Diagnose Aphasie. Welche Rolle spielen Selbsthilfegruppen bei Sprachverlust?


Diplomarbeit, 2002

232 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Menschenbildkonzeption

3. Zu den medizinischen Hintergründen einer Aphasie
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Ätiologie
3.3 Klassifikation der aphasischen Syndrome
3.3.1 Globale Aphasie
3.3.2 Broca-Aphasie
3.3.3 Wernicke-Aphasie
3.3.4 Amnestische Aphasie
3.3.5 Nicht-Standard-Syndrome
3.3.6 Anmerkungen zu den Klassifikationen
3.4 Begleiterscheinungen der Aphasie

4. Sprach- und kommunikationstheoretische Aspekte im Zusammenhang mit Aphasie
4.1 Begriffsbestimmungen
4.2 Theoretische Grundlagen zur Kommunikation
4.3 Störungen der Kommunikation
4.4 Kommunikation mit Menschen, die von Aphasie betroffen sind

5. Leben mit Aphasie
5.1 Zur Theorie von Belastungs- und Bewältigungsprozessen
5.1.1 Begriffsbestimmungen
5.1.2 Zu Phasenmodellen
5.1.3 Transaktionales Bewältigungsmodell
5.1.4 Ein allgemeines Modell zur Analyse kritischer Lebensereignisse
5.2 Belastung und Bewältigung im Zusammenhang mit Aphasie
5.2.1 Emotionale und soziale Belastungen
5.2.2 Beeinflussende Faktoren im Bewältigungsprozess

6. Zu Aphasiker-Selbsthilfegruppen und professioneller Unterstützung
6.1 Begriffsbestimmungen
6.2 Zur Bedeutung von Aphasiker-Selbsthilfegruppen
6.2.1 Zu Entstehungsgründen von Selbsthilfegruppen
6.2.2 Zur Bedeutung von Sprache in Selbsthilfegruppen
6.2.3 Zu Aufgaben und Zielen der Selbsthilfegruppenarbeit
6.3 Zu Professioneller Unterstützung von Aphasiker-Selbsthilfegruppen
6.3.1 Selbsthilfe und Professionalität - unvereinbare Gegensätze?
6.3.2 Zum Rollenverständnis von Selbsthilfegruppen-Unterstützern
6.3.3 Zu professioneller Unterstützung von Aphasiker-Selbsthilfegruppen

7. Methodologische Überlegungen zur Untersuchung der Bedeutung von Selbsthilfegruppen unter besonderer Berücksichtigung von Belastungen und Bewältigungen im Zusammenhang mit Aphasie
7.1 Zur Forschungsmethode
7.1.1 Begründung für ein qualitatives Vorgehen
7.1.2 Zum Forschungsdesign
7.1.3 Die Methode des qualitativen Interviews und eigenes methodologisches Vorgehen
7.1.4 Zur Transkription als Methode der Aufbereitung
7.2 Zur Methode der Auswertung und eigenes Vorgehen
7.2.1 Erster Schritt der Auswertung: Paraphrasierung
7.2.2 Zweiter Schritt der Auswertung: Kodierung
7.2.3 Dritter Schritt der Auswertung: Kategorisierung
7.2.4 Fünfter Schritt der Auswertung: Generalisierende Analyse

8. Auswertung der Interviews
8.1 Selbsthilfegruppe Kiel
8.1.1 Rahmenbedingungen und Gruppenzusammensetzung
8.1.2 Zugang zur Gruppe
8.2 Reflexion des eigenen kommunikativen Handelns
8.3 Dritter Schritt der Auswertung: Kategorisierung
8.3.1 Interview A
8.3.2 Interview B
8.3.3 Interview C
8.3.4 Interview D
8.4 Vierter Schritt der Auswertung: Generalisierende Analyse
8.5 Konsequenzen für die professionelle Unterstützung von Aphasiker-Selbsthilfegruppen

9. Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Materialband

1. Einleitung

Jeder individuelle Lebenslauf ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt unvorhergesehener, dramatischer Ereignisse, die die Lebenssituation und damit die Lebensgestaltung eines Menschen verändernd beeinflussen. Aus einem kritischen Lebensereignis wie einer Aphasie ergeben sich eine Vielzahl von Belastungen in fast allen Bereichen des gewohnten täglichen Lebens. Neben den unmittelbaren durch die Aphasie bedingten Störungen der Sprache ergeben sich durch Lähmungen der rechten Körperhälfte oft zusätzlich Einschränkungen der Mobilität. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die Veränderungen im sozialen Leben des Betroffenen, die meist weitaus schwerwiegender sind, als die Sprachstörung selbst. Das gesamte Leben ist einge- bettet in Beziehungen zu den Mitmenschen; auch die Selbstverwirklichung jedes Indi- viduums geschieht über Begegnungen, Beziehungen und Kommunikation mit anderen Menschen. Wenn die Sprache als elementarer Bestandteil des Menschseins und der menschlichen Kommunikation plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht, führt dies im Leben der Betroffenen oft zu großen Belastungen.

Belastende und stressreiche Ereignisse, wie das plötzliche Auftreten von Aphasie und deren Folgen machen Prozesse der Auseinandersetzung erforderlich, um sich an die neu entstandene Situation anpassen zu können. Innerhalb der Bewältigungsforschung werden verschiedene Konzepte der Bewältigung stressreicher bzw. kritischer Lebens- ereignisse vorgestellt (z.B. FILIPP 1995, LAZARUS 1995, SCHUCHHARDT 1982). Eine mögliche Form der Bewältigung bzw. eine Hilfe im Prozess der Auseinandersetzung mit einem belastenden Ereignis wie einer Aphasie kann die Teilnahme an einer Selbst- hilfegruppe sein.

