(...)Seit 1999 hat sich der Bologna-Prozess, welcher das Ziel hat, einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen, rasant entwickelt. So waren im Sommersemester 2009 schon etwa drei Viertel der ca. 8.200 Studiengänge an deutschen Universitäten Bachelor- und Masterangebote (vgl. Hochschulrektorenkonferenz, 2009, S. 9 u. 21ff.). Doch diese Entwicklung wird von zahlreichen kritischen Stimmen begleitet. So nimmt die Frage nach der Zukunft des Humboldtschen Bildungs- und Universitätsideals im Zuge des Bologna-Prozesses auf der hochschulpolitischen Diskussionsagenda eine zentrale Stellung ein (vgl. Krull, 2009, S. 1). Die globalisierte Welt von heute hat zwar wenig gemein mit der Zeit um 1800, „dennoch bestimmt nach wie vor ein Bildungsideal, das dieser Zeit entsprungen ist und mit Namen wie Schleiermacher, Fichte und Steffens, insbesondere aber mit dem Namen Wilhelm von Humboldt in Verbindung gebracht wird, aktuelle hochschul-politische Debatten“ (Krull 2009, S. 6). Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Ökonomisierung der Universitäten, zudem wird befürchtet, dass die Bologna-Reform die klassischen Ideale der Universitäten aussteche, obwohl der Niedergang des Humboldtschen Ideals nach Jürgen Mittelstraß bereits mit dem Aufkommen der Massenuniversitäten einhergeht (vgl. Wagner, 2008, o. S.; vgl. Mittelstraß, 1994, S.48).
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit die Frage nach der Aktualität der klassischen Universitätsidee Wilhelm von Humboldts im Hinblick auf die Bologna-Reform. Der erste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der historischen Ausgangslage und dem kritischen Zustand der deutschen Hochschulen um 1800. So sollen Humboldts Reformbemühungen verständlich gemacht werden, bevor eine explizite Darstellung der Universitätsidee Humboldts erfolgt. Im zweiten Teil der Arbeit wird der ca. 200 Jahre später stattfindende Bologna-Prozess fokussiert, wobei zunächst die Reformbereitschaft und -bedürftigkeit Deutschlands beleuchtet und anschließend die Umsetzung sowie Inhalte und Ziele der europäischen Universitätsreform dargestellt werden. Nach einer umfassenden Ausführung der jeweiligen Absichten in Bezug auf Humboldt und Bologna ist nun der Grundstein gelegt, um im Folgenden einen reflektierten Vergleich der beiden Universitätskonzepte anzustellen, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigt, und in einem Fazit nicht nur die aufgeworfenen Fragen –sofern möglich– zu beantworten, sondern auch einen kurzen Ausblick zu geben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Wilhelm von Humboldt und die historische Ausgangslage um 1800
1.1 Der Zustand deutscher Universitäten
1.2 Die Humboldtsche Universitätsidee
2. Der Bologna-Prozess
2.1 Reformbereitschaft und -bedürftigkeit Deutschlands im Hinblick auf die Ausgangssituation
2.2 Inhalte, Ziele und Umsetzung der Bologna-Reform
3. Vergleich Humboldt – Bologna
4. Fazit und Ausblick
Literatur-/Quellenverzeichnis
Eidesstattliche Versicherung
Einleitung
„Es wird viel gestorben an deutschen Universitäten. Der Tote ist stets derselbe: Wilhelm von Humboldt und seine Universität. Physisch tot ist der Gelehrte seit langem, nämlich seit dem 8. April 1835. Normalerweise schrumpft eine Erinnerungsgemeinde mit dem Abstand zum Sterbedatum. Nur bei Religionsstiftern ist das anders – und bei Humboldt. Je länger der echte Humboldt unter der Erde liegt, desto größer wird die Zahl der Trauernden“ („Die Zeit“ 2009a, o. S.). Seit 1999 hat sich der Bologna-Prozess, welcher das Ziel hat, einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen, rasant entwickelt. So waren im Sommersemester 2009 schon etwa drei Viertel der ca. 8.200 Studiengänge an deutschen Universitäten Bachelor- und Masterangebote (vgl. Hochschulrektorenkonferenz, 2009, S. 9 u. 21ff.). Doch diese Entwicklung wird von