Zwischen Tugendrigorismus und Emanzipation

Frauenkonstellationen in Lessings Miβ "Sara Sampson" und "Emilia Galotti"


Bachelorarbeit, 2011

45 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung

2. Das Menschenbild im aufklärerischen 18. Jahrhundert
2.1 Bildung und Aufschwung des bürgerlichen Selbstbewusstseins
2.2 Familienideale und Moralvorstellungen

3. Humanistische Konstellationen im bürgerlichen Trauerspiel der Aufklärung
3.1 Tugend und Moral: eine utopische Gesellschaftsgestaltung?
3.2 Tugendbegriff und Frauendarstellung bei Lessing

4. Zu Lessings Mi β Sara Sampson
4.1 Streben nach väterlichen Prinzipien
4.2 Die zu erwartende Konfliktsituation
4.3 Die ,,wollüstige Marwood‘‘
4.4 Auswirkungen von Saras Tod
4.5 Die Verführung und das Böse als Antipoden der Tugend

5. Zu Lessings Emilia Galotti
5.1 Die Rolle der Claudia Galotti und der Orsina
5.2 Emilia Galotti, tugendhaft oder zwischen den Fronten?
5.3 Emanzipatorische Ansätze gegen strenge Idealvorstellungen
5.4 Emilias Tod als Flucht vor ihrem Tugendverlust
5.5 Das Scheitern als Merkmal des lasterhaften Menschen

6. Fazit

7. Quellenangabe

1. Einleitung

Diese Bachelor-Arbeit setzt sich mit der Darstellung der Frauenfiguren in Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichen Trauerspielen Miβ Sara Sampson und Emilia Galotti auseinander. Die Protagonistinnen der Werke, Sara und Emilia, werden im Hinblick auf ihre Tugendvorstellungen, ihre Handlungen und die damit verbundenen Emanzipationsversuche analysiert. Wie der Titel der Arbeit besagt, stehen die beiden Frauen zwischen Tugendrigorismus und Emanzipation.

Diese beiden Begriffe, die auf den ersten Blick antagonistisch erscheinen, sind eng miteinander verbunden. Unter Tugendrigorismus wird im Folgenden das starre Festhalten an bürgerlichen Wertevorstellungen verstanden, welches die Frauen in ihrem Handeln beeinflusst und prägt. In der Aufklärung wird dem Menschen Sittlichkeit vermittelt, die er einhalten muss, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Die aufkommende Bewegung in dieser Epoche und die damit verbundene Wissbegierde setzen eine gewisse Moral voraus, damit sich der denkende und sich weiterbildende Mensch anpassen kann. Dem Tugendrigorismus wird der antagonistische Begriff der ,,Emanzipation‘‘ entgegengesetzt, der die Loslösung von den bürgerlichen Prinzipien meint.

Der Fokus der Arbeit liegt somit auf der Frage, inwiefern Lessings Frauenfiguren nach den Sittlichkeitsauffassungen zur Zeit der Aufklärung und der Empfindsamkeit handeln und inwiefern sie trotzdem versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. Dabei werden neben den Protagonistinnen auch die jeweiligen Gegenspielerinnen Marwood und Orsina wie auch Emilia Galottis Mutter Claudia analysiert. Die Rolle der Antagonistinnen Marwood und Orsina wird dabei in Betracht gezogen, so wie ihr Einfluss auf die Protagonistinnen selbst und auf die Wende in den beiden Tragödien.