In einer Selbsthilfegruppe hat der Einzelne die Möglichkeit, durch Mithilfe anderer Gleichbetroffener, Lösungen für seine Probleme zu finden. Selbsthilfegruppen können Hilfen zur Gestaltung des alltäglichen Lebens und zur Erweiterung der Kompetenzen eines jeden bieten. Durch die Teilnahme an einer Gruppe werden die Betroffenen aktiv und übernehmen Selbstverantwortung für ihr Leben. Die Hinwendung zur Selbsthilfe bedeutet jedoch nicht zwangsläufig die Abkehr von Fachwissen und Fachleuten. Die Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen mit Fachleuten bzw. Professionellen kann sich, im Gegenteil, als vorteilhaft für beide Seiten erweisen (vgl. MÖLLER 1992, S. 15).

Die Unterstützung von Selbsthilfegruppen durch Fachleute hat sich in den letzten Jahren als neue professionelle Tätigkeit herausgebildet (vgl. BALKE u. THIEL 1991, S. 9). Professionelle Helfer haben sich vermehrt der Selbsthilfe-Unterstützung zuge- wandt und spezielle Selbsthilfe-unterstützende Angebote entwickelt. Allerdings gibt es aufgrund mangelnder Standards für ein klares berufliches Handlungsverständnis praktischer Haltungen Schwierigkeiten in der Unterstützungsarbeit; eigenes fachliches Handeln wurde bislang selbst definiert. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Neubestimmung der Beziehung zwischen Helfer und Hilfesuchendem, denn das klassische Rollenverständnis von „professionell“ und „laienhaft“ und das daraus resultierende hierarchische Gefälle zwischen Experten und Betroffenem widerspricht dem Prinzip der Selbsthilfe. Der Unterstützer sollte stattdessen Chancen und Möglichkeiten, die in der Gruppe liegen, freilegen und fördern. Von entscheidender Bedeutung ist deshalb die Selbstaufklärung der Rolle der Unterstützers.

Da Prozesse der Bewältigung individuell unterschiedlich ablaufen, hat die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für jeden einzelnen Betroffenen eine andere Bedeutung im Bewältigungsprozess. Auch dieser Aspekt muss in der Unterstützungsarbeit durch Professionelle Berücksichtigung finden.

Aus diesen Aspekten ergibt sich die Fragestellung meiner Arbeit:

Welche Bedeutung hat die Selbsthilfegruppe für von Aphasie betrof- fene Menschen im Bewältigungsprozess und wie kann die Arbeit in einer solchen Gruppe sinnvoll von Fachleuten unterstützt werden?

Ziel meiner Untersuchung ist herauszufinden, welche Bedeutung Aphasiker-Selbsthilfe- gruppen im Bewältigungsprozess zukommt und in welcher Art und Weise Fachleute unterstützend mitwirken können. Aus der Interpretation der Ergebnisse sollen Konse- quenzen bzw. Handlungsgrundlagen für die professionelle Unterstützungsarbeit abge- leitet werden. Grundlage für meine Untersuchung bildet hierbei die Aphasiker- Selbsthilfegruppe-Kiel. Mit Hilfe eines der qualitativen Forschung entlehnten Befragungsverfahrens bin ich der oben genannten Fragestellung nachgegangen.

Um mein Vorgehen zu verdeutlichen, stelle ich den Aufbau der Arbeit im Einzelnen vor:

Zunächst stelle ich das meiner Arbeit und meiner Mitwirkung in der Aphasiker-Selbst- hilfegruppe-Kiel zugrundeliegende Menschenbild vor (Kap. 2).

In Kap. 3 werden die medizinischen Grundlagen einer Aphasie erläutert. Außerdem stelle ich, der Vollständigkeit halber, die wichtigsten gegenwärtigen Aphasieklassifikationen der deutschen Aphasiologie vor, wobei jedoch zu berücksichti- gen ist, dass diese dem zuvor vorgestellten Menschenbild widersprechen.

Im Anschluss an die medizinische Betrachtungsweise der Aphasie finden die Folgen für Kommunikationsprozesse mit von Aphasie betroffenen Menschen Berücksichtigung (Kap. 4).

Anschließend findet der Aspekt des Lebens mit Aphasie Beachtung (Kap. 5). Dazu werden zunächst ausführlich unterschiedliche Theorien zu Belastung und Bewältigung dargestellt (Kap. 5.1). In Kap. 5.2 gehe ich unter Einbeziehung dieser Modelle auf Belastung und Bewältigung im Zusammenhang mit Aphasie ein.

Kap. 6 behandelt die Aspekte Selbsthilfegruppen und professionelle Unterstützung. M.E. können die dort aufgeführten allgemeinen Ausführungen zu Selbsthilfegruppen auch für Aphasiker-Selbsthilfegruppen gelten.

Im 7. Kapitel stelle ich die methodologischen Überlegungen zur Untersuchungsdurchführung vor. In Kap. 7.1 beschreibe ich die Erhebungsmethode, in Kap. 7.2 die Methode der Auswertung der erhobenen Daten.

Im 8. Kap. beschreibe ich zunächst die Rahmenbedingungen innerhalb derer meine Untersuchung stattfindet, sowie die Kontaktaufnahme zu den einzelnen Interviewpartnern (Kap. 8.1). Anschließend (Kap. 8.2) reflektiere ich mein eigenes kommunikatives Handeln während der Treffen und der Interviews kritisch, da sich hieraus bedeutsame Aspekte für die Interpretation der Auswertungen (Kap. 8.3 und 8.4) ergeben können. Im Anschluss (Kap. 8.5) werden Konsequenzen für die professionelle Unterstützung, die aus den Ergebnissen der Untersuchung abgeleitet wurden, dargestellt.

Zuletzt erfolgen die Schlussbetrachtung und der Ausblick (Kap. 9).

Der Begriff „Aphasiker“ wird in dieser Arbeit nicht verwendet, da diese Bezeichnung für Menschen mit dieser Störung der Sprache defizitorientiert ist, d.h. die Störung wird als charakteristisch für den jeweils Betroffenen in den Vordergrund gestellt und nicht der Mensch selbst. Um meinem Menschenbild entsprechend gerecht zu werden, habe ich mich deshalb dazu entschlossen, die Begriffe „Betroffener“ bzw. „von Aphasie betroffener Mensch“ zu verwenden.