zahlreichen kritischen Stimmen begleitet. So nimmt die Frage nach der Zukunft des Humboldtschen Bildungs- und Universitätsideals im Zuge des Bologna-Prozesses auf der hochschulpolitischen Diskussionsagenda eine zentrale Stellung ein (vgl. Krull, 2009, S. 1). Die globalisierte Welt von heute hat zwar wenig gemein mit der Zeit um 1800, „dennoch bestimmt nach wie vor ein Bildungsideal, das dieser Zeit entsprungen ist und mit Namen wie Schleiermacher, Fichte und Steffens, insbesondere aber mit dem Namen Wilhelm von Humboldt in Verbindung gebracht wird, aktuelle hochschulpolitische Debatten“ (Krull 2009, S. 6). Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Ökonomisierung der Universitäten, zudem wird befürchtet, dass die Bologna-Reform die klassischen Ideale der Universitäten aussteche, obwohl der Niedergang des Humboldtschen Ideals nach Jürgen Mittelstraß bereits mit dem Aufkommen der Massenuniversitäten einhergeht (vgl. Wagner, 2008, o. S.; vgl. Mittelstraß, 1994, S.48). Während der Soziologe Uwe Schimank, der den Streit um die Hochschulreform als eine Art Klassenkampf zwischen „bourgeoisen Humboldtianern“ und „proletarischen Bolognesern“ sieht und die Frage aufwirft, ob Wilhelm von Humboldt in der heutigen Hochschuldebatte möglicherweise der falsche Mann am falschen Ort ist (vgl. Schimank, 2009, S. 1 ff.), die These formuliert: „Weder können wir heute das klassische universitäre Bildungsverständnis fortführen, noch sind stattdessen die neuen Studiengangsstrukturen die Lösung. (…) Das Alte und das Neue prallen aufeinander, aber beide taugen nichts“ (Schimank 2009, S. 2), konstatierte der ehemalige Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Jürgen Rüttgers 1997 bei der Hochschulrektorenkonferenz in Siegen, dass „Humboldts Universität tot“ (zitiert bei Landfried 1997, S. 407; vgl. Rüttgers, 2009, S. 2) sei. Diese Aussage schränkte er als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident 2009 auf der Hochschulrektorenkonferenz an der RWTH Aachen jedoch insofern ein, als dass die Humboldtsche Universität zwar in den letzten Jahrzehnten zum Mythos geworden sei (vgl. Rüttgers, 2009, S. 3) und Humboldts Prinzipien von Forschung in Einsamkeit und Freiheit sowie Einheit von Forschung und Lehre in der „globalisierten Wissensgesellschaft“ (ebd.) und im „Zeitalter der Massenuniversität“ (ebd.) an ihre Grenzen kämen, doch „auch wenn die Universität Humboldts von früher tot ist: Lebendig ist und bleibt das Humboldtsche Bildungsideal. Das Ideal der freien Selbstbildung des Menschen. Das Entfalten aller Talente und Begabungen“ (ebd.). Dieser Feststellung folgend wäre eine Weiterentwicklung der Hochschulen nur möglich, wenn sie sich über die alten Ideale hinwegsetzen, den aktuellen Bedürfnissen des Marktes anpassen und demzufolge auch „über Humboldts Schatten springen“. In diesem Kontext stellte die Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan heraus, dass Humboldt „die Keule der Strukturkonservativen, die von denen herausgeholt wird, die nichts verändern wollen“, sei und fordert, „ihn neu (zu) denken“ („Die Zeit“ 2009b, o. S.). Entsprechend könnte die Bologna-Reform die Chance bieten, den Studierenden nicht nur eine besser strukturierte, kompetenzorientierte und verkürzte Ausbildung zu ermöglichen, sondern sie darüber hinaus durch eine verbesserte Qualität von Studienangeboten und Vermittlung von Beschäftigungsfähigkeit auf die wachsenden Anforderungen des Arbeitsmarktes vorzubereiten. