Sexualität gehört für jeden Menschen zum Leben dazu. Für den einen mehr für den anderen weniger. Niemand würde bezweifeln, dass der Mensch ein sexuelles Wesen ist. Geht es aber um die Sexualität von Kindern, so scheiden sich die Geister.
Über Sexualität mit anderen Erwachsenen offen zu sprechen fällt den Meisten schwer, an Gespräche mit ihren kleinen Kindern ist da erst recht nicht mehr zu denken. Selbst in der Grundschule, wo Sexualität im Sexualkundeunterricht das erste Mal behandelt wird, geht es ausschließlich um biologische Sachverhalte, die körperlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau und wie ein Baby im Bauch der Mutter zu Stande kommt und heranwächst. Eigenes Lustempfinden und Gefühle wie „verliebt sein“ sowie Homosexualität werden nur vereinzelt oder gar nicht behandelt.
Da ist es nicht verwunderlich, dass bei einem Großteil der Bevölkerung Unglauben und Skepsis vorprogrammiert ist, wenn sie sich nun den Titel „Sexuelle Übergriffe – Kinder als ‚Täter?!‘ “ dieser Arbeit betrachten.
Die Wenigsten können sich vorstellen, dass bereits Kindergartenkinder zu solch einem Verhalten fähig sind.
Dabei ist es auch für die ErzieherInnen nicht immer einfach die Grenze zwischen sexueller Aktivität und sexuellem Übergriff zu erkennen.
Zu Beginn jedes Kapitels bekommt der Leser nochmal eine ausführliche Einleitung, die auf die folgenden Themen vorbereitet.
Die Arbeit ist in vier Kapitel unterteilt. Als erstes werden die theoretischen Grundlagen aufgezeigt, die die Basis für die empirische Untersuchung bilden. Das Kapitel ist in die Hauptthemen, Sexualität, Sexuelle Aktivitäten von Kindern, Sexualerziehung und sexuelle Übergriffe unter Kindern gegliedert, die wiederum einzelne thematische Schwerpunkte bearbeiten.
Das zweite Kapitel behandelt schließlich die empirische Untersuchung der Arbeit. Hier wird der Verein Strohhalm e.V. und seine Arbeit vorgestellt, sowie das zentrale Erkenntnisinteresse, das Erhebungsdesign, die Durchführung der Untersuchung und das verwendete Auswertungsverfahren vorgestellt und erläutert.
Im dritten Kapitel werden schließlich die Interviewthemen der Erzieherinnen der vier Kindertageseinrichtungen dargestellt.
Letztendlich erfolgt im vierten Kapitel dann die Auswertung der Ergebnisse. Zudem werden die Schlussfolgerungen der Ergebnisse ausführlich erläutert.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel I: Theoretische Grundlagen
1. Sexualität
1.1 Alltagsverständnis
1.2 Wissenschaftsverständnis
1.3 Erwachsenensexualität
1.4 Kindliche Sexualität
1.4.1 Zeitlicher Ablauf von sexueller Missbrauch
1.4.2 Kindliche sexuelle Bedürfnisse und sexueller Missbrauch
2. Sexuelle Aktivitäten von Kindern
2.1 Pädagogischer Umgang mit sexuellen Aktivitäten von Kindern
3.Sexualerziehung
3.1 Sexualerziehung in der Geschichte
3.2 Sexualerziehung in der Familie
3.2.1 Exkurs: Sexualerziehung und Homosexualität
3.2.2 Geschlechtstypische Erziehung
3.3 Sexualerziehung im Kindergarten
3.4 Sexualerziehung als Prävention vor sexuellem Missbrauch
4. Sexueller Übergriffe unter Kindern
4.1 Zentrale Merkmale sexueller Übergriffe
4.2 Ursachen für sexuelle Übergriffe
4.3 Folgen für die betroffenen Kinder
4.4 Fachlicher Umgang mit sexuellen Übergriffen in Kindergärten nach Strohhalm e.V.
4.5 Sexualpädagogisches Konzept zum fachlichen Umgang mit Sexualität und Sexualerziehung
Kapitel II: Anlage der Untersuchung
1. Strohhalm e.V
2. Das zentrale Erkenntnisinteresse
3. Das Erhebungsdesign
3.1 Wer soll befragt werden?
3.2 Auswahl der Untersuchungsmethode
4. Durchführung der Untersuchung
4.1. Kontaktaufnahme
4.2 Durchführung der Interviews
4.3 Nachbereitung der Interviews und Aufbereitung der Daten
5. Das Auswertungsverfahren
5.1 Kontrolle der Transkriptionen anhand der Tonbandaufnahmen
5.2 Identifizieren von Themenkomplexen
5.3 Themenanalyse
5.4 Bestimmung von Grundmustern auf der Basis thematisch geordneter Substrate
5.5 Konstruktion deskriptiver Modelle
Kapitel III: Betrachtung der Interviewthemen
1. Kindertageseinrichtung Rudolfplatz
1.1 Tagesstruktur
1.2 Die Stimmung in der Gruppe
1.3 kindliche Sexualität
1.4 Vorfall
1.5 Das Beratungsgespräch und der weitere Verlauf
2. Kindertageseinrichtung „zur Heimat“
2.1 Tagesstruktur
2.2 Die Stimmung in der Gruppe
2.3 kindliche Sexualität
2.4 Der Vorfall und das weitere Vorgehen
3. Kindertageseinrichtung Melanchthon
3.1 Tagesablauf
3.2 Die Stimmung in der Gruppe
3.3 kindliche Sexualität
3.4 Der Vorfall
3.5 Die Beratung und das weitere Vorgehen
4. Luisenkindergarten
4.1 Die Tagesstruktur
4.2 Die Stimmung in der Gruppe
4.3 Doktorspiele und der Umgang damit
4.4 Der Vorfall
4.5 Die Beratung und der weitere Verlauf
Kapitel IV: Auswertung der Ergebnisse und Folgerungen
1. Die Ausrichtung der Kindertageseinrichtung
2. Das Alter der Erzieherinnen
3. Der Umgang mit sexuellen Aktivitäten von Kindern
4. Das Wissen über sexuelle Übergriffe unter Kindern und der Umgang damit
5. Erfahrungen mit Strohhalm e.V
6. Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Onlineverzeichnis
Einleitung
„Sexualität ist die Nahtstelle zwischen Körper und Seele schlechthin.
Sie ist zum einen ganz und gar körperliches Geschehen,
zum anderen reichste und tiefste menschliche Möglichkeit,
um der Seele Sprache und Ausdruck zu verleihen.“
(Löbner, 1998, S. 31)
Sexualität gehört für jeden Menschen zum Leben dazu. Für den einen mehr für den anderen weniger. Niemand würde bezweifeln, dass der Mensch ein sexuelles Wesen ist[1]. Geht es aber um die Sexualität von Kindern, so scheiden sich die Geister. Behauptet der eine, dass Sexualität bei Kindern unmöglich ist, da sie asexuell sind, ist der andere fest davon überzeugt, dass auch Kinder eine Sexualität besitzen. Ein Dritter ist verunsichert und kann weder der einen noch der anderen Seite zustimmen. Doch woran liegt das? Sehr wahrscheinlich daran, dass die meisten Menschen bei dem Wort kindliche Sexualität an ihre eigene, erwachsene, Sexualität denken. Sie verbinden Sexualität mit Liebe, Sex und anderen sexuellen Praktiken. Dass kindliche Sexualität sich von der Sexualität eines Erwachsenen unterscheidet ist den Wenigsten bekannt. Hinzu kommt, dass Sexualität in unseren Breitengraden ganztags zwar in Form von „fast“ nackten weiblichen Körpern in den Medien plakatiert wird, ansonsten aber in den „Betten“ der Menschen stattfindet und wenn, dann nur unter guten Freunden thematisiert wird. Über Sexualität mit anderen Erwachsenen offen zu sprechen fällt den Meisten schwer, an Gespräche mit ihren kleinen Kindern ist da erst recht nicht mehr zu denken. Selbst in der Grundschule, wo Sexualität im Sexualkundeunterricht das erste Mal behandelt wird, geht es ausschließlich um biologische Sachverhalte, die körperlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau und wie ein Baby im Bauch der Mutter zu Stande kommt und heranwächst. Eigenes Lustempfinden und Gefühle wie „verliebt sein“ sowie Homosexualität werden nur vereinzelt oder gar nicht behandelt.
Da ist es nicht verwunderlich, dass bei einem Großteil der Bevölkerung Unglauben und Skepsis vorprogrammiert ist, wenn sie sich nun den Titel „Sexuelle Übergriffe – Kinder als ‚Täter?!‘ “ dieser Arbeit betrachten.
