Das "Fremde" als Phänomen im Alten Orient: Neuassyrische Massendeportation im Kontext sozialer Randgruppen


Bachelorarbeit, 2010

39 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe

INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Fragestellungen
1.3 Ziel und Methoden

2. Soziale Randgruppen und das „Fremde“ in der Theorie und im Alten Orient
2.1 Was sind soziale Randgruppen in der modernen Theorie?
2.2 Was sind soziale Randgruppen im Alten Orient?
2.3 Was ist das „Fremde“ in der modernen Theorie?
2.4 Was ist das „Fremde“ im Alten Orient?

3. Quellen
3.1 Königsinschriften
3.2 Onomastikon und Quellenproblematik

4. Neuassyrische Massendeportation
4.1 Ziele der neuassyrischen Massendeportationen
4.2 Wie viele Menschen wurden deportiert?
4.3 Woher kamen die Deportierten?
4.4 Wer genau wurde deportiert?
4.5 Wie wurden die Deportierten behandelt?
4.6 Definition und Integration: Über den Status der Deportierten mithilfe der Terminologie
4.6.1 Wahrnehmung durch die Assyrer
4.6.2 Integrationswillen der Assyrer: Was gibt es für Hinweise einer Integration der Deportierten?
4.6.2.1 Hinweise in der Terminologie
4.6.2.2 Hinweise auf den rechtlichen Status
4.6.2.3 Hinweise auf den wirtschaftlichen Status
4.7 Konsequenzen und Auswirkungen : Rebellion vs. Loyalität

5. Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse: Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit Fremden und Randgruppen im Alten Orient
5.1 Warum die Deportierten Fremde waren
5.2 Warum die Deportierten keiner sozialen Randgruppe angehörten

Literatur- und Abbildungsverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

1.1 Forschungsstand

Das Interesse an der Thematik sozialer Randgruppen im Alten Orient ist erst seit den 1970er Jahren Bestandteil der Forschung in der Altertumswissenschaft. Sozialhistorische Forschungsinteressen in Bezug auf Minoritäten und Außenseiter in der antiken Gesellschaft gehörten lange nicht zum Untersuchungsgegenstand.

Über das „Fremde“ als Phänomen im Alten Orient gibt es zahlreiche Fachliteratur. „Die Dämonisierung des Fremden und des Feindes im Alten Orient“ von Volkert Haas (1980) z. B. gibt einen Einblick in die Wahrnehmung von Fremden in Mesopotamien. Doris Prechel (1992) hat sich ebenfalls mit der Stellung der Fremden im Alten Orient befasst.

Die Publikation „Außenseiter und Randgruppen“ (Haas 1992) ist ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Alten Orients und dient mit den Artikeln zu marginalisierten Personengruppen von Blocher, Haas, Klengel, Klinger, Lambert, Maul, Prechel, Renger und Wilcke als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Randgruppen“. „Soziale Randgruppen und Außenseiter im Altertum“, herausgegeben von Ingomar Weiler (1988), gehört ebenfalls zur Basis der Sekundärliteratur, wobei die Bearbeitung des Themas hier das gesamte Altertum umfasst und nicht auf den Vorderen Orient beschränkt ist.

Für die Behandlung der neuassyrischen Deportationen ist Bustenay Odeds Publikation „Mass Deportations and Deportees in the Neo-Assyrian Empire“ zentral und eines der wenigen, das sich schwerpunktmäßig in der Fachliteratur damit befasst. Walter Mayer (2004) hat einen kurzen Überblick zur Deportation in Mesopotamien verfasst. Helmut Freydank (1975) hat einen Beitrag zu Deportierten im mittelassyrischen Staat geschrieben. Mit der Lage der Kriegsgefangenen im frühen Mesopotamien hat sich Gelb (1973) auseinandergesetzt. Simo Parpola (2007) schreibt über die neuassyrischen Herrscher als soziale Klasse und beschreibt die assyrische imperialistische Politik der Vereinheitlichung und „Assyrianisierung“. Julia Zablockas Arbeiten (1972 und 1974) sind hilfreich bei der Bestimmung des Status der Deportierten und deren Einbindung in die Wirtschaft Assyriens.

