Ehe und Familie in Emile Zolas Les Rougon-Macquart


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

56 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Ehe und Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
1.1 Ergebnisse
1.1.1 Neue Ehe- und Familienkonzepte im 19. Jahrhundert
1.1.2 Unterbürgerliche Familien
1.1.3 Bürgerliche Familien
1.1.4 Die Ehe
1.2 Kontroversen
1.2.1 Der Mythos der vorindustriellen Grossfamilie und die moderne Kernfamilie
1.2.2 Funktionsentlastung der Familie
1.2.3 Partnerwahl und Heiratsverhalten
1.2.4 Geburtenkontrolle, Verhütung, Kindsmord
1.2.5 Das Verhältnis zwischen den Ehepartnern und zu Kindern
1.2.6 Matrifokalität und marginalisierte Männer
1.2.7 Gewalt und Missbrauch

2 Emile Zola
2.1 Forschung
2.2 Biographie

3 „Les Rougon-Macquart“
3.1 Der Romanzyklus
3.2 Ehe und Familie in „Les Rougon-Macquart“
3.2.1 Die Demaskierung des bürgerlichen Familienideals: „Pot-Bouille“
3.2.2 Die Halbwelt der Prostitution: „Nana“
3.2.3 Die Gier der Aufstrebenden: „Le ventre de Paris“, „L’argent“ und „La curée“
3.2.4 Die Arbeiterfamilie zwischen Zerfall und Revolte: „L’assommoir“ und „Germinal“

4 Fazit und Ausblick
4.1 Neue Ehe- und Familienkonzepte und Zolas Idealvorstellungen
4.2 Unterbürgerliche Familien
4.3 Bürgerliche Familien
4.4 Die Ehe
4.5 Ausblick

Quellen

Bibliographie

Einleitung

Zola schrieb seinen 20-bändigen Romanzyklus „Les Rougon-Macquart“ im Zeitraum von 1873-1891 mit der Absicht, anhand einer grossen, verzweigten Familie die soziale Wirklichkeit der Gesellschaft zur Zeit des zweiten Kaiserreichs zu beschreiben. Die Handlung erstreckt sich über alle Gesellschaftsschichten und in jedem Roman stehen andere Mitglieder der Rougon-Macquart-Familie und andere Milieus im Zentrum. So spielt zum Beispiel „Germinal“ in einem Kohlebergwerkarbeiterdorf, während „Ein feines Haus“ die Verhältnisse in dem grossbürgerlichen Zweig der Familie thematisiert.

Im Zentrum der Arbeit soll die Frage stehen, inwiefern die Beschreibung der Ehe- und Familienverhältnisse in dem Zyklus realen Verhältnissen (d.h. heute gesicherten Forschungsergebnissen) entspricht und wie weit sie vom sozialen/politischen Hintergrund, resp. den Absichten des Autors (Klassenkampf, Meinungsbildung, eigener Hintergrund, Protest, literarische Zwecke) verfälscht worden sind.

Anhand von repräsentativen Textausschnitten/Handlungsabläufen/Situationen aus einigen Romanen aus dem Zyklus, welche in verschiedenen Milieus spielen, werde ich versuchen, diese Themen genauer zu beleuchten.

Es ist natürlich nicht möglich, anhand eines literarischen Werkes, welches das Bild einer ganz bestimmten Familie an einem ganz bestimmten Ort in einer ganz bestimmten Situation zeigt, allgemeine Aussagen zu machen, aber man kann durchaus – im Vergleich mit gesicherter Forschung – versuchen aufzuzeigen, inwiefern die gezeigten Verhältnisse im Bereich der damaligen Realität liegen (respektive repräsentativ sind) und inwiefern das gezeichnete Bild und damit das (intendierte) Empfinden des Lesers durch Übertreibung/Idealisierung/literarische Überhöhung gezielt oder unbewusst gesteuert oder sogar verfälscht wird. Über Motive des Autors lässt sich dank der Fülle von expliziten Aussagen (Werk-Skizzen, Briefe) einiges sagen.