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit die Frage nach der Aktualität der klassischen Universitätsidee Wilhelm von Humboldts im Hinblick auf die Bologna-Reform. Eingangs sei erwähnt, dass sich die Ausführungen hierbei primär auf den deutschen Hochschulraum beziehen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass zwar im Fazit/Ausblick kurz auf den Masterstudiengang eingegangen wird, diese Arbeit ansonsten jedoch hinsichtlich der europäischen Hochschulreform aufgrund des gesetzten Rahmens ausschließlich den Bachelorstudiengang in Betracht zieht. Im Großen und Ganzen soll geprüft werden, ob und/oder in welcher Hinsicht Humboldts Ideale noch einen Gegenwartsbezug aufweisen oder ob mit der Bologna-Reform der Endpunkt der klassischen Universitätsidee Wilhelm von Humboldts erreicht wird. Gleichzeitig ist zu ermitteln, welche Möglichkeiten und Potenziale die Bologna-Reform mit sich bringt und inwieweit ihr im Kontext der Humboldtschen Universitätsidee sowie mit Blick auf ihre Durchführung in Deutschland Grenzen aufgezeigt werden. Die Vorbereitung zur Beantwortung dieser Fragen geschieht dadurch, dass sich der erste Teil dieser Arbeit mit der historischen Ausgangslage und dem kritischen Zustand der deutschen Hochschulen um 1800 beschäftigt. So sollen Humboldts Reformbemühungen verständlich gemacht werden, bevor eine explizite Darstellung der Universitätsidee Humboldts erfolgt. Im zweiten Teil der Arbeit wird der ca. 200 Jahre später stattfindende Bologna-Prozess fokussiert, wobei zunächst die Reformbereitschaft und -bedürftigkeit Deutschlands beleuchtet und anschließend die Umsetzung sowie Inhalte und Ziele der europäischen Universitätsreform dargestellt werden. Nach einer umfassenden Ausführung der jeweiligen Absichten in Bezug auf Humboldt und Bologna ist nun der Grundstein gelegt, um im Folgenden einen reflektierten Vergleich der beiden Universitätskonzepte anzustellen, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigt, und in einem Fazit nicht nur die aufgeworfenen Fragen – sofern möglich – zu beantworten, sondern auch einen kurzen Ausblick zu geben.
1. Wilhelm von Humboldt und die historische Ausgangslage um 1800
1.1 Der Zustand deutscher Universitäten
Augenscheinlich befanden sich die deutschen Universitäten an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert in einer großen Krise. So reduzierte sich deren Zahl zwischen 1792 und 1818 von ursprünglich 42 auf 20 (vgl. Kopetz, 2002, S. 38; vgl. Schelsky, 1971, S. 21). Nicht nur das Problem der Vetternwirtschaft und der Selbstergänzung in Berufungsfragen als ein Resultat der landesherrlichen Universitätshoheit und des konfessionellen Prinzips waren hierfür verantwortlich (vgl. Kopetz, 2002, S. 38; vgl. Boehm/Müller, 1983, S. 21 ff.). Unzeitgemäße Lehrbücher und die Weitergabe alter Wissensbestände führten weder zu Erforschungen und Entdeckungen neuen Wissens noch zu einer Weiterentwicklung bzw. Verbesserung der Universitäten, welche infolgedessen nicht als Stätten der Forschung – eine überwiegend scholastischen Traditionen nachkommende Lehre ließ die Forschung fast völlig von der Universität entrücken (vgl. Kopetz, 2002, S. 38) – bezeichnet werden konnten (vgl. Menze, 1975, S.282; vgl. Benner, 2003, S.200). Bekräftigt werden kann diese Feststellung durch die „didaktische Unfähigkeit (…) der Lehrenden“ (Menze 1975, S.280), welche das Lehren hauptsächlich auf das Diktieren traditioneller Wissensbestände reduzierte (vgl. ebd., S. 280f.). Sowohl „veraltete Unterrichts- und Lebensformen selbstherrlich gewordener Professoren“ (Kopetz 2002, S. 38) als auch die „Verwahrlosung des studentischen Selbstverständnisses“ (ebd.) trugen zu einem „Reputationsverlust“ (ebd.) sowie „Absinken des Niveaus“ (ebd.) bei. So stellte Wilhelm von Humboldt gemäß seinen nachstehend beschriebenen Eindrücken eines juristischen Vortrags an der Universität Marburg auch eine zunehmende Sittenlosigkeit der Studierenden als Resultat der bezüglich Lehrweise und -inhalt nicht zeitgemäß scheinenden professoralen Vorlesung fest: „Sein Vortrag misfiel mir gänzlich. Ein singender, immer abgeschnittener, ganz aufs Nachschreiben eingerichteter Ton, platte undeutsche und lächerliche Ausdrücke (…), steife professormässige