Zahlen, Metaphern, Konzepte – Zur Struktur mathematischer Aporien am Beispiel Zenons


Term Paper, 2012

17 Pages


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Zahlen, Metaphern, Konzepte – Zur Struktur mathematischer Aporien am Beispiel Zenons

Patrick Kühnel

Beijing Foreign Studies University

Einleitung

Betrachtet man das zentrale Konzept der Analysis, das Infinitesimal, so fällt einem ein eigentümlicher Widerspruch in dessen Konzeption und Geschichte auf: Zum einen bemerkte schon Aristoteles den Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Existenz eines Begriffes von Unendlichkeit (der für die Konstruierbarkeit eines unendlich Kleinen Voraussetzung ist) zum anderen widerspricht das Konzept des Unendlichen jeder empirischen Plausibilität und Operationalisierbarkeit durch den Alltagsverstand. Aristoteles, dessen von Pythagoras inspirierten Betrachtungen zu Zeit und Raum die philosophischen Konzeptionen bis weit in die Neuzeit hinein prägten, versucht diesen Widerspruch durch die Feststellung zu lösen, dass es sich bei dem Unendlichen um reine Potentialität handele, dass also ein aktual Unendliches nicht existieren könne worauf er mehrfach im dritten Buch der Physik hinweist. Diese Erklärung ist oft kritisiert worden, da das eigentliche Problem nur verschoben wird: Von der Frage nach dem Unendlichen auf die Frage nach dem Wesen, d.h. der Frage, ob die Dinge eine Essenz haben, die jenseits deren Erkennbarkeit postulierbar wäre. Da das griechische mathematische Denken seinen Anker in der geometrischen Anschauung hatte[1] ist es nicht verwunderlich, dass das Konzept unendlicher Teilbarkeit zu einem Konflikt mit dem Grundverständnis über das Wesen mathematischer Aussagen führen musste.

Dies jedoch für zu der grundsätzlichen Frage, inwieweit diejenigen Konzepte, die analytischem Denken zugrunde liegen und damit Erkenntnisse - insbesondere mathematische - erst ermöglichen gleichzeitig auch deren Reichweite und Tiefe begrenzen. Zu Klärung dieser Frage ist es freilich notwendig, einen Blick in die Genese mathematischer Konzepte zu werfen und speziell deren metaphorische Ebene zu beleuchten. Dies soll im vorliegenden Beitrag exemplarisch an den Zenonschen Paradoxien bzw. deren Lösungsansätzen versucht werden. Es wird mit Hilfe metapherntheoretischer und elementarmathematischer Überlegungen versucht nachzuzeichnen, wie die scheinbaren Paradoxien sich als Folge eines undifferenzierten Unendlichkeitsbegriffs ergeben, wobei letzterer sich wiederum direkt auf ein unzureichend abstraktes Zahlkonzept zurückführen lässt.

Grundlegende Konzepte

Dieses grundlege Zahlenverständnis war über die konzeptuellen Metaphern nämlich sehr stark an den diskreten Anschauungsraum gebunden. Als Beispiel sei die Herleitung der binomischen Formel (a+b)²=a²+2ab+b² aufgeführt:

Wird eine Strecke in zwei geteilt, dann ist das Quadrat über der ganzen Strecke gleich den Quadraten über den Teilen und dem doppelten Rechteck, das die Teile ergeben, zusammen.[2]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dass die Herleitung so einleuchtend erscheint basiert im Wesentlichen auf der Tatsache, dass Euklid ein algebraisches Problem, d.h. ein Problem, das auf Anwendung formaler Verknüpfungsregeln, d.h. der Erklärung von Multiplikation und Addition, sowie deren Kommutativität und Distributivität beruht, als einen Sachverhalt interpretiert, bei dem diskrete Entitäten manipuliert werden. Dies gelingt durch die Anwendung zweier konzeptueller Metaphern[3]:

- „Strecken sind aus Grundbestandteilen (Einheiten) zusammengesetzte Gegenstände“
- „Das Maß der Länge, bzw. Fläche ist die Anzahl von Grundbestandteilen (Einheitsstücken) einer Strecke bzw. Fläche.“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 = 5 Stücke heißt „Länge 5“

Da Längen Einheitsstücke sind, lassen sie sich wie physikalische Objekte addieren, gruppieren und multiplizieren und dies zumindest theoretisch beliebig oft – praktisch sind dem Verfahren natürlich zeitliche und räumlich Grenzen, daher der Begriff des Unendlichen als eines Potentiellen.