Die Wenigsten können sich vorstellen, dass bereits Kindergartenkinder zu solch einem Verhalten fähig sind.
Genau aus diesem Grund möchte ich mich in dieser Arbeit zum einen mit dem Thema kindliche Sexualität, zum anderen aber vor allem mit sexuellen Übergriffen unter Kindern beschäftigen.
In Anlehnung an Strohhalm e.V., die diese Formulierung verwenden, übernehme ich in dieser Arbeit ganz bewusst den Begriff „Übergriffe“ und verzichte auf Begriffe wie „Missbrauch“, „Täter“ und „Opfer“, da diese vor allem in strafrechtlichen Fällen zur Verwendung kommen und die Personengruppe, 3- bis 6-Jährige, die meine Arbeit behandelt nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Ich erachte diese Abgrenzung als sinnvoll, um auch hier nochmal den Unterschied von erwachsener Sexualität zu kindlicher Sexualität zu verdeutlichen.
Nun mag sich manch Leser fragen, warum ich dann den Begriff Täter für die Überschrift meiner Arbeit gewählt habe. Die Begründung liegt nahe: Kinder, die sexuell übergriffig sind, sind natürlich in diesem Sinne auch Täter, während das betroffene Kind in dieser Situation gleichzeitig Opfer war. Da die Begriffe durch die Medien und den allgemeinen Sprachgebrauch jedoch sehr negativ behaftet sind, die Kinder in eine Rolle drängen und die Eltern dazu bringen ihre Kinder vorschnell, aus Angst an den „Pranger“ gestellt zu werden, schützen zu wollen, wird auf die Verwendung dieser Begriffe verzichtet. Ein behutsamer und professioneller Umgang mit den Kindern und deren Eltern kann dadurch gewährleistet werden.
Da die Meisten jedoch keine konkreten Vorstellungen von kindlicher Sexualität und sexuellen Übergriffen unter Kindern haben, möchte ich an dieser Stelle ein paar Beispiele aus den Kindertagesstätten aufzeigen, die von mir interviewt wurden. So oder ähnlich spielen sich sexuelle Aktivitäten der Kinder und sexuelle Übergriffe unter den Kindern immer wieder in den Einrichtungen ab:
Ein Mädchen (5 Jahre) beschwert sich bei ihrer Erzieherin, dass ein Junge (5 Jahre) aus der Gruppe ihr immer auf die Toilette folgt, um ihr dann beim „pullern“ zuzuschauen; vor kurzem wollte er sie „unten“ auch anfassen
Ein 3-jähriger Junge nötigt einen anderen Jungen (4 Jahre) dazu seine Hose und Unterhose auszuziehen, damit er dem Jungen an seinem Penis ziehen kann.
Zwei 5-jährige Jungen stellen in der Spielecke immer wieder geschlechtsverkehrähnliche Positionen nach und bewegen sich rhythmisch dazu
Ein 5-jähriger Junge zwingt ein 4-jähriges Mädchen unter Drohungen dazu seine Unterhose auszuziehen und sich gegenseitig anzufassen
Ein 3-jähriges Mädchen masturbiert sich regelmäßig in der Kindertageseinrichtung
Dabei ist es auch für die ErzieherInnen [2] nicht immer einfach die Grenze zwischen sexueller Aktivität und sexuellem Übergriff zu erkennen. Hier kommt der Verein Strohhalm e.V. ins Spiel, er berät Kindertageseinrichtungen und Grundschulen im Umgang mit kindlicher Sexualität und sexuellen Übergriffen. Die pädagogischen MitarbeiterInnen erläutern den ErzieherInnen die Unterschiede zwischen normaler kindlicher Sexualität und sexuellen Übergriffen und helfen ihnen Konsequenzen zu ergreifen und mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Ziel ist es Sexualerziehung in die pädagogischen Konzepte der Kindertagesstätten zu integrieren, um einen einheitlichen und kontinuierlichen Umgang mit diesem Thema zu gewährleisten, denn letztendlich dient eine umfangreiche altersgerechte Sexualerziehung im Kindergarten auch der Prävention vor sexuellem Missbrauch durch Erwachsene. Denn nur ein Kind, das weiß, dass es „Nein“ sagen kann, wenn es an bestimmten Körperstellen nicht angefasst werden will und das gezeigt bekommen hat, dass Sexualität kein Tabuthema ist, wird sich gegen einen sexuellen Missbrauch wehren können.
Im Folgenden möchte ich nun grob erläutern, wie die Arbeit aufgebaut ist. Zu Beginn jedes Kapitels bekommt der Leser nochmal eine ausführliche Einleitung, die auf die folgenden Themen vorbereitet.
Die Arbeit ist in vier Kapitel unterteilt. Als erstes werden die theoretischen Grundlagen aufgezeigt, die die Basis für die empirische Untersuchung bilden. Das Kapitel ist in die Hauptthemen, Sexualität, Sexuelle Aktivitäten von Kindern, Sexualerziehung und sexuelle Übergriffe unter Kindern gegliedert, die wiederum einzelne thematische Schwerpunkte bearbeiten.
Das zweite Kapitel behandelt schließlich die empirische Untersuchung der Arbeit. Hier wird der Verein Strohhalm e.V. und seine Arbeit vorgestellt, sowie das zentrale Erkenntnisinteresse, das Erhebungsdesign, die Durchführung der Untersuchung und das verwendete Auswertungsverfahren vorgestellt und erläutert.
Im dritten Kapitel werden schließlich die Interviewthemen der Erzieherinnen der vier Kindertageseinrichtungen dargestellt.
Letztendlich erfolgt im vierten Kapitel dann die Auswertung der Ergebnisse. Zudem werden die Schlussfolgerungen der Ergebnisse ausführlich erläutert.
Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Dieses Kapitel behandelt vier große Themenschwerpunkte.
Um sich mit kindlicher Sexualität ausreichend auseinander setzen zu können muss zuerst geklärt werden, was unter Sexualität zu verstehen ist. Der Blick wird dabei zum einen auf das wissenschaftliche aber auch auf das alltägliche Verständnis von Sexualität gerichtet. Im Anschluss werden die Charakteristika erwachsener und kindlicher Sexualität erläutert. Zudem wird der zeitliche Ablauf kindlicher Sexualität skizziert. Wann beginnt kindliche Sexualität und wie entwickelt sie sich im Laufe der Jahre? Abschließend wird die Grenze zwischen kindlichen sexuellen Bedürfnissen und sexuellem Missbrauch dargestellt. An dieser Stelle soll die Verantwortung des Erwachsenen dem Kind gegenüber noch einmal betont werden.
An den Schwerpunkt Sexualität anknüpfend, werden im zweiten Abschnitt sexuelle Aktivitäten von Kindern dargestellt sowie der tatsächliche und geforderte pädagogische Umgang damit erläutert.
Die Grundlage für einen gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität und der Sexualität anderer ist eine offen gestaltete Sexualerziehung. Um die aktuelle Einstellung zu Sexualität besser nachvollziehen zu können, beschäftigt sich der dritte Abschnitt deshalb mit der Sexualerziehung. Dazu wird unter anderem die Geschichte der Sexualerziehung aufgezeigt. Des Weiteren wird anhand von diversen Studien die Sexualerziehung in der Familie und in den Kindertageseinrichtungen beschrieben. Sexualerziehung und Homosexualität sowie die geschlechtstypische Sexualerziehung werden ebenfalls behandelt. Inwiefern Sexualerziehung auch Prävention vor sexuellem Missbrauch darstellt, wird im letzten Punkt dieses Abschnitts genau erläutert.
Der Abschnitt „sexuelle Übergriffe unter Kindern“ schließt dieses Kapitel ab. Themen sind die zentralen Merkmale und die Ursachen sexueller Übergriffe, die Folgen für die betroffenen Kinder sowie der geforderte fachliche Umgang mit sexuellen Übergriffen und die Erstellung sexualpädagogischer Konzepte für einen fachlichen Umgang mit Sexualität und Sexualerziehung nach Strohhalm e.V.
1. Sexualität
Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Es ist der Wunsch nach körperlich-seelischer Lust, Wohlbefinden und Zärtlichkeit. „Sexualität ist auf kein bestimmtes Lebensalter begrenzt, sondern eine Lebensenergie, die den Menschen von der Geburt bis zum Tod speist“ (Kleinschmidt u.a., 1999, S. 23).
Wie Sexualität gelebt und ausgeübt wird ist individuell und nicht zuletzt eine Frage der persönlichen Einstellung, die wiederum gesellschaftlich beeinflusst ist.