Scherze (…). Die Studenten (…) sprachen (…) sehr laut, lachten, warfen sich Komödienzettel zu, und trieben Possen voller Art“ (Humboldt 1788, S. 20). Folglich zeigte sich nicht nur die Forschung stark eingeschränkt, sondern auch die Berufsqualifizierung. All dies führte in der Folge zu einer zunehmenden „Auszehrung“ (Mittelstraß 2002, S. 55) und Bedeutungslosigkeit der Universität (vgl. Kopetz, 2002, S. 38). Teilweise wurde daher vor allem seitens der Philanthropisten die Abschaffung der sowohl in gesellschaftlicher als auch individueller Hinsicht unbedeutend erscheinenden Hochschulen und stattdessen die Förderung einer berufsbezogenen Ausbildung in Spezialinstituten angestrebt (vgl. Menze, 1975, S. 281 ff.). Für eine „radikale Erneuerung“ (Kopetz 2002, S. 39) bzw. „vielmehr eine Neuschaffung der Universität“ (ebd.) sprachen sich u.a. Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Daniel Schleiermacher aus, die größtenteils der Denkrichtung des deutschen Idealismus und Neuhumanismus zuzurechnen sind (vgl. ebd.) und durch etliche Denkschriften eine Neugestaltung der Universität vorbereiten konnten (vgl. Menze, 1975, S. 287; vgl. Benner, 2003, S.201). Wilhelm von Humboldt, der im Range eines Geheimen Staatsrates eine grundlegende Reform des preußischen Unterrichtswesens mit dem Höhepunkt der Neugründung der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin im Jahr 1810 initiierte (vgl. Schmitz, 2003, S. 325), führte in Anlehnung an den Neuhumanismus, „jene am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert sich verdichtende Bewegung, welche, die Begeisterung für die klassische Antike mit den Grundgedanken der zeitgenössischen Philosophie verbindend, ein Menschenbild entwirft, dessen Zweck die Bildung des Individuums ist“ (Kopetz 2002, S. 39), die vorangegangen Programmschriften Fichtes, Schellings und Schleiermachers in einem eigenen Universitätskonzept zusammen (vgl. Schmitz, 2003, S. 325 f.) – zentrales Dokument ist hier der 1809/10 entstandene Aufsatz Humboldts „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ –, welches in Kapitel 1.2 umfassend dargelegt wird.
1.2 Die Humboldtsche Universitätsidee
Humboldts Intention bestand darin, die Berliner Neugründung, welche „tief geprägt von den Reformuniversitäten Halle und Göttingen war“ (Markschies 2010, S. 176), auf einem neuen Fundament des Wissens zu „erbauen“. Die Gründungsschriften, mit welchen diese vorbereitet wurde, belegen den Versuch einer systematischen Reform von Lehre und Studium mit dem Bestreben, eine bloße Tradierung fertiger Wissensbestände durch die von Humboldt geforderte Produktion des Wissens zu ersetzen (vgl. Hödl, 1994, S. 141 f.); die Universitäten sollten nun also vielmehr auf die Hervorbringung neuen Wissens abzielen (vgl. Hermann, 1999, S. 16 u. 19). Das neuhumanistische Bildungsideal mit der Forderung „nach Entfaltung aller im Menschen angelegten Fähigkeiten zu einer sich bewusst als Individuum erfahrenen Persönlichkeit“ (Kopetz 2002, S. 41) grenzte sich von dem auch durch die Philanthropisten verkörperten Nützlichkeitsgedanken der Aufklärung entschieden ab und rückte selbst ins Zentrum der Universitätsausbildung, deren zentrale Zielsetzungen nunmehr in erster Linie die Versittlichung und Selbstvervollkommnung durch geistige Selbsttätigkeit des Menschen waren (vgl. ebd.). Die Universität wurde demgemäß als „Ort der Selbsterziehung und Selbstversittlichung“ (ebd., S. 42) mit dem vornehmlichen Prinzip der „Suche nach Wissenschaft“ (ebd.) gedacht. Um dem gerecht zu werden, errichtete Wilhelm von Humboldt, der intendierte, „aus unwissenden Untertanen selbstständige Staatsbürger mittels Bildung durch Wissenschaft so zu formen, dass mit ihnen ein demokratischer Staat aufgebaut werden könne“ (Hödl 1994, S. 141), seine Universitätsidee auf den folgenden vier Prinzipien: ‘Einsamkeit und