Der erste Teil der Arbeit umfasst eine Zusammenfassung des Forschungsstandes und der aktuellen Diskussionspunkte bezüglich Ehe und Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der zweite Teil bietet eine kurze Übersicht zum Forschungsstand und der Biographie Emile Zolas. Im dritten Teil werde ich erst auf den „Rougon-Macquart“ Zyklus eingehen und dann exemplarisch die verschiedenen Aspekte des Ehe- und Familienlebens anhand von einigen Romanen aus dem Zyklus beleuchten. Im Fazit werde ich die Erkenntnisse zusammenfassen und einen Ausblick auf ein mögliches Forschungsfeld geben. Es ist mir in dem Umfang dieser Seminararbeit leider nicht möglich, alle Romane des Zyklus’, auf alle historischen Aspekte hin zu untersuchen – die Arbeit kann nur punktuell Anstoss zu weiterer Diskussion und Forschung geben.

1 Ehe und Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Eine sehr gute Übersicht über den Forschungsstand und die aktuellen Kontroversen bietet Andreas Gestrichs „Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert“ von 1999[1], welches sich aber nur auf den Raum des Deutschen Reiches bezieht. Eine auf ganz Mittel- und Westeuropa bezogene, gute Forschungsübersicht ist das von Joseph Ehmer, Tamara K. Hareven und Richard Wall herausgegebene Buch „Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen“ von 1997[2].

Die wichtigsten aktuellen Monographien zum Thema Ehe und Familie sind: „Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“ (1986) und „Geschichte der Familie“ (2000) von Jack Goody[3], „Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel“ (1999) von Tamara K. Hareven[4] und „Die historische Entwicklung von Familie und Ehe im Kulturvergleich“ (2000) von Georg W. Oesterdiekhoff.[5]

1.1 Ergebnisse

Die Familien- und Eheforschung ist eine relativ junge Wissenschaft. Ihre Ursprünge fallen mit den Anfängen der Soziologie, Ethnologie und Psychoanalyse im 19. Jahrhundert zusammen. Einzug in die Geschichtswissenschaft hat sie erst vor wenigen Jahrzehnten mit dem immer grösser werdenden Interesse an Alltags-, Sozial- und Geschlechtergeschichte gehalten. Dementsprechend dürftig ist das empirische Material, vor allem aus der sogenannten vorstatistischen Zeit. Viele Quellen sind noch nicht aufgearbeitet, über Zahlen kann oft nur spekuliert werden.

1.1.1 Neue Ehe- und Familienkonzepte im 19. Jahrhundert

Die Familie und die Verbindlichkeit des Familienverständnisses wurden von einer schier ununterbrochenen Folge von Instanzen eingeprägt und befestigt: Elternhaus, Schule und Kirche, Recht und Verwaltung, Ärzte, Literatur, Zeitungen etc. Wer die Familie angriff, stellte sich ausserhalb der Gesellschaft und provozierte die stärksten Emotionen. Es war für einen Erwachsenen die Norm, verheiratet zu sein; Singles, vor allem alte Jungfern, waren Gegenstand des Spottes. Nur Künstler mit Bohèmeneigungen machten eine – missbilligte wie beneidete – Ausnahme.[6]

Mit dem Gedankengut der Aufklärung und der Romantik hielt in Europa ein neues Bild der Familie und Ehe Einzug, welches jedoch lange weitgehend auf die Theorie beschränkt blieb und vorerst nur in bürgerlichen Oberschichten eine gewisse Wirkung entfaltete. „Die Romantiker lehnten jeden äusseren rechtlichen oder religiösen Rahmen für die Begründung und Stabilisierung des Zusammenseins von Mann und Frau, Eltern und Kindern ab. Ehe und Familie sollten ausschliesslich auf Liebe gründen. Solche romantischen Beziehungsformen wurden in der Folgezeit zum Leitbild bürgerlichen Familienlebens.“[7] Doch auch im Bürgertum fand dieses Ideal häufig nur wenig Entsprechung in der Realität.