„Die gesellschaftliche Formung der Sexualität vollzieht sich unter der Beteiligung vieler ‚Erzieher‘: Von Beginn des Lebens an wirken vor allem die Mütter und Väter und andere ‚primäre‘ Bezugspersonen mit der Art und Weise ihrer Zuwendung auf die sinnliche Entwicklung des Säuglings ein. Später kommen andere ‚Sozialisationsinstanzen‘ hinzu, im Kindergarten, in der Schule, durch Fernsehen und andere Medien, durch Gleichaltrige, Liebespartner…Und diese vielfältige Beeinflussung der individuellen Sexualentwicklung vollzieht sich unter konkreten historischen Bedingungen“ (Weller, K., 2003, S. 1).
Öffentliche Sexualitätsvorstellungen sind jedoch vielfältig und man kann wohl sagen, dass es so viele Vorstellungen darüber, wie Kulturen in Deutschland, gibt, die eine Orientierung für Kinder, wie auch für deren Eltern schwierig machen.
Dass der Mensch ein sexuelles Wesen ist, bleibt jedoch eine psychologische Tatsache und von persönlichen Überzeugungen unberührt. Kinder und Säuglinge werden jedoch nur selten mit Sexualität in Verbindung gebracht. Trotzdem wird Sexualität bereits im Mutterleib erlebt (vgl. Nitsch, 1996, S. 130). Im Folgenden soll nun das Alltagsverständnis von Sexualität beschrieben werden und in Bezug zum Wissenschaftsverständnis gesetzt werden. Anschließend werden die erwachsene und die kindliche Sexualität genauer dargestellt.
1.1 Alltagsverständnis
Der Begriff Sexualität ist noch nicht sehr alt. Seine erste Verwendung fand er 1820 in dem Buchtitel „Die Sexualität der Pflanzen“, von August Henschel. Dies ist insofern bedeutsam, als es einen Wandel im Verständnis von Sexualität markiert.
Der sexuelle Bereich war früher ganz selbstverständlich mit allen anderen Lebensbereichen verbunden. Sexuelle Erlebnisse und Bedürfnisse wurden direkt und differenziert mitgeteilt. Der gegenwärtige Sprachgebrauch, der Begriff wurde in den letzten drei Jahrzehnten aus dem wissenschaftlichen Gebrauch übernommen, dagegen ist abstrakt, es wird mehr verhüllt als offen dargelegt. Der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen vergleicht den Begriff „Sexualität“ daher mit einem Legostein aus Plastik, „glatt und nichtssagend“ (Pörksen, 1988). Wie genau das alltägliche Verständnis von Sexualität nun aber eigentlich beschaffen ist, bleibt, dadurch, dass über Sexualität geredet wird, ohne dabei die realen Erlebnisse mitzuteilen, zwangsläufig im Unklaren. „Gelten doch die unterschiedlichsten Empfindungsqualitäten (z. B. Lust, Schmerz), die in ganz verschiedenen Erlebensdimensionen (z. B. Erotik, Fortpflanzung) erfahren werden können, gleichermaßen als sexuell.“ (Fried, L., 1989, S. 108).
In Folge dessen bleibt oft unklar, was sich Gesprächspartner, wenn sie über Sexualität reden, eigentlich mitteilen wollen. Nach Lilian Fried (1989) können lediglich zwei Vorstellungsaspekte vorausgesetzt werden. Zum einen ein altersspezifisch ausgerichtetes Verständnis von Sexualität und zum anderen ein orgasmus- und genitalzentriertes Verständnis von Sexualität.
„Sexualität wird oft gleichgesetzt mit Genitalität. Gemeint sind dann die primären Geschlechtsorgane und deren Funktion, die körperliche Vereinigung zweier Menschen. Vielleicht ist noch Petting mit eingeschlossen, aber dann hört es auch schon bald auf. Dass Gefühle, Liebe, Lust, Leid und Leidenschaft eine wesentliche Rolle spielen können, ist nicht so richtig herauszuhören.“ (Raffauf, 2003, S. 19).
Die tatsächliche Fülle der Bedeutungsmöglichkeiten von Sexualität führt jedoch dazu, dass der Mensch sich vereinfachte Vorstellungen von Sexualität aufbaut. Mythen, Klischees und Tabus sind die Folge und führen zu starren und überhöhten Vorstellungen, bis hin zu Ausgrenzungen und Verboten, wie die in dieser Arbeit thematisierte kindliche Sexualität.
1.2 Wissenschaftsverständnis
Eine wissenschaftliche Definition des Begriffes Sexualität zu finden gestaltet sich als recht schwierig, da je nach wissenschaftlicher Disziplin und wissenschaftlicher Richtung in der eine Begriffsdefinition versucht wird, eine andere Erklärung gefunden wird.
Sicher ist jedoch, dass die Psychoanalyse, genauer Sigmund Freud, sich am intensivsten damit beschäftigt hat und ein weites Spektrum möglicher Inhalte umfassen konnte.
Während Sigmund Freud Sexualität mit einem angeborenen Trieb versuchte zu erklären, was heute in Fachkreisen als überholt anerkannt wird, gibt es aber noch andere wissenschaftliche Erklärungsansätze zur Sexualität.
Alfred Lorenzer (1977) deutet Sexualität beispielweise als Produkt eines Prozesses, in dessen Verlauf, sowohl das Kind der Mutter seine körperlichen Bedürfnisse signalisiert, als auch die Mutter dem Kind die gesellschaftlichen Regeln, in Form von kulturell geprägten Interaktionsformen und Sprachspielen übermittelt. Kritiker bemängeln, dass Lorenzer zwar die gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt, aber nicht ausreichend erklären kann, warum es innerhalb einer Gesellschaft, dennoch so unterschiedliche sexuelle Vorlieben gibt.
Der dritte Erklärungsansatz, der in diesem Rahmen vorgestellt werden soll, ist der von William Simon (1990). Simon interessiert, wie das Sexuelle in sämtliche Lebensbereiche hineinwirkt und die Erfahrung formt bzw. wie umgekehrt die Erfahrung das Sexuelle fundamental bestimmt. Er geht davon aus, dass dieses Wechselspiel nur verstanden werden kann, wenn wir eine Sprache entwickeln, die sexuelle Erfahrungen möglichst realitätsnah aufbewahrt. „Skripte“ von Kulturen, Gruppen und Einzelnen, in denen sexuelle Erfahrungssedimente aufbewahrt sind, können dadurch entziffert und überschrieben werden. Die verschiedenen Lebensstile könnten mithilfe der unterschiedlichen „Skripte“ zusammenhängend erklärt werden. Allerdings befindet sich dieser Erklärungsansatz noch in seinen Anfängen.
Zusammenfassend bleibt es jedoch dabei, dass eine Erklärung, was Sexualität nun ist, wissenschaftlich nicht zufriedenstellend beantwortet werden kann.
1.3 Erwachsenensexualität
Die Kennzeichen erwachsener Sexualität sollen an dieser Stelle kurz beschrieben werden, um eine Abgrenzung zur kindlichen Sexualität zu erleichtern.
Erwachsene Sexualität ist im Wesentlichen auf die Geschlechtsorgane bezogen, also eine genitale Sexualität. Das Ziel erwachsener Sexualität ist zumeist körperliche Vereinigung und sexuell befriedigende Höhepunkte. Unter Umständen ist Fortpflanzung der Beweggrund.
In der Regel ist erwachsene Sexualität exklusiv und wird mit einem festen Partner gelebt. Biologische und gesellschaftliche Folgen sind dabei bekannt und orientieren sich an moralischen Regeln, die gesellschaftlich, politisch und/oder durch religiöse Überzeugungen beeinflusst sind (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein, 2004, S. 9).
1.4 Kindliche Sexualität
Ich werde mich in diesem Abschnitt der Vollständigkeit halber auf die kindliche Sexualität von Ungeborenen bis hin zu Kindern in der Pubertät beziehen, auch wenn sich mein Augenmerk im empirischen Teil ausschließlich auf die Sexualität von Kindern im Kindergartenalter richte[3].
Die kindliche Sexualität unterscheidet sich grundlegend von der erwachsenen Sexualität. Dank der Psychoanalyse, genauer Sigmund Freud, der als Entdecker der kindlichen Sexualität gilt, konnte aufgezeigt werden wie vielfältig die sexuellen Äußerungsformen beim Kind sind, zudem wurde deutlich, dass sich die Ausprägungen der kindlichen Sexualität von den Formen genitaler Sexualität des Erwachsenen unterscheiden. Während S. Freud aber noch davon ausging, dass sich die kindliche Sexualität in einer festgelegten zeitlichen Abfolge von erogenen Zonen entwickelt, also das Kind in verschiedenen Lebensabschnitten verschiedene Körperbedürfnisse entwickelt, geht man heute davon aus, dass sich die kindliche Sexualität je nach Pflege- bzw. Erziehungs- und Verhaltensgewohnheiten, die sich im täglichen Umgang der Eltern oder anderer Sozialpartner mit dem Kind ergeben, verschieden herausbildet (vgl. Paetzold/Fried, 1989, S. 109f.).