Freiheit’, ‘Einheit von Forschung und Lehre’, ‘Freiheit von Forschung und Lehre’ (und demgemäß auch Autonomie gegenüber dem Staat), ‘Bildung durch Wissenschaft’ (vgl. Hermann, 1999, S. 14f.). In letzterem Prinzip bestand nach Humboldt die hauptsächliche Aufgabe der Universitäten, „denn nur die Wissenschaft, die aus dem Inneren stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter“ (Humboldt 1810, S. 84). Die Idee der Wissenschaften müsse daher stets „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ (ebd.) und „immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem“ (ebd., S.82) begriffen werden, da „alles unwiederbringlich verloren“ sei, „sobald man aufhört Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie brauche nicht aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen, sondern könne durch Sammeln extensiv aneinander gereiht werden“ (ebd., S. 84). Nach Humboldt ist die Wissenschaft deshalb als ständig fortschreitender, unabgeschlossener, offener, nie enden wollender und fließender Such- und Erkenntnisprozess mit ungewissen Zielen zu behandeln (vgl. Hödl, 1994, S. 142; vgl. Kopetz, 2002, 42 f.; vgl. Burtscheidt, 2010, S. 47); sie ist der „ständig erneuerte Versuch, die Wirklichkeit in ihrer Totalität in Begriffe zu fassen“ (Menze 1975, S. 317). Die Aufgabe der Schule hingegen bestehe vor allem darin, den Schüler für die Universität und die Wissenschaft „anzuregen“ (vgl. Krull, 2009, S. 6) und dementsprechend zu rüsten und vorzubereiten, sodass dieser „physisch, sittlich und intelectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden kann (…) und eine Sehnsucht in sich tragen wird, sich zur Wissenschaft zu erheben, die ihm bis dahin nur gleichsam von fern gezeigt war“ (Humboldt 1810, S. 86). Der Universitätsunterricht als „Anleitung zu selbstständiger Forschungstätigkeit“ (Kopetz 2002, S. 44) sei vom Schulunterricht deutlich zu differenzieren: „Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin. Denn der Universitätsunterricht setzt nun in Stand, die Einheit der Wissenschaft zu begreifen, und hervorzubringen, und nimmt daher die schaffenden Kräfte in Anspruch“ (Humboldt 1809a; hier zitiert bei Kopetz 2002, S. 44). Eine vordringliche Aufgabe des Staates sei es, „seine Schulen so anzuordnen, daß sie den höheren wissenschaftlichen Anstalten gehörig in die Hände arbeiten“ (Humboldt 1810, S.85f.), sodass der Übergang von Schule zu Universität einem Übergang von der Bildung durch andere zur Selbst-Bildung entspreche (vgl. Spitta, 2006, S. 62). Idealerweise ergreife „ein so vorbereitetes Gemüt (…) die Wissenschaft von selbst“ (Humboldt 1810, S. 86). Humboldts Idee der Universität postuliert ferner die „durch den Umgang mit Wissenschaft zu verwirklichende Einheit von Lehrenden und Lernenden“ (Hödl 1994, S. 133), was nicht nur ein verändertes Verhältnis von Lehrenden und Lernenden bedeutet, sondern auch nahelegt, dass die Studierenden nach Wilhelm von Humboldt als „mitforschende Persönlichkeiten“ (ebd.) anzusehen sind. Professoren und Studenten begegnen sich demnach grundsätzlich als gleichberechtigte, am Prozess der Wissenschaft und an der Entdeckung neuen Wissens beteiligte Forscher (vgl. Kopetz, 2002, S. 44). So sei „der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da“ (Humboldt 1810, S.82), „der Universitätslehrer leitet nur von fern das eigene Lernen“ (Humboldt 1809b; hier zitiert bei Kopetz 2009, S. 45). In ähnlicher Weise brachte es Karl Jaspers 1946 nochmals zum Ausdruck: „Die Universität hat die Aufgabe, die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Schülern zu suchen“ (zitiert bei Beckmann 2008, S. 14). Dabei sei die geistige Weiterentwicklung nur durch den wissenschaftlichen Diskurs möglich: „Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, (…) so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten“ (Humboldt 1810, S. 