1.2 Fragestellungen

Im Hinblick auf Identitätsdefinition ergeben sich folgende Fragen: Wie definiert man Fremde und Randgruppen heute? Wie wurden sie im Alten Orient definiert? Die Deportierten wurden nach bestimmten Kriterien durch die Assyrer bestimmt. Die Assyrer haben sich selbst definiert, um sich nach außen abzugrenzen. Welche Kriterien waren für die Identitätsbildung im neuassyrischen Staat ausschlaggebend?

Fragestellungen in Bezug auf Ziele und Hintergründe der neuassyrischen Massendeportationen sind folgende: Wie viele Menschen wurden deportiert und woher kamen sie? War die Auswahl der Deportierten selektiv, oder auf eine bestimmte soziale Gruppe beschränkt?

Der nächste Schritt ist die Integration oder die Marginalisierung. Folgende Fragen ergeben sich aus dieser Ebene: Wie war der Einfluss der Deportierten in der neuassyrischen Gesellschaft? War eine Integration der Deportierten möglich? Wie war ihr rechtlicher und wirtschaftlicher Status? Wurden sie aufgrund von Vorurteilen diskriminiert oder sogar marginalisiert, d. h. an den Rand der Gesellschaft gedrängt?

Können die Deportierten nach heutiger Begriffsbestimmung als soziale Randgruppe bezeichnet werden? Waren die Deportierten Fremde, Unbekannte oder Ausländer, die von der Gesellschaft abgelehnt und ausgegrenzt wurden?

1.3 Ziel und Methoden

Ziel dieser Arbeit ist es, moderne theoretische Ansätze über Fremde und soziale Randgruppen aus dem Kontext der Soziologie anzuwenden auf die Thematik der neuassyrischen Massendeportationen. Handelt es sich bei den Deportierten wirklich um Fremde und ausgestoßene Personengruppen? Die Sprache der Soziologie von heute dient als Orientierung, um so die neuassyrischen Königsinschriften zu interpretieren, wobei die Inschriften die Primärquelle darstellen. Die Methode ist demnach sowohl soziologisch als auch philologisch orientiert. Um sich den Fragestellungen anzunähern bietet sich folgende Vorgehensweise an: Mithilfe der Quellen werden die Gründe für die Deportationen in neuassyrischer Zeit erläutert. Ziele und Absichten, Zahlenangaben, Auswahlkriterien und die Durchführung bzw. Behandlung der betroffenen Personengruppen werden beschrieben.

Schließlich werden Terminologien der Assyrer für die Deportierten und deren Einsatzfelder untersucht, um sich mit der Frage nach ihrem Status und ihrer Position in der neuassyrischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Es wird versucht, aus den Quellen einen rechtlichen und sozioökonomischen Status abzuleiten und eine Integrationsstrategie (Maßnahmen zur Integration oder zum Ausschluss der Deportierten) der assyrischen Könige aufzuzeigen. Abschließend soll die Position der Deportierten durch einen Vergleich mit Fremden und Randgruppen aus dem Alten Orient festgelegt werden.

2. Soziale Randgruppen und das „Fremde“ in der Theorie und im Alten Orient

2.1 Was sind soziale Randgruppen in der modernen Theorie?

„Randgruppe, Sozialwissenschaften: Bez. für Personengruppen, die in eine bestimmte Gesellschaft nur teilweise integriert bzw. von deren Gratifikationen (Wohnung, Arbeit, Geld, u. a.) ganz oder teilweise ausgeschlossen sind; begrifflich sowohl materielle Unterversorgung (z. B. Armut, Arbeitslosigkeit) umfassend als auch mangelnde soziale Konformität (z. B. Homosexualität, Prostitution) sowie fehlende Möglichkeiten der persönl., sozialen oder polit. Partizipation (Behinderte, Alte, Ausländer, Strafgefangene).“[1]

Um sich der Randgruppenproblematik auf theoretischer Ebene zu nähern, müssen wir eine Begriffsbestimmung vornehmen. Laut Klengel sind „Randgruppen der Gesellschaft […] keine stabilen oder in ihrer Zusammensetzung gleichbleibenden Teile der Bevölkerung. Sie werden von der jeweiligen Gesellschaft eines staatlich oder noch nicht staatlich organisierten Territoriums definiert.“ Außerdem sollen „die unteren Schichten den wesentlichen Anteil an der Entstehung von Randgruppen gehabt haben […], da sich die übrigen als die ‚Norm’ verstanden und die Oberschicht diese festschrieb“ (Klengel 1992: 15).