Grundsätzlich gilt, dass dem Kind von Geburt an die ganze Bandbreite des sexuellen Erlebens zur Verfügung steht, wie allerdings diese sexuellen Phänomene von dem Kind erlebt werden, bleibt unklar.
Festgehalten werden kann, dass Kinder sinnliche Stimulationen, durch das Wahrnehmen des Fruchtwassers auf der Haut, das Hören der mütterlichen Stimme, das Schlucken von Fruchtwasser sowie das Lutschen am Daumen bereits im Mutterleib erleben (vgl. auch Nitsch, 1996, S. 130). Somit ist das Kind schon bei der Geburt zum Erfahren sinnlicher Erlebnisse im Stande. Diese verändern und bilden sich jedoch im Laufe der kindlichen Entwicklung aus, da der Körper als Lustquelle erst entdeckt wird.
Es wird zwischen autoerotischer, die sich ausschließlich auf den eigenen Körper richtet, und sozioerotischer Sexualität, die andere mit einbezieht, unterschieden. Im Laufe der Entwicklung wird die sexuelle Neugier zudem mit Fragen versucht zu stillen, anhand dieser sich die Kinder sexuelles Wissen aneignen. Wesentlich ist, welche öffentlichen Vorstellungen Eltern und andere Erzieher vertreten, welche sexuellen Erfahrungen das Kind sammelt und welche sexuellen Verhaltensweisen es dadurch ausleben kann. Die sexuelle Freizügigkeit der Gesellschaft, sowie religiöse Einstellungen spielen dabei eine erhebliche Rolle (vgl. Raffauf, 2003, S. 28).
Erst mit der Pubertät rückt die kindliche Sexualität allmählich in die Nähe der Erwachsenensexualität.
Gerade von jüngeren Kindern werden die sexuellen Bedürfnisse spontan, unbefangen, voller Neugier und schamlos geäußert (vgl. Raffauf, 2003, S.29/ Wandzek-Sielert, 2004, S. 39). Schamgrenzen und gesellschaftliche Sexualnormen internalisieren die Kinder erst im Laufe ihrer Entwicklung. Je jünger die Kinder sind, umso mehr werden Sinneswahrnehmungen des ganzen Körpers als lustvoll empfunden. Die Kinder kennen noch keinen Unterschied zwischen Zärtlichkeit, kuscheln und genitaler Sexualität. Die Ganzheitlichkeit bezieht die Geschlechtsteile zwar schon im Alter von wenigen Monaten mit ein, konzentriert sich aber nicht wie bei der erwachsenen Sexualität darauf.
Kinder gestalten mit Sexualität keine Beziehung und streben keine sexuellen Höhepunkte an, wenn sie mit anderen Kindern sexuell aktiv sind. Sie erforschen ihre Körper, fassen sich an den Geschlechtsteilen an und erleben dabei mitunter sexuelle Erregung, die aber kein Ziel verfolgt. Das sexuelle Interesse und deren Ausprägung sind in jeder Lebensphase variabel. Kinder wollen keine erwachsene Sexualität praktizieren, deren Imitation wird durch spielerische Neugier nicht jedoch durch Lustgefühle geleitet. Kinder haben keinen festen „Sexualpartner“. Das Interesse wird auf Menschen gerichtet, die mit ihm leben und ihm nahe sind. Auch „verliebt sein“ führt zu keiner Exklusivität, denn auch ein verliebtes Kind sucht weiterhin nach sinnlichem Erleben mit anderen Kindern oder Erwachsenen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein, 2006, S. 9 ff.).
Das Wissen um die Unterschiede zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität ist für jeden Erwachsenen, egal ob Eltern oder ErzieherInnen, der erste Schritt, um kindliche Sexualität und sexuelle Aktivitäten von Kindern akzeptieren und fördern zu können.
1.4.1 Zeitlicher Ablauf von kindlicher Sexualität
In diesem Abschnitt soll der zeitliche Ablauf von kindlicher Sexualität skizziert werden. Da meine Arbeit sich auf den Vorschulbereich bezieht, also auf Kinder zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr werde ich mich ausschließlich auf den zeitlichen Ablauf kindlicher Sexualität von der Geburt bis zum Eintritt in die Grundschule beschränken, da nur dieser Bereich für das Verständnis des Lesers relevant ist.
Wie bereits im letzten Abschnitt beschrieben, ist die kindliche Sexualität anfänglich autoerotisch, also auf sich selbst gerichtet. Dabei wird das Berühren des Körpers, beispielsweise durch die Eltern von Beginn an als angenehm und lustvoll empfunden. Bereits nach wenigen Monaten werden, mithilfe der eigenen Hände, durch das Berühren der Genitalien angenehme und sinnliche Gefühle ausgelöst. Diese Berührungen sind jedoch nicht zielgerichtet, sondern finden rein zufällig statt. Die gezielte Berührung der eigenen Geschlechtsteile mit dem Ziel der Lustgewinnung, also Masturbation, ist erst bei Kindern ab ca. 2 Jahren festzustellen.
Sozioerotische Aktivitäten, also sexuelle Aktivitäten mit anderen, treten bereits im Kindergarten auf. Dabei können ab einem Alter von 5 Jahren, zumeist aber ab der Grundschule, erste Gefühle von Verliebtheit hinzu kommen. Diese sind geschlechtsunabhängig und die Zärtlichkeitsbedürfnisse gipfeln nicht in dem Wunsch nach sexueller Vereinigung, sondern umfassen Verhaltensweisen wie ständiges Ansehen, Berührungen, kuscheln, „Händchenhalten" und flüchtige Küsse.
Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass der Wunsch nach sexuellen Aktivitäten mit dem Eintritt in die Schule nachlässt, jedoch nie ganz verschwindet.
Selbsterkundungen und Masturbation finden in der gesamten Kindheit statt. Die Kinder ziehen sich, je älter sie werden, eher zurück und nutzen unbeobachtete Momente für ihre Aktivitäten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Sexualnormen und Schamgrenzen in diesem Alter bereits verinnerlicht wurden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein, 2006, S. 11).
1.4.2 Kindliche sexuelle Bedürfnisse und sexueller Missbrauch
Kinder richten ihr Bedürfnis nach sinnlichem Erleben auch an Erwachsene, dadurch ist es wichtig, dass Erwachsene immer das Wohl des Kindes im Blick haben und für das Kind schädliche Folgen abwenden. Kinder können die Folgen ihrer Tuns nicht abschätzen, sie sind zu klein, um die Grenzen anderer und ihre eigenen Grenzen bereits zu kennen, so dass die Verantwortung immer beim Erwachsenen liegt. Einen sexuellen Missbrauch aus Versehen gibt es nicht. Wann ein Erwachsener kindliche Handlungen als sexuell erregend empfindet kann nur er selbst einschätzen.
„Hier ist das (allerdings streng zu beachtende) Unterscheidungskriterium: In Ordnung ist jede Zärtlichkeit, die den Erwachsenen selbst weder stimuliert, noch den Zweck hat, dies zu tun. Jede Zärtlichkeit jedoch, die einen solchen Beigeschmack hat, ist zu unterlassen. Nicht die konkrete Berührung und Zärtlichkeit kann hier Maßstab sein (…), sondern Maßstab ist die Absicht und die Haltung dessen, der zärtlich ist.“ (Neumann, 1998, S. 7).
Die Verantwortung dafür kann und darf nicht dem Kind zugeschrieben werden. So wie eine Kindergärtnerin einem 3-Jährigen aus Verantwortungsgefühl auch keinen Rotwein zu trinken gibt wenn er danach verlangt, muss sie auch das Sitzen auf ihrem Schoß ablehnen, wenn sie dieses als sexuell erregend empfindet.
Die Grenze zu sexuellem Missbrauch beginnt dort, wo die Befriedigung der eigenen sexuellen Bedürfnisse vor das Wohl des Kindes gestellt wird. Das Bedürfnis des Kindes nach sinnlichem Erleben darf von dem Erwachsenen nicht zur Befriedigung der eigenen sexuellen Bedürfnisse funktionalisiert werden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein, 2004, S. 10).