Das Problem des Kontinuums

In der umgekehrten Richtung, also für die Division gilt im Prinzip das Gleiche. Unendlich wiederholte Teilung ist theoretisch möglich, praktisch gibt es jedoch immer eine Grenze der Teilbarkeit. Wie sich herausstellen wird, besteht die die eigentliche Schwierigkeit bei der Konstruktion des Kontinuums darin, diese Grenze konzeptuell zu überwinden.

Aristoteles widerspricht in seiner Untersuchung des Kontinuums zwar den Atomisten, seine eigene Erklärung des Zusammenhängenden ist jedoch weitgehend aus der Anschauung übernommen und dementsprechend eher intuitiver Natur: So schreibt er in Kapitel 6 der Physik:

Wenn nun ist stetig und sich berührend, und der Reihe nach, den vorherigen Bestimmungen zufolge, stetig, dessen letzte Theile Eins, sich berührend, von dem sie zusammen sind; der Reihe nach aber, was nichts gleichartiges dazwischen hat: so kann nicht aus Untheilbarem etwas Stetiges sein; z.B. die Linie aus Puncten, dafern die Linie ein Stetiges, der Punct aber ein Untheilbares ist. Denn weder sind Eins die letzten Theile der Puncte, (da nicht hat letzte und außerdem noch andere Theile das Untheilbare), noch sind siezusammen. Denn überhaupt nichts Letztes hat, was ohne Theile ist. Ein anderes nämlich wäre das Letzte und das, wovon es letztes ist. Nun müßten nothwendig entweder stetig oder durch gegenseitige Berührung zusammenhängend sein die Puncte, aus denen das Stetige besteht. Das nämliche gilt von allem Untheilbaren. Stetig kann es nicht sein, aus dem angegebenen Grunde. Durch Berührung aber hängt überhaupt zusammen entweder Ganzes mit Ganzem, oder Theil mit Theil, oder Theil mit Ganzem. Da nun keine Theile hat das Untheilbare, so muß es als Ganzes mit Ganzem durch Berührung zusammenhängen. Ein Ganzes aber welches ein Ganzes berührt, kann nicht stetig sein. Das Stetig nämlich hat verschiedene Theile, und zerfällt in gleichfalls theilbare und räumlich für sich bestehende Theile. - Aber auch nicht folgender Reihe nach kann Punkt auf Punkt, oder das Jetzt auf das Jetzt, so daß hieraus die Länge wäre, oder die Zeit. Denn folgend der Reihe nach ist, was nichts gleichartiges zwischen sich hat; die Punkte aber haben stets zum Dazwischen eine Linie, und die Jetzt eine Zeit. .[4]

Konsequenterweise muss er auch die Möglichkeit verleugnen, dass Zahlen ein Kontinuum bilden, da sie einander „nicht berühren“.[5]

Man dürfte auch wohl fragen, da es in den Zahlenkeine Kontinuität, aber wohl eine Reihenfolge gibt, ob die Einheiten, zwischen denen es kein Mittleres gibt, wie die Einheiten, die in der Zweizahl oder der Dreizahl enthalten sind, in der Reihenfolge unmittelbar nach der Ur-Eins kommen oder nicht sowie ob die Zweizahl in der Reihe voraufgeht, oder eine der voraufgeht, oder eine der beiden in ihr enthaltenen Einheiten.