Eine Randgruppe ist nach dem Wörterbuch der Soziologie (Hartfiel 1982: 621) ein:

„[…] locker oder fester organisierter Zusammenschluß von Personen, die ein niedriges Niveau der Anerkennung allg. verbindl. sozio-kultureller Werte u. Normen sowie der Teilhabe an ihren Verwirklichungen u. am Sozialleben (der ‚Kerngesel.) überhaupt erkennen lassen. Je stärker eine Ges. in relativ unabhängig voneinander orientierte u. wirkende Bereiche aufgeteilt ist (z.B. Militär, Kunst, Erziehung, Wirtschaft), um so größer ist die Chance der Entstehung von partiellen R.n.“.

Eine Gruppe von Personen wird als soziale Randgruppe bezeichnet, wenn sie am Rand der Gesellschaft, also ausgegrenzt von allgemein verbindlichen zentralen Normen und Werten eines bestimmten Sozialverbandes angesiedelt ist. Randgruppen sind nicht in die Gesellschaft integriert. Sie sind nicht dazu fähig, die Gesellschaft auf persönlicher, sozialer oder politischer Ebene mitzugestalten. Außerdem ist die Bildung, Erscheinungsform und Ausdifferenzierung von Randgruppen stark von der Stratifikation und der Hierarchisierung einer Gesellschaft abhängig. Demgegenüber bezieht sich eine nähere Bestimmung der „Mitte“ der Gesellschaft auf die Inhaber der politischen und wirtschaftlichen Macht und somit auf die herrschenden Gruppen dieser Gesellschaft (Weiler 1988b: 14).

Die Problematik bezüglich der Analogiebildung muss einem bewusst sein. Die Vorgehensweise, moderne Theorien 1:1 umzusetzen und auf das Altertum zu übertragen, ist schwierig und darf nicht den Anspruch auf Universalität haben. Problematische Begriffe wie „Randgruppe“ haben damals noch nicht in der Form existiert. Wenn solche Begriffe und Theorien vorsichtig eingesetzt werden, können sie auch angewendet werden.

2.2 Was sind soziale Randgruppen im Alten Orient?

Während der gesamten altorientalischen Zeit hat es ausgeschlossene, an den Rand der etablierten Gesellschaft getriebene Bevölkerungsteile gegeben[2], wobei die Hintergründe und die Intensität der Randgruppenbildung nie gleichbleibend waren, sondern von politischen Veränderungen und sozialer Struktur abhängig waren (Klengel 1992: 16).

Die Omensammlung š umma ālu (1998: 33-37) zählt viele Gruppen auf, die aufgrund abweichender religiöser Vorstellungen, Lebensweisen, krimineller Delikte, Berufe oder körperlicher Mängel als böses Omen für eine altorientalische Stadt wahrgenommen wurden. Sie wurden anscheinend nach dem Grad der Marginalisierung oder Bedrohung für die Stadt aufgelistet. Manche der Apodosen (Konsequenzen des Omens) sind nicht nachzuvollziehen (Haas 1992b: 38-45). Trotzdem sind diese Omen ein Hilfsmittel zur Auseinandersetzung mit Randgruppenphänomenen im Alten Orient.

Was können Gründe für eine Ausgrenzung sein? Klengel formuliert mögliche Gründe für die Ausgrenzung von Gruppen im Alten Orient (1992: 15f.), die im Folgenden mit Beispielen veranschaulicht werden:

Ein Grund für Ausgrenzung im Alten Orient bezieht sich auf die Zugehörigkeit zu einer anderen Ethnie bzw. der Verwendung einer anderen Sprache . Im Fluch von Akkade wurden beispielsweise die Gutäer besonders negativ bewertet und ethnisch diskriminiert: „Gutäer, ein Volk, das nicht Hemmungen kennt, mit menschlichem Instinkt, aber hündischer Intelligenz und affenartigen Zügen.“[3]

Ein weiterer Grund bezieht sich auf religiöse Vorstellungen und abweichende kultische Praktiken. Beispiele dafür gibt es im Zusammenhang mit den Gutäern: „The Guti were oppressive people, without instruction in divine worship. They did not know how to properly perform divine rites (and) ordinances” (TCS 5: 149 f., Z. 56f.).