Der weltlichen Herrschaft und damit auch dem Hausvater als Herr der Familie wurde durch die politische Philosophie der Aufklärungszeit die religiöse Legitimation entzogen. Dieses Gedankengut umfasste prinzipiell auch die Gleichheit der Geschlechter, durch die verschärfte Betonung der Geschlechtscharaktere (biologisch verankerte Geschlechtsmerkmale) wurde der Gleichheitsgedanke aber entschärft, um patriarchalische Rollenverteilung und Familienstrukturen nicht zu gefährden. Frauen wurden als passiv, emotional und mütterlich beschrieben, während Männer aktiv, rational und berufsorientiert sein sollten. Diese Geschlechterpolarität wurde selbst von den bürgerlichen Frauenbewegungen akzeptiert, sie forderten Gleichberechtigung, aber auf der Grundlage von Andersartigkeit.[8]

Das gesellschaftliche Ideal war vor allem in unterbürgerlichen Schichten weiterhin ein sozialkonservatives Familienkonzept, welches sich nach wie vor an den alten Strukturen des „ganzen Hauses“ orientierte. Wilhelm Riehl (1823-1897), Pionier der Volkskunde, propagierte das Bild der vorindustriellen Grossfamilie, in welcher sowohl mehrere Generationen, als auch Herrschaft und Gesinde in religiös legimitierten, patriarcharlischen Strukturen zusammenlebten. Riehls Schriften erfreuten sich bis in die Arbeiterbewegung hinein grosser Beliebtheit, mit der historischen Realität hatte dieses Ideal jedoch nicht viel zu tun. Auch sozialistische Gesellschaftstheoretiker und Frauenbewegungen sahen die Entwicklung der Familienstrukturen in der Arbeiterschaft als Verfall stabiler Kernfamilien.[9]

„Dass die Realität der Familie hinter deren Idealen zurückblieb, ist nicht mehr als selbstverständlich und mindert nicht deren Kraft. Auch die brüchige Realität stand unter dem Gesetz der Norm, auch die Gegner der Idealisierungen der Familie oder der Familie überhaupt, die Zyniker, konnten sich der öffentlichen Bekundung der Norm kaum entziehen.“[10]

1.1.2 Unterbürgerliche Familien

In ländlich-bäuerlichen Schichten war die Familie Arbeits- und Produktionsgemeinschaft. Arbeit und Haushalt waren Familienbetrieb, Eltern, Kinder und Grosseltern bildeten die Kernfamilie. Von den Jugendlichen galt die Regel, so viele wie möglich abzustossen (d.h. als Knechte auf grösseren Höfen zu verdingen oder in die Handwerkerlehre zu schicken), als Erwachsener blieb nur der Erbe auf dem Hof, manchmal noch unverheiratete Geschwister. Anders als in der Stadt bestand der Hausverband hier noch aus drei Generationen.

Jugendliche Knechte und Mägde waren je nach Grösse des Hofes in verschiedener Zahl die Regel, vor allem in kleineren Höfen wurden sie oft nahtlos in die Familie integriert. In grösseren Betrieben vollzog sich eine Absonderung der Lebensbereiche von Familie und Gesinde.

Bei dem Gesinde konnte es sich sowohl um nicht-erbende Geschwister des Bauernpaares, Kinder verwandter oder befreundeter Familien oder um Knechte und Mägde von auswärts handeln. Gesindedienst endete in der Regel mit der Heirat, der grösste Teil des Gesindes in Mitteleuropa war zwischen 15 und 30 Jahre alt. In dieser Zeit konnten sie sowohl berufliche als auch hauswirtschaftliche Fähigkeiten lernen als auch Geld für eine spätere Haushaltsgründung sparen.[11]

Die bäuerliche Familie war noch immer, anders als die städtische nach aussen nicht streng abgeschlossen, die Kernfamilie öffnete sich dem Dorf.

Die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau war traditionell bestimmt: Frauen (und auch Kinder) nahmen nur eingeschränkt an der Feldarbeit teil und kümmerten sich um Garten, Haus und Stall, während Männer die körperlich anstrengenderen Arbeiten verrichteten. Arbeitstage von 14 Stunden und mehr waren die Regel.