„Der Aphasiker ist nicht nur Aphasiker. Er ist noch der Mensch, er vor Ausbruch der Aphasie war, mit allen seinen Eigenschaften, seinem Wissen und seinen Wünschen.“ (LUTZ 1992, S. 365)

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass ich der Lesbarkeit halber für verschiedene Bezeichnungen, beispielsweise für Berufe, die maskuline Form verwende, was jedoch beide Geschlechter mit einschießt.

Alle Daten, die zur Grundlage der Auswertung dienen sind im beiliegenden Materialband aufgeführt.

2. Zur Menschenbildkonzeption

Jede Begegnung mit anderen Menschen impliziert eine grundsätzliche Vorstellung, die wir von Menschen haben. Es bestehen Annahmen und Sichtweisen über deren grundsätzliche Fähigkeiten, so dass der Umgang mit diesen Menschen nicht voraussetzungsfrei ist. So bildet das Menschenbild, das zugrunde gelegt wird, den Rahmen einer speziellen Kommunikationssituation und beeinflusst den Kommunikationsprozess auf vielfältige Weise (vgl. MUTZECK 1999, S. 41).

MUTZECK beschreibt ein humanistisches Menschenbild, in dem der Mensch als ganzheitliches Wesen gesehen wird, „welches von seinen generellen Möglichkeiten her (potentiell) die Fähigkeiten des Denkens einschließlich des Entscheidens und Wollens, des Fühlens, des Sprechens und Handelns besitzt“ (MUTZECK 1999, S. 41)

Im Folgenden werde ich in Anlehnung an MUTZECK einige Merkmale des humanistischen Menschenbildes vorstellen, die für meine Arbeit von Relevanz sind. Diese Merkmale geben jedoch noch kein vollständiges Bild des Menschen wieder. Zudem sind sie nicht isoliert zu betrachten, sondern bilden vielmehr eine Einheit, eine Ganzheit. Weiterhin handelt es sich um ein ideales Bild des Menschen, das zur Orientierung bei Methodenkonzeptionen dienen soll (ebd.).

Die menschliche Fähigkeit der Reflexivität beschreibt die Fähigkeit des Nachdenkens und des Überlegens. Der Mensch kann vergangene Erfahrungen verarbeiten und ihnen Sinn und Bedeutung zuschreiben. Zudem ist er dazu in der Lage, zukunftsbezogen zu handeln, indem er sich Ziele und Möglichkeiten zu deren Erreichung überlegt. Der Mensch kann Erfahrungen reflektieren und zur Bewältigung von Problemen einsetzen (vgl. MUTZECK a.a.O., S. 42).

Der Mensch als reflexives Wesen verfügt über die Fähigkeit der Rationalität, d.h. sein Handeln ist begründbar und hat einen Sinn. Die oben genannte Fähigkeit zur Überlegung und Erreichung von Zielen geschieht absichtlich und vernunftorientiert. Als Bestandteile des rationalen Prozesses nennt MUTZECK Abwägen, Auswählen, SichEntscheiden und Begründen.

„Der Mensch versucht, seine durchdachte Welt- und Selbstsicht (Subjektive Theorie) in der Realität anhand von Erfahrungen zu überprüfen und einzuordnen.“ (ebd.)

Rationalität beinhaltet auch Intentionalität. Gemeint ist damit die bewusste und aufmerksame Hinwendung zu einem Ziel oder einem Objekt. Der Mensch handelt sinngerecht und überlegt, da er sich intentional und rational verhält.

Die Erkenntnisfähigkeit hängt ebenfalls zusammen mit der Fähigkeit zur Rationalität.

„Durch Prozesse des Erkennens, in den Wahrnehmen, Erinnern, Vorstellen, Denken, Zurückführen, Beurteilen einfließen, erwirbt das Individuum bewußte Kenntnis und Wissen von seiner Umwelt und von sich selbst und kann diese Erkenntnis in seine allgemeinen Lebenszusammenhänge einordnen und verändern.“ (MUTZECK 1999, S. 43)

MUTZECK betont, dass das Handeln des Menschen nicht ausschließlich aus dem Denken resultiert; er beschreibt den Menschen als emotionales Wesen und betont daher den Aspekt der Emotionalität als menschliche Eigenschaft. Mit Emotionen sind hier Merkmale wie Gefühle, Selbstbetroffenheit, Erleben von Lust und Unlust, Stim- mungen, Erlebnisse wie Freude, Ärger, Angst und Mitleid gemeint. Kognitive Prozesse werden von Emotionen beeinflusst, die sich schließlich in Erwartungen, Überzeugungen, Wertungen, Beurteilungen etc. manifestieren. ULICH kennzeichnet Emotionen als „subjektive Erfahrungstatsachen bzw. Bewußtseinsinhalte, die persönliche Betroffenheit und Engagement in unseren Beziehungen zur Welt ausdrücken.“ (ULICH 1982, zit. nach MUTZECK 1999, S. 44)

Ein weiterer Aspekt, den ich für meine Arbeit als von besonderer Bedeutung erachte, ist die menschliche Fähigkeit zu Verbalisieren und Kommunizieren. Hier wird impliziert, dass der Mensch sprechen und sich verständigen kann und so in der Lage ist, seine Gedanken, Gefühle und seinen Willen zum Ausdruck zu bringen, indem er mit anderen in Interaktion tritt. MUTZECK betont die Bedeutsamkeit, „den erkennenden, reflexiven und verbalisierungsfähigen Subjekten ausreichende Möglichkeit zu geben, ihre internalen mentalen Prozesse in ihre Sprache selbst zu artikulieren und zu interpretieren.“ (MUTZECK 1999, S. 45)

Ich gehe davon aus, dass die von mir zu befragenden Personen trotz eingeschränkter verbal-expressiver und -rezeptiver Möglichkeiten dazu in der Lage sind, mir bedeutungsvolle Inhalte zur Thematik Belastung und Bewältigung zu vermitteln.