Ein weiterer Grund für Ausgrenzung im Alten Orient sind andere Lebens- und Verhaltensweisen, z. B. in Verbindung mit nomadischen Verhältnissen. Der MAR.TU -Mythos beschreibt die Nomaden als unzivilisiertes Volk ohne Kulturtechniken, wie Ackerbau oder Sesshaftigkeit: „Der Mann, der die Trüffeln am (Rande des) Hochlands ausgräbt, der das Knie nicht zu beugen weiß, der rohes Fleisch ißt, der zeitlebens kein Haus hat, der nach seinem Tode nicht (richtig) bestattet wird.“[4]

Die Ausübung bestimmter Berufe, die entweder wenig geschätzt oder mit Erscheinungen verbunden waren, die von der Gemeinschaft als gefährlich empfunden wurden, bildet auch einen Grund der sozialen Ausgrenzung . Zu den verfemten Berufen schienen die Dattelsammler zu gehören: „If date contractors are numerous in a city, commerce will diminish in the land“ (š umma ālu 1998: 35, Z.118). Die tabuisierten Kultdiener kurgarr û[5] und assinnu, die in Verbindung zum Kult der Ischtar standen, gehörten ebenfalls zu den Randgruppen. Ablehnung erfolgte aus der Angst vor Übermenschlichkeit, ihrem Sexualverhalten (Transsexualität) und Gefahr durch zu große Macht dieser Personen (Maul 1992: 166). Hinweise für eine Ausgrenzung von Gauklern sind z. B. das häufige Vorkommen von körperlichen Missbildungen (Buckligkeit, Zwergenwuchs, Blindheit) und die Darstellung als nackte Akteure (Blocher 1992: 97). Sänger werden in š umma ālu (1998: 35, Z.126) aufgeführt: „If singers are numerous in a city, there will be enmity in the land“. Die Abwertung von Prostituierten zeigt eine literarische Satire: „Why did you insult the daughter of a citizen, your equal, And call her a prostitute, So that (her) husband divorced her?”[6] Die Dämonisierung von Frauen allgemein war mit dem Glauben an ihre magischen Fähigkeiten verbunden, z. B. bei Hexen und Hebammen (Haas 1992b: 36f.). Hebammen wurden gefürchtet und galten als unrein: Kindbettdämonen wie Lamaštu kamen mit ihnen in Berührung.

Wegen körperlicher Mängel oder Eigenheiten, die zum Teil als gottgewollte Fehler betrachtet wurden, hat man Kranke oder Behinderte abgelehnt: „If blind men are numerous in a city – trouble for the city” (š umma ālu 1998: 33, Z.95). Kranke und Krüppel waren ebenfalls ein böses Omen für die Stadt: „If cripples are numerous in a city – trouble for the city“ (šumma ālu 1998: 33, Z.98).

Außerdem erfolgte Ausgrenzung wegen krimineller Delikte, durch die gegen die Gesetze und Interessen der Gesellschaft verstoßen wurde . Das bezieht sich auf Diebe und Mörder, die laut Wilcke aber aufgrund fehlender Belege nicht marginalisiert wurden und daher nicht als Randgruppe zählen (Wilcke 1992: 66).[7] Kriminelle wurden trotz Wilckes These zumindest in der Omensammlung als gefährliche Vorzeichen gelistet: „If robbers are numerous in a city, there will be enmity“ (š umma ālu 1998: 35, Z.129).