Inwiefern ist der Tugendbegriff von Bedeutung für das Verständnis der Handlungsmotive von Sara Sampson und Emilia Galotti? Dieser Fragestellung wird ein Einblick in die Charakteristika der Epoche vorangesetzt, da die Prinzipien der Aufklärung und das zwiespältige Handeln der Hauptfiguren der beiden Trauerspiele miteinander verbunden sind. Der literaturgeschichtliche Hintergrund verweist auf die bürgerlichen Intentionen und das Streben nach Wissen im 18. Jahrhundert. Aufgrund der Tatsache, dass der Mensch sich auf intellektueller Ebene entwickeln will, wird auch das Familienbild sichtlich verändert. Das

häusliche Leben ist von Moral geprägt, die der Hausvater vermittelt, damit die Zeitgenossen tugendhaft handeln und sich der Lebensführung der Gesellschaft anpassen. So bestand ,,die Basis für die neue Form der Kommunikation im übergreifenden aufklärerischen Diskurs, das heiβt im gemeinsamen Interesse an der Verbreitung von Wissen und Wissenschaft zum Zwecke der moralischen Verbesserung des Menschengeschlechts‘‘[1]. Die in der Aufklärung vorgegebenen Normen lassen sich auch in den bürgerlichen Trauerspielen wiederfinden. In den Tragödien wird der Fokus auf die familiäre Geselligkeit gesetzt und somit lassen sich oftmals gleiche Handlungsschemata herausstellen.

Insofern befasst sich diese Arbeit in einem zweiten Punkt mit der Analyse der humanistischen Konstellationen im bürgerlichen Trauerspiel. Dabei wird deutlich, dass die vermittelte Sittlichkeit eng mit dem Laster verbunden ist und dadurch unbewusst an die Sinne appelliert. Um diese These abzurunden, wird Lessings Tugendbegriff so wie seine Frauendarstellung betrachtet. Dadurch entsteht bereits ein erstes Bild der Lebensführungen der Protagonistinnen Sara und Emilia. Die Figuren sind sich in ihrem Verhalten ähnlich, da sie auf eine gewisse Art und Weise vor den auferlegten bürgerlichen Prinzipien fliehen wollen, jedoch aufgrund der Tatsache, dass die Moral tief in ihnen verankert ist, in ihrem Handeln unsicher sind.

Dieser Aspekt wird anhand ihres Todes verdeutlicht, da Sara Sampson wie auch Emilia Galotti im Tod die Buβe für ihre Sinneshaftigkeit sehen. Aufgrund der Tatsache, dass der Mensch ein dualistisches Wesen ist, eine intelligible und eine sinnesreiche Seite besitzt, sind beide Frauen ihren Trieben unterlegen und bleiben nur durch ihren Tod tugendhaft. Da dieser somit in Zusammenhang mit dem Konflikt und dem Tugendproblem steht, wird eine Analyse über die Gründe und die Funktionen des Todes erfolgen.

2. Das Menschenbild im aufklärerischen 18. Jahrhundert

Die Aufklärung, eine Geistesbewegung, die von Frankreich (,,siècle des lumières‘‘) und England (,,enlightment‘‘) ausging, steht symbolisch für die Sonne, die alles erhellen und den Menschen zur Vernunft führen soll (,,lumen ingenii‘‘)[2]. Die Epoche der Aufklärung gilt als eine Periode, in der die Gesellschaft ihre Denkprozesse durch den Gebrauch der Vernunft erweitert. In Frankreich findet die Epoche ihre Ansätze im Rationalismus, geprägt von René Descartes, der den Menschen folgendermaβen definiert: So lange der Mensch sich seiner Vernunft bedient, so lange existiert er (,,cogito, ergo sum‘‘). In England steht John Locke mit seiner Lehre vom Empirismus stellvertretend für die Grundtendenzen des späteren aufklärerischen Denkens. Die Loslösung von alten, fremd gewordenen Autoritäten und das damit verbundene Streben nach neuem Wissen bringen Erkenntnisfortschritte und den Aufschwung des Bürgertums mit sich. Die kritischen Reflexionen, besonders die Religion und den herrschenden Absolutismus betreffend, bewegen die Zeitgenossen dazu, ihre Vernunft zu nutzen und die Aufklärung somit als eine Art Reformbewegung zu sehen. Der angesprochene Paradigmenwechsel entwickelt sich um die Jahrhundertmitte. Der Widerstand gegen herrschende Normen und vorgegebene Lebensweisen seitens des Bürgertums findet sich in der Literatur wieder und lässt die Menschen im Zeitalter der Revolutionen[3] auf ein neues, utopisches System hoffen.