Mit der Proletarisierung der ländlichen Unterschichten nahm vor allem die Zahl der Kleinbauern stark ab. Realteilung des Erbes, Ausbreitung der Hypotheken, teurer werdendes Gesinde, Vordringen der Maschinen und Agrarkrisen zwangen viele Bauern, ihren Hof zu verkaufen.[12]

Ähnlich wie der bäuerliche Familienbetrieb war auch der Handwerksbetrieb im 19. Jahrhundert meist ein Familienunternehmen. Das Prinzip des „ganzen Hauses“ bestand hier aber nicht mehr, viele junge Handwerker heirateten schon als Gesellen und gründeten einen eigenen Hausstand. In diesen Haushalten bildeten sich bald ähnliche Strukutren heraus wie in denen der Arbeiter. Das bedeutete, dass die Familien für ihren Unterhalt auch auf die Erwerbstätigkeit der Frauen – meist Heimarbeit – und auf ein Einkommen aus Untervermietung angewiesen waren. Nur im kleinen produzierenden Handwerk war das Mitwohnen von Gesellen beim Meister noch an der Regel, durch die Verrechnung von Kost und Logis gegen Lohn konnte Geld gespart werden.

Die materielle Situation der Meisterhaushalte war sehr verschieden. Schneider und Schuster lebten z.B. ständig am Rande des Existenzminimums, während speziell Mitglieder des Lebensmittelhandwerkes fast immer zu den besser verdienenden gehörten. Sie waren typische Vertreter des neuen Mittelstandes.[13]

Im Zuge der Fabrikindustrialisierung und Urbanisierung entstand eine neue, meist land- und besitzlose Bevölkerungsschicht, in welcher die Familie ihre Funktion der primären Produktion und der Erhaltung und Weitergabe von Vermögen verloren hatte. Diese meist in offenen Wohnformen mit vielen Untermietern lebenden Familien entsprachen in keiner Weise dem bürgerlichen Ideal der Familie als emotionale, auf die Erziehung der Kinder konzentrierte Gemeinschaften. Durch die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten fehlte den Arbeiterfamilien häufig auch der intergenerationelle Zusammenhang, der vorher durch das gemeinsame „Produzieren“ gegeben war.[14]

Besonders in der Textilindustrie, zeichneten sich Arbeiterfamilien durch hohe Kinderzahlen aus, meist wohnten drei Generationen und Untermieter auf engstem Raum zusammen, oft teilten sich mehrere Personen ein Bett.[15]

Die idealtypische Arbeiterfamilie war für ihren Lebensunterhalt auf ein in der Regel viel zu geringes Einkommen aus Fabrikarbeit angewiesen. Trotz erheblicher Reallohnsteigerungen während des 19. Jahrhunderts mussten in den meisten Familien die Frauen und oft auch die Kinder (meist ausserhäusliche) Lohnarbeit leisten. Dies wurde jedoch in den nicht völlig verarmten Kreisen von den Männern als sozialer Makel angesehen. Auwege boten die Hereinnahme eines Untermieters und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Heimarbeit der Frauen und Kinder im Bekleidungsgewerbe. Es gab jedoch besonders während der Wirtschaftskrisen in den 1860er bis 1880er Jahre viel Elend.[16]

1.1.3 Bürgerliche Familien

In der bürgerlichen Familientheorie wurde die Struktur der Arbeiterfamilie oft als Herd von sozialen Unruhen oder sogar Revolutionen erkannt, doch auch die Struktur der bürgerlichen Familie war im Wandel. Die Form der Familienwirtschaft in grossbürgerlichen Haushalten verschwand, im Zuge der Urbanisierung wurden Höfe und Häuser oft durch Etagenwohnungen in modernen Stadthäusern ersetzt. Das Gesinde wurde immer teurer, blieb aber ein wichtiges Statussymbol.[17] Meist kamen die Bediensteten vom Land, lebten bei freier Kost und Logis und bekamen einen geringen Jahreslohn. Sie waren nur wenig in die Familie integriert. Es standen ihnen kleine Schlafkammern zur Verfügung, wo sie mehr oder weniger unter sich lebten. Auch wurden sie nicht in die Tischgemeinschaft der Familie integriert, sondern assen in der Küche.[18]