Die menschliche Fähigkeit der Handlungskompetenz beschreibt die Hinwendung des menschlichen Verhaltens auf ein Ziel.

„Diese potentielle Handlungsfähigkeit des menschlichen Subjekts impliziert die Rationalität, die Reflexivität, die Emotionalität einerseits und das produktive Tätigsein andererseits.“ (MUTZECK 1999, S. 45)

Der Mensch ist potentiell dazu in der Lage, seine Intentionen, Anliegen und Wünsche in Handeln umzusetzen (ebd.).

Der Aspekt der Autonomie beschreibt die Fähigkeit des Menschen, prinzipiell seine Entscheidungen selbständig, aus eigener Vernunft zu treffen (vgl. MUTZECK a.a.O., S. 46). Wichtig ist deshalb, Situationen zu schaffen, in denen eine nicht-bevor- mundende soziale Beziehung und damit kommunikatives, autonomes Handeln eines reflexiven Subjektes ermöglicht wird.

Ich schließe meine Ausführungen in Anlehnung an SIEBERT (1999, S. 1 ff) mit der Annahme, dass objektive Realitäten nicht existieren, sondern dass der Mensch Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist. Somit wird jedes Individuum im Rahmen meiner Befragung seine ihm als subjektiv relevant erscheinenden Bedeutungsinhalte zum Forschungsgegenstand wiedergeben.

Die hier vorgestellten Menschenbildannahmen bilden die Grundhaltung für den Umgang mit den zu befragenden Personen.

Im folgenden Abschnitt werde ich auf medizinische Hintergründe und Klassifikationen der Aphasie eingehen.

3. Zu den medizinischen Hintergründen einer Aphasie

In diesem Abschnitt werden die theoretischen Grundlagen für das Verständnis von Aphasien dargestellt. In diesem Zusammenhang wird deutlich werden, dass Definition, Ätiologie und Symptomatik der Aphasien nicht eindeutig geklärt sind. Das Kapitel beginnt mit einer versuchsweisen Klärung des Aphasiebegriffs (Kap. 3.1). Anschließend folgt die Darstellung der Ätiologie (Kap. 3.2) und die Einteilung der Aphasien in die verschiedenen Syndrome (Kap. 3.3). Hier wird sich herausstellen, dass in der Aphasieforschung noch immer die Lokalisationstheorie vorherrscht, obwohl diese weder am Individuum orientiert noch auf alle Aphasien anwendbar ist. Den Ab- schluss dieses Kapitels bildet eine kurze Stellungnahme und Diskussion um den Syndromansatz.

3.1 Begriffsbestimmung

Aphasie wird auf unterschiedliche Weise definiert. BROOKSHIRE meint:

„Wenn wir ein halbes Dutzend Experten nach ihrer Meinung fragen würden, erhielten wir wahrscheinlich ein halbes Dutzend Definitionen. So scheint eine allgemein gültige Definition der Aphasie ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.“ (BROOKSHIRE 1983, S. 19)

Dem Begriff nach ist „Aphasie“ (Gr. aphasia) dem Griechischen entlehnt nach „a“ = un/ nicht und „phasis“ = Sprache/ Rede, und bedeutet dem Wortsinn nach soviel wie „ohne Sprache“ bzw. Sprachverlust (vgl. PITA 1994, S. 21; HARTMANN 1996, S. 146).

Mit dem Begriff Aphasie wird also der Verlust von Sprache bezeichnet, und zwar nach Abschluss des primären Spracherwerbs infolge einer Hirnschädigung der linken Hemisphäre. Somit ist die Aphasie von Sprachstörungen des Kindesalters, wie z.B. Sprachentwicklungsverzögerungen oder sprachlichen Beeinträchtigungen infolge frühkindlicher Hirnschädigungen abzugrenzen (vgl. LEISCHNER 1987, S. 268).

Weiterhin ist die Aphasie von Störungen der Sprechmotorik zu unterscheiden. Diese sog. Dysarthrien sind Artikulationsstörungen mit Beeinträchtigungen der Phonation, Prosodie und des Sprechrhythmus. Eine Dysarthrie kann eine Aphasie begleiten, aber ebenso unabhängig von ihr auftreten (vgl. HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 89).

Ebenfalls abzugrenzen ist die Aphasie von anderen Störungen wie z.B. degenerativen Erkrankungen des Gehirns oder Sprachstörungen, die durch Läsionen in der rechten Hemisphäre verursacht werden, da sie sich in Symptomatik und Verlauf von der Aphasie unterscheiden.

Erworbene Aphasien beschränken sich allerdings nicht auf Erwachsene. Auch Kinder können von Aphasie betroffen sein. Diese kindlichen Aphasien unterscheiden sich aber in Erscheinungsbild und Verlauf erheblich von den Aphasien Erwachsener und sind daher von diesen abzugrenzen (vgl. POECK 1994, nach TESAK 1997, S. 3).

Trotz dieser definitorischen Bestimmungsstücke und der Abgrenzung von einigen anderen Störungen ist der Begriff der „Aphasie“ nicht eindeutig geklärt; die Sprachstörung Aphasie ist eine fest umschriebene Störung und trotz der Eingrenzung durch die oben genannten Komponenten könnten hierunter weitere Formen von Sprachverlust nach abgeschlossenem Spracherwerb verstanden werden (vgl. WALLESCH 1988, S. 152).

HARTMANN (1996 S. 147) hält den Begriff der Aphasie für semantisch nicht korrekt, da Betroffene in nur sehr seltenen Fällen einen die gesamte Sprache betreffenden Sprachverlust erleiden. Er schlägt deshalb für diese Störung sprachlicher Fähigkeiten den Begriff der Dysphasie (Gr. „dys“ = Störung) als zutreffenderen und präziseren Begriff vor. Da dieser Begriff in der französischen Literatur allerdings für Verzögerungen in der Sprach- und Sprechentwicklung besetzt ist, lehnt BÖHME (1983, nach HARTMANN a.a.O., S. 148) diesen Begriff als uneinheitlich ab.