Während d’Alembert im ,, Essai sur les éléments de philosophie‘‘ (1750) in allgemeiner Form ein ››changement remarquable dans nos idées‹‹ und eine ››révolution de l’esprit humain‹‹ konstatiert, spricht Diderot explizit vom Beginn einer wissenschaftlichen Revolution: In seiner 1753 erstmals […] erschienenen Schrift Pensées sur l’Interprétation de la nature verkündet er den Bruch: ››Nous sommes au moment d’une grande révolution dans les sciences‹‹.[4]

Die Aufklärung des Menschen soll im Sinne von Meinungsaustausch, kritischer Distanz zu bisher auferlegten, elitären Schriften und Literaturmerkmalen und im Sinne von Reflexion über die Gemeinschaft und das Leben an sich erfolgen. Die Menschen sollten sich über alle möglichen Themen austauschen, um somit ihr Wissen zu erweitern und nicht auf einer Entwicklungsebene zu verweilen. Durch das ständige In-Frage-Stellen der vorgegebenen Normen kommt es während dieser Epoche oftmals zu Paradigmenwechseln, was beispielsweise die Theaterreform oder die Stellung der Frau betrifft.

2.1 Bildung und Aufschwung des bürgerlichen Selbstbewusstseins

Zu dieser Zeit liefern die Philosophen und Schriftsteller, besonders Descartes, Locke, Diderot, Kant, den Individuen ein anderes Bild von der Wirklichkeit und stellen das absolutistische Denken in Frage. Vor Immanuel Kant setzt sich Moses Mendelssohn intensiv mit der Frage ,,Was ist Aufklärung?‘‘ auseinander und kommt 1783 zu folgender Erkenntnis:

Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens […]. Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen. […] Aufklärung hingegen scheine sich mehr auf das Theoretische zu beziehen. Auf vernünftige Erkenntnis (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken über Dinge des menschlichen Lebens nach Maβgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen.[5]

Später treibt besonders Immanuel Kant den Aufschwung des Bürgertums voran: ,, Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit . Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘‘[6] In diesem allgemein bekannten Zitat zeigt sich das revolutionäre Streben der Zeitgenossen. Die Bildungsbewegung, die nun auch den niederen Schichten einen Schulzugang bietet, führt zu einem verstärkten Emanzipationswillen innerhalb der bürgerlichen Reihen. Auf diese allgemeine Tendenz der Hinterfragung der alteingesessenen Denkschemata hat auch Schmidt bereits reagiert und festgestellt, dass der Vernunftglaube zu einer Verdrängung der theologischen Ansichten führt: ,,Vernunft und Moral traten an die Stelle von Glauben und Religion […]. Die Welt und ihr Ordnungsgefüge verloren ihre vorgängige Einheit und Eindeutigkeit‘‘[7].

Durch die gewollte Verdrängung theologischer Prinzipien und exegetischer Welterklärung rückt das Allgemeinmenschliche in den Fokus des bürgerlichen, philosophischen und sozialen Denkens. Der Mensch, von Natur aus ein Vernunft- und Sinneswesen, soll lernen, seine Vernunft einzusetzen, um dadurch neue Leitideen zu gewinnen. ,,Das Vertrauen in die Anlage und unbegrenzte Bildsamkeit findet hier Ausdruck. In diesem Glauben ist die Aufklärung nichts anderes als eine einzige groβe Erziehungsbewegung, die, wie Kant gesagt hat, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus zur Selbstbestimmung führen will[8]. Diese ,,unbegrenzte Bildsamkeit‘‘ des Einzelnen wird durch das Aufkommen der Moralischen Wochenzeitschriften in der Frühaufklärung unterstrichen. Bedeutende Schriftsteller verfassen Artikel für diese Moralischen Wochenzeitschriften, um die Bildung der Menschen anzuregen. Es kann demnach festgehalten werden, dass es zu einer verstärkten bürgerlichen Mobilität kommt. Das Bürgertum, durch mehr Bildung angeregt über sich und die eigene Stellung nachzudenken, will sich von den Traditionen lösen[9]. Die intellektuellen Tendenzen der Zeit führen zu einer gesellschaftsdurchdringenden Reformbewegung.