Stigmatisierungen[8] um sozial ausgegrenzte Gruppen nach außen zu kennzeichnen, gab es bei bestimmten randständigen Personen, wie z. B. bei Sklaven, denen eine Halbglatze rasiert wurde.[9] Prostituierte wurden durch ein Schleierverbot zumindest zeitweise stigmatisiert. Um Kriminelle kenntlich zu machen, hat man Nasen, Ohren, Finger oder Lippen abgeschnitten (Haas 1992b: 35). Natürlich waren alle diese Merkmale der Ausgrenzung je nach Periode und Region ständigen Veränderungen und Umwertungen unterworfen.

Die folgenden Faktoren begünstigten, laut Klengel, die Bildung von Randgruppen im Alten Orient:

„Eine Verarmung durch Kriegsnot, Wucher oder wirtschaftliche Krisen, durch Amtsmissbrauch, Naturkatastrophen oder andere Ereignisse; eine freiwillige oder zwangsweise Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen in andere Lebensräume, d. h. Migration oder Deportation; einen politischen Umbruch, der auch mit ethnisch-kulturellen Veränderungen verbunden sein konnte; durch Un- oder Zufall ohne unmittelbaren Konnex zu den oben genannten Faktoren“ (Klengel 1992: 16).

D. h., dass insbesondere politisch instabile Zeiten die Randgruppenbildung maßgeblich beeinflusst haben. Ob sich Deportationen wirklich auf die Bildung von Randgruppen auswirken, ist eine Frage die später in dieser Arbeit untersucht wird.

2.3 Was ist das „Fremde“ in der modernen Theorie?

Das „Fremde“ bezeichnet hier nicht das strukturell abstrakte Andersartige (Fremdheit), sondern bezieht sich auf unbekannte Personen, also auf individuelle Fremde.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass ein Fremder alles das ist, was ein Einheimischer nicht ist.

Doris Prechel (1992: 173) definiert Fremde folgendermaßen:

„Von soziologischer Seite wird der Fremde als der Unbekannte definiert, dem es verwehrt ist, soziale Kontakte aufzunehmen, da sein Wissen über die Gesellschaft nicht ausreicht, vor allem aber die Gesellschaft in Unkenntnis über seine soziale und individuelle Existenz ist. Er besitzt demgemäß Merkmale, die ihm auch bei längerem Aufenthalt in der betreffenden Gesellschaft eine Integration unmöglich machen, da er deren kulturellen Mustern und grundlegenden Wertideen entgegensteht.“

Fremde sind also Träger von bestimmten Merkmalen, welche eine Integration in die Gesellschaft oder Gleichbehandlung unmöglich machen. Das Wörterbuch der Soziologie definiert „Fremder“ und „Fremdgruppe“ ähnlich wie Prechel (Hartfiel 1982: 222f.). Zusätzlich werden Polarisierungstendenzen erwähnt, die zu Vorurteilen und Diskriminierung der Fremden führen. Diese Maßnahmen sollen in erster Linie die Eigengruppe stabilisieren und konsolidieren.

Nach Galter (1988: 278f.) wird ein Fremder meist negativ definiert. Außerdem kann er nur mit dem Rückhalt einer Eigengruppe dauerhaft bestehen, weil er sich als Individuum irgendwann den Verhaltensnormen der Gesellschaft anpassen muss. Dieser Prozess hängt von der Assimilationsbereitschaft der Fremden und dem Integrationswillen der Gesellschaft ab. D. h., dass man die einzelnen Fremden, die sich vollständig assimiliert haben, gar nicht mehr identifizieren kann, weil sie in den Quellen nicht mehr auftauchen. Galter schlägt so genannte „Integrations- und Assimilationsindikatoren“ vor, um den Integrationsstand der Fremden zu ermitteln. Zusätzlich zu den Indikatoren „Spracherwerb“ und „Namensänderung“ nennt er folgende:

„Auf der sozioökonomischen Ebene bieten sich als Integrationsanzeiger die Berufsposition, die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs, die Einkommensverhältnisse oder die Wohnungsqualität, auf der soziopolitischen Ebene die Familiensituation, die Zahl der Mischehen oder der Zugang zu öffentlichen Ämtern und schließlich auf der topographischen Ebene der Segregationsgrad oder das Vorhandensein einer ethnienspezifischen Infrastruktur an“ (Galter 1988: 277).