Abschließend möchte ich die zuvor genannten Aspekte noch durch zwei Definitionen zur Aphasie verdeutlichen.

„Aphasien sind Störungen der Sprache, die sich auf allen Ebenen (Laut, Wort, Satz und Text/ Diskurs) und in allen Modalitäten (expressiv und rezeptiv, laut- und schriftsprachlich) der Sprachverarbeitung nach vollzogenem Spracherwerb manifestieren, durch eine umschriebene Hirnschädigung bedingt sind [...].“ (WALLESCH 1988, S. 152)

„[Aphasien sind] zentrale Sprachstörungen, die linguistisch als Beeinträchtigung in den verschiedenen Komponenten des Sprachsystems (Phonologie, Lexikon, Syntax und Semantik) zu beschreiben sind. Die aphasischen Störungen erstrecken sich auf alle expressiven und rezeptiven sprachlichen Modalitäten, auf Sprechen und Verstehen, Lesen und Schreiben, wobei im Prinzip dieselben sprachsystematischen Merkmale der Störungen nachweisbar sind.“ (HUBER, POECK, WENIGER 1989, S 89)

Bei der Betrachtung beider Definitionen wird deutlich, dass sich die Sichtweise der Aphasie weitgehend auf formale Aspekte der Sprache beschränkt und der Aspekt des Sprachverlustes als Kommunikationsstörung in den Hintergrund tritt. Auf diesen Aspekt der Aphasie werde ich im nächsten Kapitel (Kap. 4.) eingehen.

Aufgrund der Verbreitung des Aphasiebegriffs für die oben beschriebene Störung, wird dieser, allerdings unter Vorbehalt, weiterhin verwendet.

3.2 Ätiologie

Seit Gall (1807) ist es üblich, bestimmten Arealen des Gehirns bestimmte Aufgaben zuzuschreiben (vgl. TESAK 1997, S. 41). So ordnet die Hemisphärenspezialisierung der linken Hemisphäre die Planung und Kontrolle motorischer Prozesse, Rechnen, das verbale Gedächtnis und die zentrale Sprachverarbeitung zu, wohingegen die rechte Hemisphäre für räumliches Denken, Musik und die Verarbeitung emotionaler Vorgänge verantwortlich sein soll (ebd.).

Dieser Einteilung folgend ist die linke Hemisphäre sprachdominant. Patienten, die einen rechtshemisphärischen Gefäßverschluss erleiden sind meist nicht oder nur leicht aphasisch.

„Bei erwachsenen Rechtshändern treten bei Läsionen in der linken Fronto-Temporo-Parietalregion regelmäßig aphasische Störungen auf. [...] Diese Hemisphäre wird als sprachdominant bezeichnet.“ (PITA 1994, S. 22)

Ursache von Aphasien ist eine plötzlich auftretende und umschriebene Läsion der Großhirnrinde der linken Hemisphäre (vgl. TESAK a.a.O., S. 43; WALLESCH 1993, S. 14).

Mit etwa 65-80 % sind Hirngefäßerkrankungen, wie z.B. Hirninfarkte die häufigste Ur- sache für die Entstehung einer Aphasie (vgl. TESAK 1997; HUBER, POECK, WENIGER 1997; LEISCHNER 1987; HARTMANN 1996). Weitere Ursachen sind traumatische Schädigungen, wie Schädel-Hirn-Traumata und Hirntumoren, Aneurysmen, entzünd- liche Prozesse und andere pathologische Erkrankungen des Gehirns (vgl. TESAK a.a.O., S. 43).

Der Lokalisationstheorie gegenüber stehen ganzheitliche Hirnfunktionstheorien, die eine Zuordnung bestimmter Fähigkeiten zu festumschriebenen Hirnarealen ablehnen (vgl. HARTMANN 1996, S. 142). WALLESCH vertritt die Ansicht, dass das gesamte Gehirn an der Sprachverarbeitung beteiligt ist (vgl. WALLESCH 1993, S. 14).

Abschließend ist festzuhalten, dass in der Forschung keine Einigkeit darüber herrscht, wie Aphasien entstehen und ob die sie verursachenden Läsionen anatomisch zuzuordnen sind. WALLESCH fasst diesen Sachverhalt zusammen:

„Bis zum heutigen Tag ist die Neurologie nicht in der Lage, die pathophysiologischen Grundlagen der Aphasien aufzuklären. Anatomische Erklärungsansätze, wie sie die klassische Aphasietheorie darstellt, werden zwar weiterhin angewendet (...), erscheinen aber vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse über die funktionale Struktur des Cortex prinzipiell verfehlt.“(WALLESCH 1988, S. 169)

3.3 Klassifikation der aphasischen Syndrome

In diesem Abschnitt werden zunächst kurz die verschiedenen Stadien der Erkrankung dargestellt, denn eine Einteilung in die Standard-Syndrome kann nicht unmittelbar nach dem die Hirnschädigung verursachenden Ereignis erfolgen.

Die Stadien der Erkrankung lassen sich einteilen in die akute und die chronische Phase. Die Akutphase folgt unmittelbar auf das hirnschädigende Ereignis und dauert etwa vier Wochen an. Nach WALLESCH (1993, S. 17) stehen hier v.a. Störungen von Basisfunktionen wie Antrieb, Aufmerksamkeit und Bewusstseinslage im Vordergrund. Erst vier Monate nach der Erkrankung kann die Aphasie als chronisch bezeichnet und eine Einteilung in die verschiedenen Syndrome vorgenommen werden (ebd.).