2. Sexuelle Aktivitäten von Kindern
Sexuelle Aktivitäten von Kindern können, wie bereits in den beiden vorhergegangenen Abschnitten skizziert, vielfältig ausfallen. Ein typischer Begriff für sexuelle Aktivitäten von Kindern ist die Bezeichnung „Doktorspiele“. Er ist im Grunde ein Überbegriff für alle sexuellen Aktivitäten von Kindern, ruht aber daher, dass Kinder gerne Doktorbesuche nachspielen, sich dafür ausziehen, untersuchen und ab und an auch mal Fieber messen wollen. Grundsätzlich gehört zu kindlichen sexuellen Aktivitäten aber mehr als nur das Nachspielen von Arztbesuchen. Anhand der Interviews konnte ich feststellen, dass Kinder sich auch gerne auf den Toiletten beim urinieren beobachten, das Familienleben nachstellen oder bei der Geburt von Geschwistern auch gerne mal eine Geburt nachspielen. Dem Bedürfnis nach kindlicher sexueller Befriedigung und dem stillen der Neugier sind dabei keine Grenzen gesetzt.
2.1 Pädagogischer Umgang mit sexuellen Aktivitäten von Kindern
Der Umgang mit sexuellen Aktivitäten von Kindern, egal ob innerhalb der Familie oder in pädagogischen Einrichtungen, ist abhängig von den individuellen Schamgrenzen eines jeden Erwachsenen. Diese werden durch Erziehung, gesellschaftliches Umfeld, eigene kulturelle, weltanschauliche und religiöse Hintergründe sowie durch individuelle sexuelle Erfahrungen geprägt (vgl. Raffauf, 2003, S. 13). Um einen pädagogischen Umgang mit sexuellen Aktivitäten von Kindern zu gewährleisten, müssen sich die Fachkräfte über ihre eigenen persönlichen Haltungen bewusst werden. „Sexualerziehung verlangt Selbsterziehung.“ (Kentler, 1981, S. 32). Zudem ist es für die Fachkräfte wichtig sich durch Informationen über die kindliche Sexualität und die sexuelle Entwicklung von Kindern weiterzubilden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein, 2004, S. 13). Diese Wissenssammlung hilft, um bei pädagogischen Entscheidungen die Bedeutung, die die kindliche Sexualität für die Persönlichkeitsentwicklung hat, berücksichtigen zu können. Ein bloßes Handeln nach individuellen Schamgrenzen reicht nach Ansicht von Freund und Riedel-Breidenstein nicht aus. Stattdessen kann die Auseinandersetzung mit den eigenen Schamgrenzen und das Ansammeln von Fachwissen bereits zu einer Erweiterung der persönlichen Grenzen führen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein, 2004, S. 13 f.).
Freund und Riedel-Breidenstein (2004) führen für einen angemessenen pädagogischen Umgang mit sexuellen Aktivitäten von Kindern folgende Leitgedanken auf:
1. Sexuelle Aktivitäten von Kindern dürfen nicht auf Grund von individuellen Schamgrenzen grundsätzlich verboten oder sanktioniert werden.
2. Reaktionen, die Sexualität als schlecht und falsch darstellen, müssen vermieden werden. Stattdessen sollten pädagogische Fachkräfte den Kindern gegenüber ansprechen, wenn ihnen ihr Verhalten peinlich oder unangenehm ist und ihnen die Option aufzeigen, ihr Verhalten in einer ungestörten Situation oder Örtlichkeit fortführen zu können. Diese Vorgehensweise begünstigt die Vermittlung von Schamgrenzen. Die Kinder lernen so die (Scham-)Grenzen anderer zu akzeptieren und ihre eigene Intimität vor unerwünschten Beobachtungen zu wahren (vgl. hierzu Raffauf, 2003, S. 30).
3. Pädagogische Fachkräfte sollten darauf achten auf vergleichbare sexuelle Aktivitäten von Jungen und Mädchen ähnlich zu reagieren. Jungen werden nach Studien mehr sexuelle Aktivitäten zugesprochen als Mädchen. Dies liegt zum einen daran, dass Mädchen auf Grund der geschichtlichen Entwicklung, um die Anerkennung von kindlicher Sexualität, eine geringere Motivation zu sexuellen Aktivitäten zugesprochen wird. Zum anderen daran, dass Erwachsene häufig dazu neigen, Mädchen in ihrer sexuellen Intimität schützen zu wollen, da sie in der Gesellschaft und in den Medien häufig auf ihren Körper und ihr Aussehen reduziert werden. Dieser „Schutzimpuls“ sollte von den Fachkräften jedoch vermieden werden, um die Mädchen nicht schon in diesem Alter in eine restriktive Rolle zu drängen. Die Frage, „Würde ich auch bei einem Jungen so reagieren?“, kann den Fachkräften dabei von Nutzen sein.
4. Die eigenen Gefühle dürfen nicht übergangen werden, wenn Kinder ihre sexuellen Aktivitäten auf Erwachsene richten. Kindliche Annäherungen sollten nicht dem Kind zuliebe geduldet werden. Die pädagogische Fachkraft vermittelt dem Kind sonst, dass man anderen zuliebe seine Grenzen überschreiten lassen muss. Eine klar begründete Abweisung der Annäherungen führt stattdessen beim Kind zu der Erkenntnis, dass körperliche Grenzen gesetzt werden dürfen. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Prävention sexueller Gewalt.
„Zu bedenken ist dabei immer, daß Sexualität für Kinder nicht Wissensstoff ist, sondern etwas, was sie direkt betrifft, weil es (noch) Teil ihrer Persönlichkeit ist und (noch) nicht abgespalten, wie häufig beim Erwachsenen. Deshalb müssen ErzieherInnen in ihren Maßnahmen auf Kontinuität und sanktionsfreien Umgang mit kindlicher Sexualität bedacht sein. Sie müssen ein Klima des gegenseitigen Vertrauens schaffen und sich an realen Situationen und Bedürfnissen des Kindes orientieren. Natürlich können sie allein gesellschaftliche Einflüsse nicht verändern, aber sie können diese, indem sie auf Sexualtabus, Doppelmoral und stereotype Geschlechtsrollen eingehen, entscheidend modifizieren.“ (Hartmann, 1994, S. 24).
Grundsätzlich muss auf sexuelle Aktivitäten von Kindern reagiert werden, da Kinder kein angeborenes Schamgefühl besitzen und erst durch Vorbild und Erziehung lernen können (Scham-)Grenzen anderer zu akzeptieren. Bleiben sexuelle Aktivitäten unbeachtet, können diese deshalb schnell in sexuelle Übergriffe münden, auf die im weiteren Verlauf noch eingegangen wird.
3. Sexualerziehung
„Der Terminus ‚Sexualerziehung‘ ist (…) auf die Erziehungspraxis bezogen und meint die kontinuierliche Einflussnahme durch gelenkte Lernprozesse auf die Entwicklung menschlicher Sexualität, wobei die sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen im Zentrum des erzieherischen Handelns stehen“ (Kluge, 1984, S. 19).
Sexualerziehung zielt auf eine verantwortungsvolle Partnerschaft und Elternschaft ab, die auf Empathie, Respekt und Vertrauen aufgebaut sein soll.
Nach Täubner und Janis (1998) basieren diese Ziele auf drei verschiedenen Ebenen. Die kognitive und informative Ebene enthält die Menge und die Qualität der Informationen und Erkenntnisse, die dem Kind vermittelt werden sollen. Die emotionale und bewertende Ebene enthält wiederum die diesbezüglichen Einstellungen zu Wissen, Fertigkeiten und Gewohnheiten sowie Verhaltensweisen in speziellen Bereichen der Sexualerziehung, die sich das Kind bilden soll. Die dritte Ebene enthält schließlich die Menge und die Qualität der zu erwerbenden Fertigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen (vgl. Täubner/Janis, 1998, S. 6 f., zit. in Karnatz, 2009, S. 19).
Milhoffer (1999) stellt zwei Faustregeln auf, die eine gelingende Sexualerziehung beschreiben sollen. Zum einen soll eine positive körperbejahende Erziehung bereits im Säuglingsalter stattfinden. Sie soll Spielräume zur altersgerechten und sachlichen Beantwortung von Fragen zur Sexualität ermöglichen. Zum anderen soll Sexualerziehung mit Sozialerziehung gleichgesetzt werden. Dies bedeutet, dass Erwachsene einerseits als Vorbild fungieren sollen und andererseits durch konkrete Informationen und Anregungen, Hilfestellungen zu einem toleranten, liebevollen und verantwortungsbewussten Umgang mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht geben (vgl. Milhoffer, 1999, S. 16/ BZgA, 1999, S. 13).