2.2 Familienideale und Moralvorstellungen

Zum ersten Mal wird auch ,,die Stellung der Frau neu bestimmt. Ihre Beschränkung auf Hauswirtschaft und Kinderpflege soll gelockert, ein behutsamer Anschluβ an die geistigen Bestrebungen gefördert werden‘‘[10]. Die utopische Vorstellung der gelehrten Frau findet man besonders in der Frühaufklärung, die unter dem Einfluss von Johann Christoph Gottsched stand, wieder. Das Scheinbild der dem Mann ebenbürtigen Frau[11] muss mit dem Aufkommen der Empfindsamkeit scheitern. Ebenso wie Gottscheds Forderungen einer gelehrten Frau scheitern auch seine Ansätze einer Tragödientheorie, die er in seinem Werk Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) festhält. Lessing äuβert sich negativ in seinem 17. Literaturbrief aus seiner Schrift Briefe, die neueste Literatur betreffend über die Theaterreform Gottscheds:

,,Niemand‘‘, sagen die Verfasser der Bibliothek, ,,wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.‘‘ Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.[12]

Hier erkennt man, dass Gottscheds Auffassungen, sei es vom Theater oder von den Gesellschaftskonstellationen, langsam durch andere Tendenzen ersetzt wurden. Die Wende von der gebildeten Frau zur tugendhaften Hausfrau wird vor allem durch Jean-Jacques Rousseau unterstützt. Dadurch wird das frühaufklärerische Frauenbild in Frage gestellt und die Frau wird somit ,,an den heimischen Herd verwiesen und als Hausfrau und Mutter auf den engen Raum der Familie beschränkt‘‘[13]. Sie steht unter dem Regime des Hausvaters, verkörpert die Tugend und die Unschuld des weiblichen Geschöpfs und bildet eine Stütze für den arbeitenden Mann. Obwohl verschiedene Frauen versucht haben, im öffentlichen, literarischen Leben Fuβ zu fassen, ist es nur den wenigsten gelungen. Oftmals stehen Frauen ,,auβerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mündiger, gleichberechtigter Bürger, wie sie von der Mehrheit der aufgeklärten Denker konzipiert war‘‘[14]. Der Tugendbegriff der damaligen Zeit, bezogen auf die Frau, ist in der Zeit der Frühaufklärung von vernünftigem Handeln bestimmt. Um die Jahrhundertmitte hingegen wird die Tugend eher mit weiblicher Unschuld und Reinheit gleichgesetzt[15]. Vor allem die bürgerliche Familie vollzieht eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Das Haus und die Familie sind Inbegriffe des bürgerlichen Lebens. Hier kann man sich vom auferlegten Laster der Auβenwelt zurückziehen. Insgesamt wird der Mensch

nicht mehr als Glied einer Korporation, vielmehr als freier und besonderer einzelner gedacht. Auch wo Adlige diese Ideale tragen, entsprechen sie doch der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Tendenz zur Verdampfung der ständischen Ordnung und zur Freisetzung des Subjekts, das sich in der Geschäfts- und Ӧffentlichkeitssphäre im freien Wettbewerb der Fähigkeiten in der Privatsphäre in der Hingabe an eine zweck- und herrschaftsfreie ideale Kommunikation der Geister und Herzen entfaltet, nicht ohne daβ die Sphären einander wechselseitig mit Konflikten aufladen und in Frage stellen.[16]

Im bürgerlichen Trauerspiel wird nicht mehr der Adel in den Mittelpunkt gestellt, sondern das Geschehen wird in den bürgerlich-privaten Raum verlegt. Der bürgerlichen Familie, repräsentiert durch den Hausvater, werden mehr Privilegien und Rechte zugesprochen. Der Bürger wird als mündig gewordener Mensch dargestellt. Durch Jean-Jacques Rousseaus Schrift Emile, ou de l‘Education (1762) werden die Kinder als besondere Wesen, die eine besondere Förderung brauchen, gesehen und sollen sich mittels eigener Erfahrungen selbst weiterbilden[17].