Es ist ganz offenkundig, dass Aristoteles hier in Gefahr gerät, bei der Analyse des Kontinuums in eine Tautologie zu verfallen: Das Kontinuum kann nicht aus diskreten Einheiten aufgebaut sein, denn sonst könnte es nicht zusammenhängen. Also muss es eine Einheit bilden, was aber nichts anderes heißt, als eben ein Kontinuum zu sein. In diese Denkfalle gerät er hinein, weil er, in der geometrischen Tradition stehend, der Gegenstandsmetaphorik der Zahl zu stark verhaftet ist: Zahlen sind Längen, Längen sind Mengen von Maß-Stäben, Stäbe sind Dinge, folglich sind Zahlen Dinge und Dinge berühren einander entweder oder sie tun es nicht.[6] Dass es sich bei den hieraus entstehenden Verwirrungen und logischen Widersprüchen, die letztlich durch vage Bezugnahme auf den Alltagsverstand mehr oder weniger aufgelöst werden, tatsächlich um ein strukturelles Problem handelt, dass in der unbewussten Verwendung von Gegenstandsmetaphern für abstrakte Objekte verwurzelt erkennt man daran, dass Aristoteles an anderer Stelle[7] Reflexionen über den Raum anstellt, die letztlich um dieselbe Paradoxie kreisen: Raum existiert, kann aber logischerweise nicht existieren, weil er nicht die Eigenschaften des (dinglich) Existierenden besitzt. Es wird klar, dass Aristoteles sich den Raum als eine Art Gefäß vorstellt (worin jeder Gegenstand enthalten ist), aus dem er alle Eigenschaften entfernt, die ihm störend, weil widersprüchlich sind. Das zeigt sich auch daran, dass er dem Raum eine reelle Größe zuspricht. Da Ausdehnung jedoch nur Gegenständen zukommt, führt Aristoteles durch die Hintertür ein Art Platzhalteruniversum ein, das jedoch selbst wiederum nur im (abstrakten) Raum existieren kann. Letzteren unterstellt er zusätzlich neben dem analysierten, verweist aber zusätzlich auf die Tatsache, dass der Raum, wenn er existiert, in etwas anderem – eben ebenfalls dem Raum - enthalten sein müsste, was zu einem infiniten Regress führte. Hieraus zieht Aristoteles die paradoxe Konsequenz, dass der Raum also nicht existieren könne. Diese bizarre Schlussfolgerung wird begreiflich, wenn man berücksichtigt, dass Aristoteles neben dem apriorischen Anschauungsraum, auf den seine Analyse gerichtet zu sein scheint, einen zweiten, konzeptuell fassbareren annimmt, dem seine Betrachtungen tatsächlich gelten: die Summe aller (potentiellen) Ausdehnungen und seine Argumentationen als Versuch begreift, das lästige materielle Substrat des zweiten Raumbegriffes loszuwerden. Wie sollte man auf etwas referieren, das keine Ausdehnung hat und dennoch als physisch vorhanden gesetzt wird, wenn nicht extensional? Gleichzeitig lehnt er die Existenz von Unteilbarem (sei es im Raum oder in der Zeit) ab und begibt sich in die Schwierigkeiten, wenn er versucht, einen Gegenstand von seiner Umgebung konzeptuell zu trennen. Man erkennt, dass Aristoteles an die Grenzen dinglicher Referenz gelangt ist, oder anders gesagt, er führt die Beschränkungen der Leistungsfähigkeit einer konzeptuellen Metaphorik vor, die auf diskrete Entitäten, wenn auch beliebig kleine, gegründet ist; er erkennt sie zwar, kann sie aber durch nichts Geeigneteres ersetzen, da bei ihm physikalische und geometrische Größen Abstraktionen über natürliche Gegenstände bleiben.[8]

[...]


[1] Von den 13 Kapiteln aus Euklids „Elemente“ beziehen sich allein 9 direkt auf geometrische Fragen, nur Kapitel 7-10 behandeln arithmetische und zahlentheoretische Fragen, wobei deren Beweise häufig auf geometrischer Anschauung basieren.

[2] Euklid: Die Elemente: Satz II. 4.

[3] Vgl. Lakoff/Nunez (2000): S.78

[4] Physik VI, 1

[5] Metaphysik 2. Abteilung IV,3

[6] Das steht in auffälligem Widerspruch zu seiner entschlossenen Verteidigung des unendlich Teilbaren, auf die weiter unten Bezug genommen wird: Trotz aller praktischen Brauchbarkeit, existiert das Unendliche nur als Potentialität, ganz im Gegensatz zu dem sehr dinglich-anschaulichen Zahlbegriff der Pythagoräer als Maß oder Verhältnis, das auf der 1 als der fundamentalen Einheit aufbaut (vgl. Heath: S.69-70)

[7] „Ferner ist ersichtlich, daß nichts anderes von dem Würfel gilt, wenn er den Platz wechselt, als was auch von allen andern Körpern gilt. Also wenn sie von dem Raume sich nicht unterscheiden warum soll man annehmen einen Raum für die Körper außerhalb des Umfangs eines jeden, wenn eigenschaftslos der Umfang?“ (Physik VI,8)

[8] Auch hier zeigt sich das pythagoräische Erbe (vgl. Paul Tannery: La Géometrie grecque, S.124)

Excerpt out of 17 pages

Details

Title
Zahlen, Metaphern, Konzepte – Zur Struktur mathematischer Aporien am Beispiel Zenons
College
Peking University
Author
Year
2012
Pages
17
Catalog Number
V206872
ISBN (eBook)
9783656340577
ISBN (Book)
9783656340744
File size
501 KB
Language
German
Keywords
konzeptuelle Metaphern, Zenon, Aristoteles, Zahl, Unendlichkeit
Quote paper
Patrick Kühnel (Author), 2012, Zahlen, Metaphern, Konzepte – Zur Struktur mathematischer Aporien am Beispiel Zenons, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206872

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