Der Sexuality Information and Education Council of the United States (SIECUS) hat in Zusammenarbeit mit Organisationen aus Nigeria, Brasilien und Russland Richtlinien für eine universelle Sexualerziehung herausgegeben. Diese Richtlinien dienten in diesen vier Ländern sowie Island, den Niederlanden und der Tschechischen Republik als Grundlage für die Sexualerziehung, in der die speziellen kulturellen Äußerungen von Sexualität des jeweiligen Landes zusätzlich integriert wurden (vgl. SIECUS, 1996, S. 6).
Die vier Hauptziele einer universellen Sexualerziehung sind:
1. To provide information about human sexuality, including human development, relationships, personal skills, sexual behavior, sexual health and society and culture
2. To provide an opportunity to question, explore and assess sexual attitudes in order to develop values, increase self-esteem, create insights concerning relationships with members of both genders and understand obligations and responsibilities to others
3. To help develop interpersonal skills, including communication, decision-making, assertiveness and peer refusal skills and help to create satisfying relationships
4. To help create responsibility regarding sexual relationships, including addressing abstinence, resisting pressure to become prematurely involved in sexual intercourse and encouraging the use of contraception and other sexual health measures
(vgl. SIECUS, 1996, S. 13)
Eine universelle Sexualerziehung erkennt das Kind als Sexualwesen an und weiß, dass die bloße Reduzierung auf Reproduktionsvorgänge nicht ausreicht, um Sexualität und Sexualerziehung zu definieren. Beide, Sexualität und Sexualerziehung, sind als formbare und kultivierbare Bereiche anzusehen, die in erzieherische Maßnahmen integriert werden müssen (vgl. Koch, 1993, S. 107).
3.1 Sexualerziehung in der Geschichte
Sexualerziehung in der heutigen Form ist eine recht moderne und junge Entwicklung. Im Verlauf der Geschichte wurde Sexualität und eine damit unter Umständen verbundene Sexualerziehung sehr unterschiedlich wahrgenommen, gelebt und weiter gegeben. Diese Entwicklung soll im nun folgenden Abschnitt Beachtung finden.
Für das Spät- und Hochmittelalter lässt sich anhand von Schriften und Dokumenten festhalten, dass Sexualität sehr freizügig gelebt wurde, eine direkte Sexualerziehung durch die Eltern aber nicht stattfand. Dieser bedurfte es auch nicht, da die Kinder durch ihr Elternhaus und die Umwelt eine offene Einstellung zu Sexualität und sexuelle Freizügigkeit vorgelebt bekamen. Zudem muss beachtet werden, dass die Kindheit zu dieser Zeit nicht als eigenständige Entwicklungsphase galt, sondern Kinder als kleine Erwachsene gesehen wurden.
„Folglich durften die Kinder auf sexuellem Gebiet von allem Kenntnis haben; da man sie als kleine Erwachsene betrachtete, kamen ihnen die gleichen sexuellen Rechte wie den Erwachsenen zu.“ (Ariès, 1975, S. 183).
Zur Zeit der Renaissance nahmen die Kinder wie schon im Spät- und Hochmittelalter am gesamten Leben der Eltern teil. Das gemeinsame entblößte Schlafen in einem Bett ermöglichte den Kindern einen Einblick in den biologischen Bereich der Sexualität aber auch sonst erfuhren die Kinder eine Umwelt, die sexuelle Freizügigkeit lebte und dabei keine Tabus kannte (vgl. Holl, 1986, S. 47). Sexualerziehung erfolgte durch Anschauung der Umwelt. Eine Ausnahme bildete der Bereich der Abtreibung. Hier konnte wiederum eine Art Sexualerziehung festgestellt werden: „Und kaum, daß die jungen Mädchen flügge waren, zischelten ihnen die älteren Dirnen verständnisvoll zu, daß der Genuß der Blätter dieses Baumes den Schaden wieder gut mache…“ (Fuchs, 1912, Band I, S. 25).
Das Wissen um abtreibende Mittel und Methoden wurde von Frau zu Frau weitergegeben. Gegen Ende der Renaissance konnte dann aber eine Wende im Hinblick auf die Sexualerziehung festgestellt werden
„Kirche und Schule wurden in Bezug auf die Sexualität aktiv, auch die Eltern wurden aufgefordert, gezielte Erziehungsarbeit zu leisten. In dieser bewußten Erziehung lassen sich bereits Tendenzen einer Sexualerziehung erkennen, gleiches gilt für die in der Folge von Erasmus´ Dialogen vermehrt entstandenen Schriften über Sexualität. Die Mehrzahl der pädagogischen Konzepte beinhaltete allerdings noch eine positive Einstellung zur Sexualität, die auch den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Renaissance entsprach“ (Holl, 1986, S. 55).
Ab dem 16. Jahrhundert, dem Barock, ist schließlich eine Veränderung der Einstellung zu Sexualität zu beobachten. Während die Unterschicht noch eine positive Einstellung zu Sexualität vermittelte, wurde die Sexualität in den oberen Schichten verdrängt. Die Schule übernahm nun eine gezielte Sexualerziehung, wenn auch eine, je nach Schicht, durchaus widersprüchliche. Während an den Fürstenschulen sexualbejahend unterrichtet wurde, war die Ausrichtung der bürgerlichen Schulen eher repressiv. Pädagogische Konzepte aus dieser Zeit beinhalteten fast ausschließlich die Unterdrückung der Sexualität. Dennoch kann das Barock insgesamt als sexualfreundliche Epoche angesehen werden, da die Unterschicht, die weiterhin eine bejahende und offene Sexualität propagierte, nahezu 90 % der Bevölkerung ausmachte.
Nahezu gleiches gilt für die Epoche des Rokoko. Während die Unterschicht weiterhin, wenn auch unbewusst, sexualbejahend erzog, war das Bürgertum repressiv ausgerichtet. Im Hinblick auf die Triebunterdrückung fand innerhalb des Bürgertums sogar eine bewusste Sexualerziehung statt. Die Oberschicht wiederum erzog ihre männlichen Heranwachsenden gezielt sexualbejahend (vgl. Fuchs, 1912, Band II, S. 222 ff.). Sie sollten zu „richtigen Liebhabern“ ausgebildet werden, während von den Mädchen eine Jungfräulichkeit bis zur Vermählung erwartet wurde (vgl. Goncourt, 1928, S. 5 ff.), was ebenfalls als eine repressive Sexualerziehung gewertet werden kann.
Die darauf folgende Zeit des Klassizismus muss in die zwei geistigen Strömungen, Aufklärung und Romantik, unterteilt werden, da sie das gesellschaftliche Leben mehr beeinflusst haben als die klassizistischen Strömungen selbst. Die Sexualerziehung der Aufklärung war stark repressiv und auch die pädagogischen Konzepte waren bis auf wenige Ausnahmen, wie das von de Sade, der in seiner „Philosophie im Boudoir“ die Befreiung der Sexualität von allen Richtlinien der Moral forderte „Unzüchtige Frauen, Euch sei die wollästige Saint-Ange ein Vorbild; verachtet nach ihrem Beispiel alles, was den göttlichen Gesetzen der Lust entgegensteht, die sie das ganze Leben über in ihren Banden halten.“ (de Sade, 1965, S. 216), repressiv orientiert. Zu den bekanntesten Vertretern zählt bis heute noch Jean-Jacques Rousseau mit seinem Werk „Emile ou de l´Education“. J.-J. Rousseau verstand Sexualität als naturgegeben, allerdings nur auf die Fortpflanzung bezogen und diese nur in der Ehe, da sie die „erste und die heiligste Einrichtung der Natur“ (Rousseau, 1981, S. 276) war,
„Die natürlichen Leidenschaften sind sehr beschränkt. Sie sind die Werkzeuge unserer Freiheit und dienen unserer Selbsterhaltung. Alle Leidenschaften, die uns unterjochen und verderben, kommen von anderswo her. Nicht die Natur gibt sie uns; wir eignen sie uns zu unserem Nachteil an.“ (Rousseau, 1981, S. 212).
Positiv zu bewerten ist, dass in der Aufklärung, wenn auch aus negativen Gesichtspunkten, noch über Sexualität geredet wurde und das im Sinne des allgemeinen Erziehungsgedanken, Sexualität zum Inhalt bewusster Erziehungsmaßnahmen wurde.