Hilfsmittel, um Integrationsgrade zu erkennen, sind demnach die soziale und wirtschaftliche Position oder der Status der Fremden in der Gesellschaft.

2.4 Was ist das „Fremde“ im Alten Orient?

„L’étranger se définit négativement“.

„L’étranger est souvent un ennemi“.

„[…] l’étranger, c’est l’autre“.[10]

Die Auseinandersetzung mit Fremden war im rohstoffarmen, aber handelsoffenen Mesopotamien ganz alltäglich. Die Geschichte der mesopotamischen Staaten ist geprägt von einer ständigen Auseinandersetzung mit den verschiedensten Völkern, wobei die Beziehungen stets ambivalent waren. In der mesopotamischen Literatur finden sich häufig stereotype Charakterisierungen fremder Völker, besonders im Kontext von Einwanderungen oder Durchreisenden, beispielsweise von Nomaden (Prechel 1992: 173).

Die Bedrohung durch Gebirgsvölker des Zagros im Osten und durch die Wanderbewegungen von Völkern der Wüsten- und Steppengebiete im Westen führte zu starken politischen Veränderungen in der inneren Struktur der einzelnen Staaten (Haas 1980: 37). Die Lage der Einwanderer schwankte stets zwischen Ablehnung und Integration.

[...]


[1] Brockhaus 2002: 732.

[2] Auch im klassischen Altertum gab es diskriminierte, von der Gesellschaft ausgeschlossene Personengruppen (Weiler 1988b: 15).

[3] Aus dem „Fluch von Akkade“ zitiert nach Prechel (1992: 174). In der Beschwörungsserie maqlû, IV. Tafel wurden außerdem fremde Gebirgsvölker dämonisiert, d. h. die Fähigkeit des Zauberns wurde Gebirgsvölkern, wie den Gutäern und den Lullubäern zugeordnet (Prechel 1992: 175).

[4] Aus OIP XV: 58, IV, Z. 26-29. Textübersetzung nach Schuler (1965: 4).

[5] Ein Beispiel aus der Omensammlung: „If kurgarrû -performers are numerous in a city – dispersal [of the city.]” (š umma ālu 1998: 33, Z.96).

[6] Aus TIM zitiert nach Lambert (1992: 132). Die bekannteste Passage über die Verfluchung einer Prostituierten ist von Enkidu aus dem Gilgamesch Epos: B. Foster, The Epic of Gilgamesh (New York 2001) 55f.

[7] Laut Wilcke handelte es sich bei den Dieben um Einzeltäter, die Teilnehmer der Gesellschaft waren und nicht marginalisiert wurden. Es gibt in den Texten keine Hinweise auf Warnungen vor Diebesbanden oder gefährliche Stadtteile. Bei Todesurteilen von Mördern stellt sich nicht die Frage einer Marginalisierung.

[8] „Stigma (lat.) ‚Brand-, Schandmal’, phys., psych. oder soziales Merkmal, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gruppe (oder der Ges.) negativ unterscheidet u. aufgrund dessen ihr soziale Differenzierung, Isolation oder sogar allg. Verachtung droht (Stigmatisierung). Zumindest eingeschränkte soziale Kommunikation u. Akzeptierung erleiden“ (Hartfiel 1982: 734 f.).

[9] Nach Haas (1992b: 35) ist das durch Serien wie ana = ittišu und den Codex Hammurabi belegt.

[10] (Limet 1972: 123, 130, 124) So fasst Henri Limet die Stellung der Fremden in Sumer kurz zusammen.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Das "Fremde" als Phänomen im Alten Orient: Neuassyrische Massendeportation im Kontext sozialer Randgruppen
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Altorientalistik)
Note
1,8
Autor
Jahr
2010
Seiten
39
Katalognummer
V205378
ISBN (eBook)
9783656333715
ISBN (Buch)
9783656335177
Dateigröße
931 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
fremde, phänomen, alten, orient, neuassyrische, massendeportation, kontext, randgruppen
Arbeit zitieren
Katharina Rolfes (Autor:in), 2010, Das "Fremde" als Phänomen im Alten Orient: Neuassyrische Massendeportation im Kontext sozialer Randgruppen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205378

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