82), was auch bedeute, dass „Verschulung jeder Art, verbindliche Studienpläne und selbst ein fix vorgegebenes Studienende“ (Kopetz 2002, S. 46) mit dem Universitätskonzept Humboldts nicht kompatibel sind (vgl. ebd.). Die Verknüpfung von Forschung und Lehre lasse sich nach Humboldt am besten in der Unterrichtsform des Seminars, das er aus den Vorschlägen Schleiermachers übernimmt, aber ebenso in der Vorlesung als „der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern“ (Humboldt 1810, S.87) und „Wegstück bei der Suche nach Wissenschaft“ (Kopetz 2002, S. 45) realisieren. Trotz des vielfach zur Rede kommenden Postulats „Einheit von Forschung und Lehre“, dessen Formulierung nicht von Humboldt selbst stammt, „sondern schon früh zur Beschreibung seiner Vorstellungen verwendet (wurde)“ (vgl. ebd., S. 42), wird deutlich, dass Humboldt die Forschung in den Mittelpunkt rückt, wobei die Lehre eher als „Hülfsmittel“ (zitiert bei Kopetz, 2009, S. 45) dient (vgl. ebd.). Das Prinzip von Einsamkeit und Freiheit, welches davon ausgeht, dass entscheidende Ideen für die Wissenschaft dem Individuum selbst entspringen und daher fordert, diesem zur Entfaltung seiner Originalität die notwendige Freiheit zuzusprechen (vgl. Henningsen, 2007, S.60f.), beschreibt Humboldt wie folgt: Zu dem „Selbst-Actus“ der „Einsicht in die reine Wissenschaft“ sei „notwendig Freiheit und hülfreich Einsamkeit. (…) das Wesentliche (ist), dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewusstseyn, dass es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe“ (Humboldt 1809b, S. 79). Zwar finde Wissenschaft und Forschung nicht ausschließlich in Einsamkeit und Abschirmung des Individuums von seiner Umwelt statt, der Forscher dürfe jedoch nicht durch äußere Vorgaben eingeschränkt werden, beispielsweise in Bezug auf den zu untersuchenden wissenschaftlichen Gegenstand (vgl. Burtscheidt, 2010, S. 247). Das Forschen als eigenständige Wahrheitssuche und Wissensaneignung stellt bei Humboldt selbst das einzig Lehrbare dar. Damit einher gehe ein „Prozeß der Selbstwerdung des Individuums, das in sich eine wahre und sittliche Welt verkörpert“ (Herbert Schnädelbach, zitiert bei Schmitz 2003, S. 326). Dem Staat lässt Humboldt hierbei die Rolle der „Leitung und Oberaufsicht“ (Kopetz 2002, S. 48) zukommen, um seine Kontroll- und Benutzungsansprüche gleichzeitig einzuschränken: „Der Staat muss sich eben immer bewusst bleiben, dass er nicht eigentlich dies bewirkt noch bewirken kann, ja, dass er vielmehr immer hinderlich ist, sobald er sich einmischt, dass die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde“ (zitiert bei Wigger 2002, S. 123). Zur Sicherung der Freiheit von Forschung und Lehre sei es von großer Bedeutung, dass der Staat in Bezug darauf lediglich die nötigsten Aufgaben wahrnimmt, er solle „nichts fordern, was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Überzeugung hegen, daß, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke (…) erfüllen“ (Humboldt 1810, S. 85). Damit drückt er aus, dass „die Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre für den Staat von größerem Vorteil sei als deren zweckgerichtete Indienstnahme“ (Wigger 2002, S. 123). Gefahr drohe der Freiheit allerdings nicht nur vom Staat, „sondern auch von den Anstalten selbst, die, wie sie beginnen, einen gewissen Geist annehmen und gern das Aufkommen eines anderen ersticken“ (zitiert bei Gerlich 1993, S. 22). So könnte schließlich seitens der wissenschaftlichen Anstalten eine einseitige Auswahl der Lehrenden erfolgen (vgl. Spitta, 2006, S. 69). Um eine objektive Berufung garantieren zu können, muss nach Humboldt konträr zu den Akademien, wo die Wahl ihrer Mitglieder durch sie selbst erfolgt (vgl. Hödl, 1994, S. 144), „die Ernennung der Universitätslehrer (…) dem Staat ausschließlich vorbehalten bleiben“ (Humboldt 1810, S. 88; vgl. auch