Die Zeit der Romantik kann, in Bezug auf die Sexualerziehung, schließlich als bisheriger Tiefpunkt gesehen werden. Den Heranwachsenden wurde jegliche Art von Sexualität aberkannt. Dies zeigte sich vor allem an den pädagogischen Konzepten dieser Zeit, die das Thema kindliche Sexualität kaum beinhalteten. Zudem verschwand das Thema Sexualität vollständig aus der Gesellschaft, so dass ein Wissenserwerb von Sexualität für die Kinder quasi unmöglich wurde.
Die vollständige Verdrängung der Sexualität aus dem gesellschaftlichen Leben, die generelle Sexualfeindlichkeit, bis hin zur Körperfeindlichkeit zeichnete die Zeit des Biedermeiers aus.
„Sexualität ohne Ehe wurde bekämpft: freie Liebe, vorehelicher Koitus und außerehelicher Verkehr; ebenso Sexualität ohne Liebe: Prostitution und Selbstbefriedigung; weiterhin Sexualität ohne Fortpflanzung: Homosexualität, infantile Sexualität und Sexualität nach den ‘Wechseljahren‘. ‘Sie führt ja zu nichts‘.“ (van Ussel, 1977, S. 50).
Eine Sexualerziehung fand ausschließlich zugunsten dieser negativen Sexualeinstellung und zum Erwerb der festgelegten Geschlechterrollen statt
„Fragen später die Mädchen, wie es denn eigentlich mit den kleinen Kindern zugehe? So sage man: der liebe Gott gibt der Mutter das kleine Kind das seinen Schutzengel im Himmel hat, der gewis unsichtbar dabei geschäftigt war, als wir so große Freude erlebten. Wie Gott die Kinder gibt, das brauchst du nicht zu wißen und könntest es nicht verstehn. An ähnlichen Antworten müßen sich Mädchen in hundert Fällen begnügen, und die Aufgabe der Mutter ist es, die Gedanken ihrer Töchter so unabläßig mit Gutem und Schönem zu beschäftigen, daß ihnen keine Zeit zum Grübeln über solche Dinge.“ (von Raumer, 1857, S. 68).
Die Sexualerziehung im Deutschen Reich zeichnete sich dadurch aus, dass nahezu alle sexualpädagogischen Schriften die sexuelle Aufklärung der Heranwachsenden befürworteten und ihre Notwendigkeit versuchten zu begründen. Allerdings unterschieden sich die Schriften in Bezug auf Alter der ersten Aufklärung und in Bezug auf Umfang und Deutlichkeit der Aufklärung erheblich. Ziel aller Autoren war es, die Heranwachsenden durch erworbenes sexuelles Wissen von jeglichen vorehelichen sexuellen Aktivitäten abzuhalten und somit ihre Unschuld möglichst lange zu erhalten. Die sexuelle Aufklärung sollte dabei eben nicht „zum Antriebe und Überreize werden, welcher schlummernde Gefühle weckt und die Phantasie zu verzehrenden Flammen anfacht.“ (Kisch, 1917, S. 47). Auch Sigmund Freud, der als Entdecker der kindlichen Sexualität gilt, war in diesem Sinne seiner Zeit verfallen, denn auch er wollte das Praktizieren der sexuellen Triebe ausschließlich im Sinne der sittlichen Verpflichtungen beschreiben (vgl. Freud, S., 1976, S. 27).
Die negierende Haltung zu Sexualität und die damit verbundene zurückhaltende Sexualerziehung fand gegen Ende der Weimarer Republik und mit dem Beginn des Nationalsozialismus ein jähes Ende. Dennoch wurden bereits zur Zeit der Weimarer Republik vermehrt Forderungen nach moralischer Legitimierung der Masturbation und des Sexualverkehrs Jugendlicher laut (vgl. Reich, 1966, Hodann, 1928). An eine Legitimierung dieser Forderungen war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht zu denken.
Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde schließlich eine bewusst repressive Sexualerziehung propagiert. Sexualität diente ausschließlich der Fortpflanzung „Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.“ (Hitler, 1942, S. 135). Die Geschlechter wurden in ihrer Jugend jedoch so lange wie möglich auseinander gehalten, um verfrühte sexuelle Kontakte zu vermeiden „Eine gemeinsame Schulerziehung der Geschlechter widerspricht nationalsozialistischem Erziehungsgeiste“ (zit. nach Reble, 1971, S. 582).
In der Mitte des 20. Jahrhunderts fand die Sexualerziehung dann vor allem durch Freunde statt (vgl. Kolle, 1964, S. 127f.), die eigentlichen Instanzen, Eltern und Schule, vertraten weiterhin eine repressive Sexualerziehung und vermieden jegliche Anknüpfungspunkte. Pädagogische Schriften dieser Zeit beschäftigten sich mit dem Ob und Wie einer Sexualerziehung. Dass Sexualität aber erst nach der Ehe stattfinden sollte war selbstverständlich. Dennoch wurde das tatsächliche Verhalten Erwachsener und Heranwachsender dieser Moralvorstellung nicht mehr gerecht. Die tatsächlich gelebte Sexualität der Bevölkerung war bei weitem freizügiger. So ergaben Untersuchungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach, dass 89 % der Männer und 69 % der Frauen bereits vor der Ehe Geschlechtsverkehr hatten (vgl. von Friedeburg, 1953, S. 24).
Die sechziger Jahre waren schließlich, innerhalb der Bevölkerung, durch eine Liberalisierung der Sexualmoral geprägt
„In diesem wissenschaftlich-säkularen Zeitalter werden die traditionellen Keuchheitsnormen zunehmend in Frage gestellt, und die jüdisch-christlichen Normen, die in den vergangenen Jahrhunderten das sexuelle Verhalten so wesentlich und auch sehr wirksam bestimmt haben, weichen nun der sogenannten ‘neuen Moral‘.“ (Christensen, 1971, S. 111).
Dennoch wurde die alte bürgerliche Sexualmoral weiterhin von Staat und Kirche propagiert und unterstützt. Die vorherrschende Sexualerziehung dieser Zeit reichte dementsprechend von repressiv bis hin zur „sexuellen Anarchie“, in der grundsätzlich alles erlaubt war, solange niemandem Schaden zugefügt wurde (vgl. Christensen und Kentler). Gegen Ende der sechziger Jahre wurde dann die Sexualerziehung in der Schule institutionalisiert. Diese wurde allerdings mit Eltern- und Lehrerprotesten begleitet und führte nicht zwangsläufig allerorts zu einer Integration im Unterricht.
Zusammenfassend kann man für die sechziger Jahre festhalten, dass die Sexualerziehung nicht klassifiziert werden kann, da die Bevölkerung sie höchst unterschiedlich umsetzte. Nur die Adressaten der Sexualerziehung lebten fast ausschließlich nach einer sexualbejahenden Moral.
Gleiches gilt für die siebziger Jahre sowie für die kommenden drei Jahrzehnte, wobei sich nun mehrere Instanzen, wie Schule, Eltern, Medien und die Gesellschaft im Ganzen, an der Sexualerziehung beteiligten. Der Anteil der repressiven Vertreter einer Sexualerziehung in pädagogischen Schriften ging langsam zurück.
Aktuell findet die Sexualerziehung weiterhin durch mehrere Instanzen statt. Familie, teilweise Kindergärten, Schulen, Freunde, Medien und die Umwelt tragen zu einer liberal tendierenden Sexualmoral bei. Dennoch bezieht sich die Sexualerziehung weitestgehend auf biologische Sachverhalte und den Geschlechtsakt an sich. Sexuelle Bereiche, wie Masturbation, Petting, Homosexualität, oraler oder analer Geschlechtsverkehr und sexuelle Phantasien und Wünsche werden von nahezu allen Instanzen ausgespart. Kindliche Sexualität gilt zudem immer noch weitestgehend als Tabuthema. Dies ist zum einen darauf zurück zu führen, dass Kinder noch immer als „gute“, „reine“, „unschuldige“, also genauer als asexuelle Wesen betrachtet werden. Man spricht hier auch vom sogenannten „Kindermythos“ (vgl. Oelkers 1996) und zum anderen darauf, wie im Abschnitt Sexualerziehung in der Familie noch ausführlicher angeführt wird, dass Eltern die ihr Kind als sexuelles Wesen anerkennen, Sexualität häufig damit verbinden, was sie selbst wissen, gelernt und erfahren haben. Also Sexualität mit erwachsener, genitaler Sexualität vergleichen (vgl. Raffauf, 2003, S. 26).