Die durch die Aphasie bedingten Sprachstörungen verändern sich im Laufe der Zeit (ebd.). Als Faktoren hierfür nennt der Autor neben der Veränderung der anatomischen Läsion und pathophysiologischen Einflüssen die individuelle Kompensationsfähigkeit, andere begleitende Defizite wie z.B. eine Halbseitenlähmung und psychosoziale Bedingungen, die auf die Entwicklung einwirken können (ebd.; vgl. Kap. 5.2.2). Trotz dieser beschriebenen Veränderungen bleiben die Symptome einer Aphasie relativ konstant. WALLESCH beschreibt die Zusammensetzung der Symptomatik einer Aphasie als von zwei Faktoren abhängig: zum einen dem schädigungsbedingten Defizit, zum anderen der individuellen Kompensationsleistung (ebd.).

Die Symptomatik einer Aphasie basiert auf einer Vielzahl von Symptomen auf allen linguistischen Ebenen und in allen Modalitäten (vgl. TESAK 1997, S. 32). Obwohl jeder Betroffene eine individuelle Symptomatik, d.h. ein unterschiedlich gut erhaltenes oder beeinträchtigtes sprachliches Können zeigt, sind Symptomkombinationen in immer ähnlicher Weise zu beobachten. Solche „Symptombündel“ werden als aphasische Syndrome zusammengefasst (ebd.).

„Die Kombination der aphasischen Symptome [...] wird nicht in beliebiger Vielfalt beobachtet. Vielmehr lassen sich [...] typische Störungsmuster erkennen [...]. Diese Syndrome bleiben in ihren wesentlichen Charakteristika konstant.“ (HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 107)

Die Klassifikation der Syndrome erfolgt in Anlehnung an die Aachener Schule und den „Aachener Aphasie Test“ (AAT). Grundannahme des AAT ist, dass sich die Syndrome aus den sie verursachenden Läsionen ergeben. Obwohl an der Lokalisationslehre inzwischen Kritik geübt wird und nachgewiesen ist, dass der Ort der Läsion nicht einem bestimmten Syndrom zuzuordnen ist, scheint die Lokalisationslehre in der Forschung weiter vorzuherrschen (vgl. PITA 1994; HUBER, POECK, WENIGER 1989, WALLESCH 1988, TESAK 1987; LEISCHNER 1987).

Im Folgenden werden die vier Standard-Syndrome, die globale Aphasie, die Brocaund die Wernicke-Aphasie und die amnestische Aphasie sowie die Nicht-Standard- Syndrome dargestellt.

3.3.1 Globale Aphasie

Die globale Aphasie ist die schwerste Form von Aphasie (vgl. HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 122; TESAK 1997, S. 33, HARTMANN 1996, S. 159). LEISCHNER (1987) beschreibt sie außerdem als die häufigste Aphasieform. Alle sprachlichen Modalitäten (Sprechen, Verstehen, Schreiben und Lesen) sind betroffen.

Die Spontansprache ist gekennzeichnet durch die starke Einschränkung, Sprache zu äußern (vgl. PITA 1994, S. 31; HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 122). Weitere Kenn- zeichen sind die große Sprechanstrengung und die stockende Redeweise (ebd.). Bei den wenigen spontanen Äußerungen handelt es sich zum Großteil um Automatismen1 und Stereotypien2. HUBER, POECK, WENIGER (a.a.O. S. 123) unterscheiden zwischen Automatismen und Stereotypien insofern, als letztere häufig im Gegensatz zu den Automatismen der Situation angemessen eingesetzt werden können3. In sehr schwe- ren Fällen beschränkt sich die Sprachproduktion auf fortlaufende Sprachautomatismen, sogenannte recurring utterances; die aus aneinandergereihten Konsonant-Vokal-Ab- folgen bestehen können (ebd.).

Neben Automatismen und Stereotypien werden häufig phonematische Neologismen4 und Echolalien5 produziert (vgl. TESAK a.a.O., S. 24). Zudem haben Menschen mit globaler Aphasie eine starke Tendenz zu Perseverationen6 und die syntaktische Struktur des Geäußerten ist agrammatisch.

Oft ist die globale Aphasie kombiniert mit einer Dysarthrie, einer Störung der Sprechmotorik, was zu schweren Beeinträchtigungen der Artikulation, der Prosodie und der Phonation führen kann (vgl. HARTMANN a.a.O., S. 160).

Das Sprachverstehen bei Menschen mit globaler Aphasie ist schwer gestört, die Betroffenen verstehen oft nur einfache Fragen oder Aufforderungen. Das Lesesinnverständnis und die Fähigkeit zu Schreiben sind oft schwerer beeinträchtigt als die laute Sprache (vgl. PITA 1994, S. 31).

Trotz der genannten Schwierigkeiten in der Sprachproduktion- und -perzeption sind Menschen mit globaler Aphasie durchaus in der Lage, Gedanken zu vermitteln und sinnvoll zu kommunizieren. Durch verschiedene Kompensationsstrategien verbaler und nonverbaler Elemente (vgl. Kap. 4.2 und 4.4), wie bewusstes Einsetzen von Intonation, Sprechgeschwindigkeit oder Mimik und Gestik wird ein Minimum an sprachlicher

Mitteilung möglich (vgl. HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 127). Allerdings können durch verschiedene Begleitsymptome, wie z.B. der Fingeragnosie, der Rechts-links- Unterscheidungsstörung, einer A- bzw. Dyspraxie und einer Hemiparese die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation eingeschränkt sein.

Ein Großteil der Betroffenen erlangt die Fähigkeit, eigene Gedanken der Situation angemessen neu zu formulieren, nicht wieder (ebd.). Die Prognose dieses AphasieSyndroms wird als negativ beschrieben.

3.3.2 Broca-Aphasie

Leitsymptom der Broca-Aphasie ist ein stark verlangsamter Sprachfluss und die nichtflüssige und stockende Redeweise der Betroffenen (vgl. PITA 1994, S. 26).

Kennzeichen der Spontansprache sind kurze und vereinfachte Konstruktionen. Diese telegrammstilartigen Äußerungen werden verursacht durch die Vereinfachung der Syntax und der Morphologie, den sogenannten Agrammatismus (vgl. HARTMANN 1996, S. 161).