Ein wichtiges Merkmal des Bürgertums war die Trennung von Beruf und Familiensphäre. Erwerbsarbeit war allein Sache des Mannes und fand zunehmend ausser Hause statt, die Frau wurde zur „Haushaltsmanagerin“, die Familie fest von der Öffentlichkeit abgeschlossen. Die Kernfamilie bestand nur noch aus Eltern und Kindern, Grosseltern und andere Familienangehörige gehörten nicht mehr in die Wohn- und Haushaltsgemeinschaft. Die Familie war zu einer intimen Gemeinschaft mit individueller Bewegungsfreiheit geworden.[19]

Am unteren Rande des Bürgertums bildete sich mit der Berufssparte der Angestellten und Beamten ein neuer Mittelstand. Dieser umfasste Berufe von kleinen Buchhaltern und Boten bis zu leitenden Funktionen in Fabriken, Banken und Behörden. Sie verfügten über grössere materielle Sicherheit als die unterbürgerlichen Schichten und versuchten, sich in ihrem Lebensstil so stark wie möglich von den Arbeitern zu unterscheiden. Viele Statussymbole des Bürgertums konnten sie sich nicht leisten, zeichneten sich jedoch durch starke Aufstiegsmotivation aus.

1.1.4 Die Ehe

Im 19. Jahrhundert ist immer noch in mehr als 90% der Fälle eine kirchliche Heirat üblich (auch bei Protestanten), für die Familie und Familiengründung ist diese viel wichtiger als die in vielen Regionen obligatorische Zivilehe. Mischehen waren eher selten – diese stiegen erst nach 1900 deutlich an. Als Gründe dafür sind wohl unterschiedliche Auffassungen (vor allem bei der Kindererziehung), Respekt vor gläubigen Eltern, Wahl des Partners durch die Eltern und eigene Religiosität anzuführen. Ein wichtiger Grund war sicher auch, dass Protestanten viel eher Protestanten kennenlernten (Regionen, Gesellschaftliche Kreise, Schulen etc.) als Katholiken und umgekehrt.[20]

Partnerwahl

Trotz des romantischen Ideals der Liebesheirat, war die Wahl des Partners meist hauptsächlich durch andere Faktoren bestimmt. So hatten zum Beispiel Eltern (bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durften Frauen in den meisten Regionen Mittel- und Westeuropas vor dem 25. Lebensjahr nur mit der Zustimmung ihres Vaters heiraten[21]) und Gemeinden gesetzlich verankerte Einspruchsrechte. Die Erlaubnis zur Heirat wurde an den Nachweis eines „ausreichenden Nahrungsstandes“ gebunden – dadurch erhielten Arme oft keine Heiratserlaubnis, um die Zahl der potentiellen Fürsorgeempfänger klein zu halten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte allmählich eine Liberalisierung der politischen Ehebeschränkungen ein.

In bäuerlichen Schichten, wo die Familie vom gemeinsamen Wirtschaften und vom Besitz von Hof, Acker und Wiese geprägt war, war die Partnerwahl stark von Besitzgegebenheiten bestimmt. Heirat war meist ein Sache zwischen ackerbesitzenden Familien und Erben, arrangierte Heiraten spielten eine wesentliche Rolle.

Auch im Bürgertum spielte die soziale Plazierung der Familie in der Zukunft eine grosse Rolle bei der Partnerwahl. Schichtendogmatik war an der Regel und an bürgerliche Männer wurde der Anspruch gestellt, eine Familie „standesgemäss“ ernähren zu können, bevor sie heirateten. Dies hatte zur Folge, dass das durchschnittliche Heiratsalter der Männer im Bürgertum ausserordentlich hoch und die Altersdifferenz zwischen den Ehepartnern gross war (10 Jahre waren die Regel).[22]