3. Humanistische Konstellationen im bürgerlichen Trauerspiel der Aufklärung

Der folgenden Untersuchung soll eine Erklärung des Terminus ,,bürgerliches Trauerspiel‘‘ vorstehen, ist dieses Verständnis doch grundlegend für die Argumentation der Arbeit. Im Laufe der Zeit erfährt dieser Begriff eine Bedeutungsverschiebung. Er bezieht sich nicht mehr nur auf die gesellschaftliche Stellung der Protagonisten oder des Publikums, sondern weitet seinen Bedeutungskontext aus. Bürgerlich ist ein Individuum, das jenseits der Standesschranken nach den bürgerlichen Prinzipien handelt und sich ,,nicht verstanden sehen will als Glied eines Standes, sondern als Glied der Menschheit in ihrer Gesamtheit, als Weltbürger‘‘[18]. Das bürgerliche Trauerspiel rückt demnach die individuelle Lebensführung in den Mittelpunkt, anstatt sich auf allgemein gültige Standeskonventionen zu stützen.

Dieses bürgerliche Befinden wird unterstrichen durch ein Denken, das sich nicht nur auf das vernünftige Wesen bezieht, sondern auf alle Mitmenschen um dieses Wesen herum. Durch dieses literarische Vorgehen im Drama soll eine breite Identifikationsmöglichkeit für das Publikum mit den Hauptprotagonisten geschaffen werden. Wenn man laut Wolfgang Schaer bedenkt, ,,daβ die Kluft zwischen Bühne und Parkett aufgehoben werden soll, daβ das Publikum gleichsam sich vor sich sehen soll, so kann man den Schluβ ziehen, daβ das auf der Bühne dargestellte in Übereinstimmung steht mit der Lebensauffassung, die das Publikum vertritt‘‘[19].

3.1 Tugend und Moral: eine utopische Gesellschaftsgestaltung?

Ein weiteres Hauptthema des Trauerspiels ist die familiäre Geselligkeit. Inmitten der Häuslichkeit und der Wertschätzung der Familie steht der Tugendbegriff an wichtiger Stelle. Der häuslichen Idylle wird als antagonistischer Handlungsraum der Hof entgegengestellt, welcher sich vor allem durch Intrigen und Hinterlist auszeichnet. Dringt er in den Raum der Familie ein, wird das angestrebte Tugendideal in Frage gestellt und läuft Gefahr vernachlässigt zu werden[20]. Durch die Lebensführung eines Menschen rücken Standesgrenzen in den Hintergrund. So definiert Wolfgang Schaer, dass man ,, einer Gesinnung ‘‘ ist, ,,über die Standesgrenzen hinweg […] und daher eine ,Familie‘ ,bilden‘ kann‘‘[21]. Charakteristisch für den bürgerlichen Menschen im Trauerspiel sind vor allem sein familiäres und häusliches Leben und die Zusammengehörigkeit der Familie. Somit ist der bürgerlich lebende Mensch ein helfender Familienmensch, der in der vertrauten Gemeinsamkeit eine unbeschwerte Zeit erlebt. Das Bürgertum, das seinen eigenen Wert anerkennt und würdigt,

hat es nicht nötig, sich bei anders lebenden Menschen anzubiedern; jeder,,Stand‘‘ trägt seinen Wert in sich. […] Die ständische Ordnung wird als etwas Geheiligtes angesehen; sie allein garantiert Sicherheit und innerhäusliche und innerpolitische Ruhe; sie gilt als das Fundament jeglichen menschlichen Zusammenlebens. […] Bürger ist er dann, wenn er an der ihm gemäβen sozialen Stelle innerhalb der Gesellschaft steht; im Rahmen der gottgewollten Ordnung hat der Mensch seinen Platz auszufüllen.[22]