Die Äußerungen der Betroffenen beschränken sich auf wenige Wörter. Dabei handelt es sich vorwiegend um Inhaltswörter, Funktionswörter werden seltener produziert. Außerdem ist die syntaktische Verknüpfung fehlerhaft. Patienten mit Broca-Aphasie ordnen die Wörter im Satz meist nach der ihnen zugeschriebenen Wichtigkeit, nicht nach grammatikalischen Regeln (vgl. PITA, a.a.O., S. 27). Weiterhin zu beobachten sind Sprachanstrengung7 und Sprechanstrengung8.

Die Broca-Aphasie ist außerdem gekennzeichnet durch lexikalische Störungen. Dabei treten phonematische Paraphrasien häufiger auf als semantische Paraphrasien9.

Das Sprachverständnis von Betroffenen mit Broca-Aphasie ist relativ gut erhalten. Die Kommunikation ist lediglich durch die expressive Störung eingeschränkt (vgl. PITA a.a.O. S. 28).

Beim Lesen sind die gleichen Störungen wie im expressiven Sprachgebrauch der Spontansprache zu beobachten10, allerdings in quantitativ geringerem Maße. Das Lesesinnverständnis entspricht dem Schweregrad des auditiven Verständnisses (vgl. HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 115).

Beim Schreiben sind agrammatische Symptome und Paragraphien zu beobachten, die den phonematischen Paraphrasien der Lautsprache entsprechen (ebd.). Mögliche Begleitsymptome der Broca-Aphasie sind Hemiparesen und/ oder eine Dysarthrie, die zu Phonationsproblemen und verwaschener Artikulation führen kann (vgl. HARTMANN a.a.O., S. 161).

3.3.3 Wernicke-Aphasie

Betroffene mit Wernicke-Aphasien sprechen flüssig und mit guter Prosodie und Artikulation, wobei sich Phrasenlänge und -geschwindigkeit der Spontansprache nähern (vgl. PITA 1994, S. 29; HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 117), jedoch ist die Kommunikationsfähigkeit der Wernicke-Aphasien durch expressive und rezeptive Störungen stark eingeschränkt.

Auf der Wortebene ist die Spontansprache durchsetzt von Paraphrasien, die nicht zu korrigieren versucht werden. Hierbei handelt es sich um phonematische und semantische Paraphrasien, die grob vom Zielwort abweichen können (ebd.). Diese paragraphischen Entstellungen führen bis hin zu Neologismen, d.h. Wörtern, die aus phonematischen oder semantischen Gründen nicht zum Wortschatz der jeweiligen Sprache gehören. Das kann bis hin zum phonematischem oder semantischem Jargon führen, bei dem die Sprachproduktion nur noch einen geringen Informationsgehalt hat (vgl. TESAK 1997, S. 18). Von diesen Entstellungen sind Inhaltswörter häufiger betroffen als die Funktionswörter, die oft erhalten sind.

Auf der Satzebene zeigt sich bei Menschen mit Wernicke-Aphasie ein komplex ange- legter Satzbau, mit meist grammatisch korrekt formulierten aber lose aneinander- gereihten paragrammatischen Formulierungen. Diese Satzverdopplungen und - verschränkungen sowie mit falschen Funktionswörtern und Flexionsformen formulierte Sätze können dem Gesprächspartner Schwierigkeiten bereiten, den inhaltlichen Zusammenhang des Geäußerten zu erfassen (vgl. HARTMANN 1996, S. 162). Ein wesentliches Merkmal der gestörten Kommunikation ist die Logorrhoe11, die es dem Gesprächspartner erschwert, dem Geäußerten zu folgen (vgl. TESAK a.a.O., S. 22).

Das Sprachverständnis von Menschen mit Wernicke-Aphasie ist ebenfalls beeinträchtigt. Die Betroffenen erfassen kaum etwas vom Gesagten, dadurch ist die Kommunikationsfähigkeit stark eingeschränkt (vgl. HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 121). Allerdings zeigen sich Menschen mit Wernicke-Aphasie trotz der einge- schränkten Kommunikationsfähigkeit in Kommunikationsprozessen sehr gesprächig.

„[trotz der gestörten Kommunikationsfähigkeit](...) läßt sich der formale Rahmen eines Gesprächs mit Rede und Gegenrede ohne Schwierigkeiten herstellen, selbst wenn die Gesprächspartner inhaltlich und gelegentlich selbst thematisch aneinander vorbeireden. Die Fähigkeit, einen Dialog formal zu führen, beruht möglicherweise darauf, daß Wernicke-Aphasiker trotz schwerster Sprachverständnisstörungen die Oberflächenmerkmale von Sprechakten, wie die Intonation von Fragen und Aufforderungen erkennen.“ (HUBER ET AL. 1983, zit. nach PITA 1994, S. 29)

Die erfolgreiche Kommunikation scheint oberflächlich betrachtet möglich, da lange „Gespräche“ durchführbar sind. Allerdings sind verstandene sowie erfolgreich vermittelte Inhalte selten. Eine Selbstkontrolle durch den Betroffenen ist aufgrund der gestörten Sprachrezeption kaum möglich, was HARTMANN (a.a.O., S. 163) auf das geringe Störungsbewusstsein zurückführt. Aus diesem Grund wird die emotionale Befindlichkeit, im Gegensatz zur Broca-Aphasie und globalen Aphasie, als auffallend gehoben und manchmal sogar euphorisch beschrieben (ebd.).

Die schriftsprachlichen Fähigkeiten sind in gleichem Maße beeinträchtigt wie die lautsprachlichen (vgl. HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 121).

Die Prognose der Wernicke-Aphasie wird aufgrund fehlender Kritikfähigkeit und damit verbundener Therapiemotivation als relativ ungünstig beschrieben (vgl. LEISCHNER 1987, nach HARTMANN a.a.O., S. 163).