Trotz aller sozialer und rechtlicher Einschränkungen darf der Faktor der emotionalen Verbindung bei der Partnerwahl nicht vernachlässigt werden. Oft lassen sich die materiellen von den emotionalen Interessen auch nicht so einfach trennen. In bürgerlichen Schichten konnten Bildung, gute Umgangsformen und berufliches Ansehen eine Person attraktiv machen, in bäuerlichen Gesellschaften stellten die Körperkraft des Mannes und der Besitz eines guten Ackers nicht nur materielle Werte dar. Die Rolle von Erotik und Sexualität beim Aufbau und der Stabiliserung von Partnerschaften im 19. Jahrhundert ist für alle gesellschaftlichen Schichten umstritten.[23]

Heiratsalter/Verhalten

Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert erhöhten sich im Zuge der Säkularisierung in Mittel- und Westeuropa sowohl das Heiratsalter als auch die Ledigenquote, die regionalen Unterschiede sind jedoch zu gross, um hierzu allgemeine Aussagen machen zu können. Im Kapitel „Kontroversen“ werde ich auf dieses Thema noch genauer eingehen.[24]

Scheidung/Trennung

Es gab diverse Barrieren, welche eine Scheidung sehr schwierig machten. Einverständliche Scheidung gab es nicht, das Verschuldungsprinzip war auf wenige klare Fälle konzentriert. Eine Ehe konnte erst geschieden werden, wenn der Pfarrer Sühneversuche als gescheitert erklärt hatte.[25] Unterhalt bekamen Frauen oft nur, wenn die Schuld des Mannes erwiesen war. „Scheidung war als soziale Tatsache noch selten. Scheidung war keine Alternative im Lebensplan, in der Familienwirklichkeit, in Ehekonflikten.“[26]

[...]


[1] Gestrich, Andreas, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999

[2] Ehmer, Josef, Hareven, Tamara K. und Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt am Main 1997

[3] Goody, Jack, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986 und Goody, Jack, Geschichte der Familie, München 2002

[4] Hareven, Tamara K., Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt am Main 1999

[5] Oesterdiekhoff, Georg W., Familie, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa. Die historische Entwicklung von Familie und Ehe im Kulturvergleich, Stuttgart 2000

[6] Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866-1918. Arbeitswelt und Bürgergeist. Band I, München 1990, S.44f

[7] Gestrich, Familie, S.5

[8] Gestrich, Familie, S.6

[9] ebd., S.7

[10] Nipperdey, Deutsche Geschichte, S.45

[11] Oesterdiekhoff, Familie und Ehe, S.53

[12] Nipperdey, Deutsche Geschichte, S.59, vgl. auch Gestrich, Familie, S.11 und S.25f

[13] Gestrich, Familie, S.13f

[14] ebd., S.6

[15] ebd., S.22

[16] ebd., S.15f

[17] ebd., S.18

[18] Nipperdey, Deutsche Geschichte, S.53ff

[19] ebd., Deutsche Geschichte, S.47f

[20] ebd., S.47

[21] ebd., S.46

[22] Gestrich, Familie, S.29f

[23] ebd., S.31

[24] Cerman, Markus, Mitteleuropa und die ‚europäischen Muster’. Heiratsverhalten und Familienstruktur in Mitteleuropa 16.-19. Jahrhundert. In: Ehmer, Familienforschung, S.341

[25] Gestrich, Familie, S.33

[26] Nipperdey, Deutsche Geschichte, S.46f

Ende der Leseprobe aus 56 Seiten

Details

Titel
Ehe und Familie in Emile Zolas Les Rougon-Macquart
Hochschule
Universität Bern  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Industrielle Revolution
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
56
Katalognummer
V20705
ISBN (eBook)
9783638245203
Dateigröße
542 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ehe- und Familienforschung, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, bürgerlicher Realismus, Arbeiter, Bürgertum, Industrielle Revolution, Emile Zola, Germinal, Pot-Bouille (Ein feines Haus), Nana, L'assommoir (Der Totschläger), La curée (Die Beute), L'argent (Das Geld), Les Rougon-Macquart
Schlagworte
Familie, Emile, Zolas, Rougon-Macquart, Industrielle, Revolution
Arbeit zitieren
Henning Radermacher (Autor:in), 2003, Ehe und Familie in Emile Zolas Les Rougon-Macquart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20705

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