Die mittelalterliche Definition des Einzelnen anhand einer Gruppen- oder Standeszugehörigkeit wird zusehends abgelehnt: Der Bürger zeichnet sich durch seinen Charakter und seine Einzigartigkeit aus und soll als Identifikation dienen. Denn

dass der Fokus dieser Dramaturgie tatsächlich der isolierte einzelne Bürger ist, bestätigt umgekehrt die Mitleidsethik, die als Antidot die Isolation der bürgerlichen Subjekte, ihre Individualisierung, zu kompensieren trachtet. Bürgerliche Vereinzelung soll durch Mitleid, durch die Fähigkeit zur Empathie, zur Identifikation, aufgefangen werden.[23]

Durch die Vermittlung von Tugend und Moral herrschen in der Gesellschaft gewisse Normen, die eingehalten werden sollen. Im bürgerlichen Trauerspiel so wie in der Aufklärung sind die Grundsätze der Ethik vorherrschend. Die Gesellschaft wird auf eine gewisse Art und Weise durch Moralvorstellungen definiert und die Abweichung von Sittlichkeit wird zu dieser Zeit als Sünde gesehen, die eine gerechte Buβe voraussetzt. Insofern besitzt der Bürger im Trauerspiel nicht alle Rechte, sondern muss sich gewissen Regeln fügen, damit sein Handeln als richtig angesehen wird. Die Tugendvermittlungen sollen die Sinne unterdrücken und Platz für das aufklärerische Denken schaffen. Insofern ist die Gesellschaftsgestaltung im bürgerlichen Trauerspiel nicht immer utopisch, da Moral und Laster eng miteinander verbunden sind. Der Übergang von früh anerzogener Sittlichkeit zu den eigenen Trieben hat Folgen: Die Figur im bürgerlichen Trauerspiel ist orientierungslos, weil das Bewusstsein über das Ausmaβ der Sinnlichkeit fehlt. Die dominierende Wertschätzung der Familie und der Tugend rückt die Triebe in den Hintergrund und appelliert trotzdem unbewusst an das Laster.

3.2 Tugendbegriff und Frauendarstellung bei Lessing

Dieses Kapitel soll bereits einen Einblick in Lessings Dramen Miβ Sara Sampson und Emilia Galotti geben, um die Verknüpfung der Frauenfiguren mit der Tugend und dem Laster aufzuzeigen. Moral und Sittenverfall sind die beiden Antipoden, die in den Lessingschen Dramen oftmals zum Ausdruck gebracht werden. Lessing schafft es, eine Ambiguität zwischen seinen Protagonistinnen aufzubauen, indem er auf der einen Seite die reizvolle Unschuld der Frau für den Mann in den Mittelpunkt setzt, auf der anderen Seite hingegen gerade die Anfälligkeit der Frau für das verhängnisvolle Begehren aufgreift. Diese Diskrepanz von Tugend und Laster begleiten Lessings Frauentypen durch ihr Leben und machen deutlich, dass ,,die Reinheit […] ohne ihr Gegenteil, die Wollust, nicht zu denken‘‘[24] ist.

Unter Berücksichtigung dieses Aspektes der Frau, die nicht immer tugendhaft sein kann, da die Sinnlichkeit sich oftmals dominanter als die Tugendnorm herausstellt, wird deutlich, dass Lessings Emilia Galotti und Sara Sampson ,,Opfer einer Fetischisierung der Reinheit, die ursächlich in männlichen Vorstellungen begründet ist und die sie selbst für sich annehmen‘‘[25], sind.