Aus diesem Bild ergeben sich verschiedene gesellschaftliche Regeln, die sich zum einen in Gesetzen, wie beispielsweise „Kinder müssen vor sexuellen Missbrauch durch Erwachsene geschützt werden“, und zum anderen in „inoffiziellen Regeln“, wonach kleine Kinder, da sie ja asexuelle Wesen sind, vor jeglichen sexuellen Äußerungsformen, ob bei anderen oder bei sich selbst, geschützt werden müssen, niederschlagen. Um die aktuelle Situation der Sexualerziehung zu beschreiben werde ich im weiteren Verlauf mein Augenmerk zum einen auf die Sexualerziehung in der Familie richten und zum anderen aufzeigen, wie und welche Sexualerziehung in Kindergärten stattfindet.
3.2 Sexualerziehung in der Familie
Eltern haben die schwierige Aufgabe dem Kind ausreichend Freiräume und Spielräume zu ermöglichen, in dem es seine Sexualität entdecken und ausleben kann, aber gleichzeitig die gängigen gesellschaftlichen Sexualnormen einzuhalten und zu vermitteln.
Anhand der aufgezeigten Geschichte der Sexualerziehung ist deutlich geworden, dass eine Sexualerziehung, wie sie heute aus Sicht pädagogischer Konzepte befürwortet wird, neu ist. Es existiert kein Leitfaden darüber, in welchem Alter und über welche Themen der Sexualerziehung Eltern mit ihren Kindern sprechen sollen. Zudem unterscheiden sich die Empfehlungen zum Umgang mit kindlicher Sexualität je nach Einstellung des Autors. Von Einigkeit innerhalb der Wissenschaft im Umgang mit kindlicher Sexualität und der damit verbundenen Sexualerziehung kann also nicht die Rede sein.
In dieser Pluralität von Einstellungsmöglichkeiten zur Sexualerziehung ist es für die Eltern schwierig eine Orientierung zu finden. Dies belegen auch Studien von Friebel und Fried (1981), nachdem viele Eltern sexuelle Spiele ihrer Kinder für ganz natürlich erachten (43 %) bzw. sie als neugieriges Verhalten und den Versuch, ihren Körper kennenzulernen (89 %) bewerten, gleichzeitig aber 47 % der Eltern ihre Kinder dabei versuchen abzulenken, 24 % nur so tun als hätten sie nichts dagegen und 16 % der Eltern ihren Kindern sagen, dass man so etwas nicht tun darf. Ähnliche Ergebnisse finden sich zu dem Bereich Masturbation, während noch 73 % der Eltern angeben Masturbation als natürlich anzusehen, ignorieren 30 % der Eltern jedoch bei Kenntnisnahme dieses Verhalten. Auch in den 1990 durchgeführten Studien von Glück u.a. lassen sich ähnliche Ergebnisse feststellen. 70 % bzw. 69 % der befragten Eltern finden, dass Erfahrungen mit Selbstbefriedigung für Jungen bzw. für Mädchen wichtig sind und während noch 59 % der befragten Eltern fanden, dass die selbst als positiv erlebte Selbstbefriedigung sich auch positiv auf die sexuelle Partnerschaft auswirkt, stimmten etwas mehr als die Hälfte der befragten Eltern (54 %) zu, dass Selbstbefriedigung nicht mehr nötig ist, wenn man Geschlechtsverkehr hat (vgl. Glück, u.a., 1990, S. 76).
In den Fällen, wo Eltern ihre Kinder, speziell Mädchen, für ihre sexuellen Handlungen maßregelten oder gar bestraften, führte dies anhand einer Studie von Kinsey et al. (1964) bei einer nicht geringen Zahl von Fällen zu Schuldgefühlen, die die Kindheitserlebnisse traumatisch werden ließen.
„Dies trat besonders dann ein, wenn die Kinder von Erwachsenen ertappt, gescholten und bestraft worden waren. Diese Schuldgefühle hatten vielfach verhindert, daß die betreffenden Frauen später ihr eheliches Geschlechtsleben frei hinnahmen. Wenn die Eltern sich bei der Entdeckung der sexuellen Spielereien ihrer Kinder nicht so erregt hätten, ist unserem Material nach kaum anzunehmen, daß solche Kindheitserlebnisse die spätere sexuelle Anpassung gestört hätten“ (Kinsey, 1964, S. 116).
Neuere Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) lassen allerdings einen Anstieg der Aufklärungsbereitschaft von Eltern vermuten. Klärten 1980 noch 61 % der Eltern von Mädchen und 46 % der Eltern von Jungen ihre Kinder sexuell auf, so waren es 2001 bereits 74 % bei den Mädchen und 65 % bei den Jungen (BZgA, 2001). Über die Qualität und Quantität der Aufklärung seitens der Eltern gibt es in diesem Rahmen allerdings keine Angaben.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass den Eltern in der heutigen Zeit von ihren Kindern ein größerer Stellenwert in der Sexualerziehung beigemessen wird. Nach Schmid-Tannwald und Urzde (1983, S. 50 f.) gaben 75 % der befragten Mädchen und 50 % der Jungen an, dass ihre Eltern wichtige Personen bei der Aufklärung gewesen wären. Ergänzt werden die Informationen durch Lehrer, Medien und Freunde. Glück u.a. (1990) konnten in ihrer Studie ebenfalls bestätigen, dass zumindest 57 % der Jungen und 66 % der Mädchen angaben, dass sie zuhause über alle intimen Fragen sprechen könnten, gleichzeitig gaben jedoch 69 % der Mädchen und 60 % der Jungen an, dass sexuelle Themen in der Familie gemieden würden (vgl. Glück/Scholten/Strötges, 1990, S. 107). Sexualität wird demnach häufig nur dann thematisiert, wenn die Kinder selbst nachfragen.
Gründe für die Hemmungen einiger Eltern Sexualerziehung zu praktizieren können vielfältig sein. Zum einen befürchten viele Eltern falsche bzw. ungenügende Informationen oder unpassende Begriffe an ihre Kinder weiterzugeben. Andere sehen Sexualerziehung als unnötig und überflüssig an, weil sie selbst nie eine erlebt haben. Die gleiche Begründung kann allerdings auch umgekehrt dazu führen, dass Eltern der Sexualerziehung genau deshalb einen großen Stellenwert zuordnen. Einige Eltern tabuisieren Sexualität ganz, da sie ihr Kind für zu jung halten, um mit derartigen Themen konfrontiert zu werden. Themen wie sexueller Missbrauch und Homosexualität werden ebenfalls häufig gemieden, da die Befürchtung aufkommt das Kind damit zu überfordern und zu ängstigen. Ein weiterer Grund kann die Angst sein, durch die Thematisierung von Sexualität und den diesbezüglichen Verhaltensweisen ein zu frühes sexuelles Interesse bei den Kindern zu wecken oder sogar sexuelle Verhaltensweisen zu fördern, die sonst nicht aufgetreten wären. Internationale und nationale Studien, die von SIECUS in seinen Guidelines for Comprehensive Sexuality Education zusammengefasst wurden, kamen jedoch alle zu dem Schluss, dass Sexualerziehung kein verstärktes sexuelles Interesse oder Verhalten nach sich zieht (vgl. SIECUS, 1996, S. 7).
Ein eigenes problematisches Verhältnis zur eigenen Sexualität kann ebenfalls ein Grund für die Vermeidung sexueller Themen sein. Karnatz (2009) führt in ihrem Buch Pernerová (2000) einen weiteren möglichen Grund an: Sexuelle Themen können Erwachsene erregen, was wiederum zu der Angst führen kann, damit die Inzestgrenze bereits überschritten haben zu können (vgl. Pernerová, 2000, S. 102, angeführt in: Karnatz, 2009, S. 23).
[...]
[1] Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Die Minderheit der stark religiös ausgerichteten Menschheit und die Anzahl der Menschen die Sexualität aus anderen Gründen strikt ablehnen, lasse ich an dieser Stelle außen vor, da sie Sexualität zwar ablehnen, jedoch physisch dazu fähig wären.
[2] Zur Vereinfachung verzichte ich in dieser Arbeit auf die Schreibweise der/die Erzieher/in, sondern verwende die Formulierung ErzieherIn beziehungsweise ErzieherInnen. Dadurch werden beide Geschlechter berücksichtigt, auch wenn weibliche Erzieherinnen den Arbeitsbereich Kindertageseinrichtung dominieren. Die weibliche Formulierung wird nur dann verwendet, wenn es sich eindeutig um eine oder mehrere Erzieherinnen gehandelt hat. Gleiches gilt für andere geschlechtsspezifische Formulierungen.
[3] Die Begründung hierfür erfolgt in Kapitel II, 2. Das zentrale Erkenntnisinteresse
- Arbeit zitieren
- Nancy Munsche (Autor:in), 2012, Sexuelle Übergriffe unter Kindern - Kinder als "Täter"?!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205803
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