Quote für die Umformulierung „Wie viele Vögel bekommen keinen Wurm?“ bei 83% bis 100%. Durch diese Umformulierung und somit Veränderung der Oberflächenstruktur der Aufgabe wurde sie sprachlich enorm erleichtert. Außerdem erscheint sie Schülern nun viel realistischer, da sie näher an der Alltagssprache der Kinder liegt. Das korrekte Lösen einer Textaufgabe liegt demnach nicht nur an dem mathematischen Wissen und dem Anwenden mathematischer Strategien und Techniken, sondern in besonderem Maße an sprachlichen Fakto- ren [vgl. Kintsch, Greeno 1985, S. 111; Reusser 1990, S. 5].

Kintsch und Greeno untergliedern ähnlich dem Situationsmodell den Prozess der mathematischen Textverarbeitung in mehrere Schritte:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Mathematische Textverarbeitung nach Kintsch und Greeno [eigene Darstellung]

Zunächst wird eine propositionale Mikro- und Makro- struktur aufgebaut, die sehr textnah ist und als „Text- basis“bezeichnet wird. Auf Grundlage dieser Textbasis werden dann direkt ein Situati- onsmodell und daraus ein mathematisches Problemmodell, das heißt ein Modell, das die mathematischen Aspekte der Aufgabe umfasst, erstellt [vgl. Kintsch, Greeno 1985, S. 110; Reusser 1992, S. 228; Reusser 1990, S. 6]. Grundlage zum Aufbau dieser Modelle ist zunächst das Textverstehen und erst danach das mathematische Wissen. Schwierigkeiten von Schülern beim Lösen von Textaufgaben begründet dieses Modell mit einem unzureichenden Sprachverständnis bei diesen Aufgaben.

[...]


1 Zur besseren Lesbarkeit wird für die Begriffe Schüler und Schülerin die männliche Form benutzt

Final del extracto de 89 páginas

Detalles

Título
Mathematisches Textverständnis. Eine empirische Untersuchung von Haupt- und Realschülern
Universidad
University of Münster  (Mathematik)
Calificación
1,0
Autor
Año
2010
Páginas
89
No. de catálogo
V205145
ISBN (Ebook)
9783656328780
ISBN (Libro)
9783656330530
Tamaño de fichero
1016 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
mathematisches, textverständnis, eine, untersuchung, haupt-, realschülern
Citar trabajo
Anna Hülsdünker (Autor), 2010, Mathematisches Textverständnis. Eine empirische Untersuchung von Haupt- und Realschülern, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205145

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