Das Motiv der Verführung, das die reine, vermeintlich unantastbare Seite des weiblichen ,,Engels‘‘ in Frage stellt, ist ein wesentliches Merkmal, das prägnant in Lessings beiden Dramen Emilia Galotti und Miβ Sara Sampson hervorgehoben wird. In beiden Dramen stehen sich weibliche Antagonisten gegenüber. Die einfühlsamen Figuren der Emilia Galotti und Sara Sampson bestreiten ihren Lebensweg, auf dem sie jedoch den intriganten und lasterhaften Figuren Marwood und Orsina begegnen. Genau dieses Verhältnis zwischen Gut und Böse und der damit verbundene Zerfall und Übergang des Guten, des Reinen ins Verhängnisvolle, Lasterhafte deckt das Spiel mit zwei sich anziehenden und sich ergänzenden Antipoden auf. Der Aspekt der überwindbaren Grenze von Tugend und Laster kann man auf die gesamte Menschheit anwenden, da der Mensch lediglich ein bestimmtes Moment braucht, um von einer Seite zur anderen zu gelangen, da sich der Reiz für die Sinne dominant gegenüber der Sittlichkeit zeigt. Insofern greift die Gegenüberstellung der beiden Extrema des menschlichen Handelns die grundlegenden Triebkräfte jeder Existenz auf.

[...]


[1] Meyer, Annette: Die Epoche der Aufklärung. Berlin: Akademie, 2010, S. 119.

[2] Vgl. Baumann, Barbara, Oberle, Birgitta: Deutsche Literatur in Epochen. Ismaning: Max Hueber, 1997, S. 75.

[3] Vgl. Glaser, Horst Albert, Vajda, György M.: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760-1820. Philadelphia: John Benjamins, 2001, S. 1.

[4] Ebd., S. 185.

[5] Mendelssohn, Moses: Über die Frage: was heiβt aufklären? In: Bahr, Erhard (H.g.): Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Stuttgart: Reclam, 2008, S. 4.

[6] Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Bahr, Erhard (H.g.), 2008, S. 9. Ich beziehe mich hier auf den Kantschen Wahlspruch der Aufklärung, der lange Zeit als vorherrschend für die Emanzipationsbewegung galt.

[7] Schmidt, Georg: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2009, S. 10.

[8] Vgl. Kaiser, Gerhard: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2007, S. 26.

[9] Vgl. ebd., S. 43.

[10] Ebd., S. 25. Im Folgenden zitiere ich in alter Rechtschreibung nach Kaiser, die in allen Quellen beibehalten wird.

[11] Vgl. Stephan, Inge: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln: Böhlau, 2004, S. 21.

[12] Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Leipzig: Reclam, 1987, S. 51.

[13] Stephan, S. 22.

[14] Meyer, S. 189.

[15] Vgl. Stephan, S. 22.

[16] Kaiser, S. 42.

[17] Vgl. Meyer, S. 186.

[18] Schaer, Wolfgang: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts. Bonn: Bouvier, 1963, S. 2.

[19] Ebd., S. 29.

[20] Vgl. D‘ Aprile, Iwan-Michelangelo, Siebers, Winfried: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin: Akademie, 2008, S. 148.

[21] Schaer, S. 32.

[22] Ebd., S. 39.

[23] Schöβler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, S. 32.

[24] Stephan, S. 24.

[25] Ebd., S. 25.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Zwischen Tugendrigorismus und Emanzipation
Untertitel
Frauenkonstellationen in Lessings Miβ "Sara Sampson" und "Emilia Galotti"
Hochschule
Université du Luxembourg
Note
2.0
Autor
Jahr
2011
Seiten
45
Katalognummer
V205153
ISBN (eBook)
9783656323099
ISBN (Buch)
9783656324966
Dateigröße
720 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
zwischen, tugendrigorismus, emanzipation, frauenkonstellationen, lessings, sara, sampson, emilia, galotti
Arbeit zitieren
Nathalie Tremont (Autor:in), 2011, Zwischen Tugendrigorismus und Emanzipation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205153

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