Kopetz, 2002, S. 48). Es sei „gewiß keine gute Einrichtung, den Facultäten darauf mehr Einfluss zu verstatten, als ein verständliches und billiges Curatorium von selbst thun wird“ (zitiert bei Hödl 1994, S. 144). Allerdings interveniere der Staat im Idealfall immer „bescheidener“ und überließe die Universität „schließlich ihrer eigenen lebendigen Kraft“ (Spitta 2006, S. 72), die Hochschule soll letztlich „von aller Form im Staate losgemacht“ (zitiert bei Kopetz 2002, S. 47) sein, damit es zur vollen Entfaltung ihres geistigen Lebens kommen kann (vgl. ebd.). Entsprechend strebte Humboldt zur Absicherung der „wissenschaftlichen Autonomie durch wirtschaftliche Autarkie“ (Kopetz 2002, S. 48; vgl. vom Bruch, 1999, S. 265) eine von staatlichem Einfluss freie und unabhängige Stiftungsuniversität an, die sich in Form von Stiftungsvermögen aus königlichem Domänenbesitz finanzieren sollte, dieser Vorschlag scheiterte jedoch (vgl. Kopetz, 2002, S. 48 f.) entgegen seiner Hoffnung, dass „sich der Staat wenigstens einmal als selbstloser Treuhänder des Volkes verstehen und seinen eigennützigen Formierungswillen aus Schulen und Universitäten heraushalten könnte“ (Ruhloff 1997/1998, S. 24): „Der preußische Staat (übernahm) die Berliner Gründung in seine Verantwortung, finanzierte sie und baute sie zur Weltgeltung aus“ (Markschies 2010, S. 11 f.). In obigen Ausführungen wurde sowohl die Situation der deutschen Hochschullandschaft am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert als auch die Kernelemente des Humboldtschen Universitätsideals, das „in den letzten, fast zweihundert Jahren nachgerade ein Mythos geworden (ist)“ (Hödl 1994, S. 140), erläutert. Damals wurden die deutschen Universitäten in der Tat zu Zentren des geistigen und wissenschaftlichen Lebens, was ein Blick auf die in einem bisher nicht bekannten Ausmaß wachsenden Studentenzahlen belegt: Während es 1795 noch 6.000 Studenten waren, zählte man im Jahr 1830 bereits 16.000 (vgl. ebd., S. 128). Nach Ellwein (1985, S. 317) gab es an den deutschsprachigen Universitäten Anfang des 19. Jahrhunderts rund 1.000 Professoren und etwa 15.000 Studenten, was einer Betreuungsrelation von 1:15 entspricht: „Wer wollte, konnte also nach dem Humboldtschen Ideal studieren“ (Hofmann 2010, o. S.). Der 1810 neu gegründeten und wissenschaftliche Forschung und Lehre verbindenden Friedrich-Wilhelm-Universität, die in Struktur und Aufgabenstellung auf dem Universitätskonzept Humboldts basierte, kam im 19. und 20. Jahrhundert eine normgebende und identitätsstiftende Funktion zu (vgl. Schmitz, 2003, S. 325) und wurde in diesem Kontext zum Vorbild der Universitäten bis in den amerikanischen Raum (vgl. Rüegg, 1997, S. 155) sowie „zum Modell der Universität schlechthin“ (Kopetz 2002, S. 40). Dennoch ist zu konstatieren, dass das „Humboldtsche Modell der deutschen Universität eher eine nachträgliche Konstruktion ist denn die Beschreibung der Realität des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ (Schulze 2005, o. S.). Vielfach wird daher von einem Humboldt-Mythos oder „Humboldt-Syndrom“ (vgl. Jarausch, 1999, S. 58-79) gesprochen, „da schon die Glanzzeit der deutschen Universität im späten 19. (als bekanntlich erst Humboldts berühmte Schrift „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ bekannt wurde) und frühen 20. Jahrhundert nichts mehr mit Humboldts Idee von Bildung durch Wissenschaft zu tun hatte“ (Schulze 2005, o. S.). Nun erfolgt ein gewaltiger historischer Sprung, indem die Bologna-Reform – immer mit Bezug zur Situation in Deutschland – nachfolgend in den Fokus der Betrachtung gestellt wird.
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- Timo Fent (Author), 2012, Die Aktualität der Universitätsidee Wilhelm von Humboldts im Hinblick auf den Bologna-Prozess, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207467