3.3.4 Amnestische Aphasie

Die amnestische Aphasie ist die leichteste Form der Aphasie. Gekennzeichnet ist sie durch Wortfindungsstörungen, d.h. einzelne Wörter können nur verzögert oder partiell abgerufen werden.12

Bei leichten Fällen ist die Sprachproduktion flüssig und in normaler Sprech- geschwindigkeit gut artikuliert; die Prosodie ist unauffällig (vgl. HARTMANN 1996, S. 164). Eine Unterhaltung kann sinnvoll in syntaktisch korrektem Satzbau geführt werden. Wenn die Rede eines Betroffenen stockt, werden Ersatzstrategien angewandt (s.u.). Insgesamt weicht die Sprache nur wenig von der Sprachgesunder ab. In schweren Fällen kann der Sprachfluss häufiger ins Stocken geraten und der Betroffene zeigt eine zögernde Sprechweise. Die daraus resultierenden Satzabbrüche erwecken den Eindruck von inkorrekt produzierten Sätzen. Durch Wortfindungsstörungen und damit notwendig gewordenen Ersatzstrategien wirkt die Sprache redundant und informationsarm. Jedoch kann die kommunikative Absicht fast immer mit Hilfe von Ersatzstrategien verwirklicht werden.

HUBER, POECK, WENIGER nennen folgende Ersatzstrategien:

Ausweichen in allgemeine Floskeln („na, Sie wissen schon...da hab ich das halt so gemacht“);

Stellvertreterworte ohne spezifische Bedeutung wie „das Dingsda“;

Beschreibung von Gebrauch oder Eigenschaft, z.B. „um die Zeit zu sehen“ für Uhr oder „was so schwarz ist“ für Kohle;

Ausweichen in Pantomime;

Perseveratorische Wiederholung von gerade gebrauchten Worten;

Abbrechen und Fortführen des Themas in variierter Form, wobei der neue Ansatz weiter von der intendierten Aussage wegführt.

Seltener ist ein vollständiges Abbrechen der sprachlichen Äußerung. (nach: HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 109)

Das Sprachverständnis der Betroffenen ist nur geringfügig gestört und unterscheidet sich ebenfalls nur wenig von sprachunauffälligen Menschen. Dadurch ist die Kommunikationsfähigkeit in den meisten Fällen kaum oder gar nicht beeinträchtigt (vgl. HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 110).

Die schriftsprachlichen Leistungen entsprechen der mündlichen Sprachexpression.

Die Prognose ist im Gegensatz zu den anderen Syndromen recht günstig (vgl. HUBER, POECK, WENIGER a.a.O., S. 110).

3.3.5 Nicht-Standard-Syndrome

Bei den Nicht-Standard-Syndromen spielen, im Unterschied zu den vier „klassischen“ Syndromen, einzelne Leistungen im Vergleich eine wichtige Rolle. Charakterisiert sind diese Syndrome durch besonders gutes oder schlechtes Nachsprechen (vgl. PITA 1994, S. 34). Unterschieden werden die Leitungsaphasie, die transkortikal-motorische Aphasie, die transortikal-sensorische Aphasie und die gemischt-transkortikale Aphasie.

Leitungsaphasie:

Die Sprachproduktion ist flüssig mit normaler Artikulation und Prosodie (vgl. HUBER, POECK, WENIGER, 1989, S. 129). Das Sprachverständnis und die Wortfindung sind nur wenig beeinträchtigt. Die Betroffenen produzieren phonematische Paraphrasien, die zu korrigieren versucht werden. Ein wesentliches Merkmal dieser Aphasie sind die auffallend schweren Störungen beim Nachsprechen (ebd.). Lautes Lesen und Schrei- ben sind ähnlich schwer betroffen wie das Nachsprechen (ebd.). Die Prognose dieser Aphasie wird als schlecht beschrieben (vgl. HUBER, POECK, WENIGER, nach HARTMANN 1996, S. 166).

Transkortikal-Motorische Aphasie

Kennzeichnend ist die geringe Spontansprachproduktion bei sehr guter Nachsprechund Lautleseleistung. Die Artikulation und die Syntax sind intakt und die Sprachperzeption ist kaum beeinträchtigt (vgl. PITA a.a.O., S. 34).

Transkortikal-sensorische Aphasie

Die Spontansprache ist flüssig und weist ähnliche Störungsmerkmale wie die der Wernicke-Aphasie auf. Die Betroffenen zeigen gut erhaltene Fähigkeiten beim Nach- sprechen, mit einer Tendenz zur Echolalie, wobei die Bedeutung des Geäußerten auf- grund des stark beeinträchtigten Sprachverständnisses nicht erfasst wird (ebd.).

Gemischt-transkortikale Aphasie

Die Betroffenen zeigen ein intaktes Nachsprechen bei nicht-flüssiger Sprachproduktion und beeinträchtigtem Sprachverständnis. Die Äußerungen beschränken sich haupt- sächlich auf Echolalien, Stereotypien und Automatismen (vgl. PITA a.a.O., S. 35).

3.3.6 Anmerkungen zu den Klassifikationen

Die Einteilung der aphasischen Symptome in die vier Standard-Syndrome und NichtStandard-Syndrome sind wichtig für den klinischen Zugang zur Aphasie. Durch diese Einteilung können wesentliche Informationen des Sprachverhaltens eines Patienten vermittelt werden. Zudem bestehen bei Ärzten und Therapeuten bestimmte Erwartungen bezüglich der Symptomatik (vgl. TESAK 1997, S. 36). Nach TESAK ist der funktionelle Nutzen unter medizinischem Gesichtspunkt unumstritten.

Der Autor weist allerdings darauf hin, dass dieser Syndromansatz nur für Patienten mit Aphasien, verursacht durch Schlaganfall und kortikale Läsionen anwendbar ist. Zudem lassen sich nur zwei Drittel der Aphasien den Syndromen zuordnen13 (vgl. HARTMANN 1996, S. 151). TESAK sieht das größte Problem in der Heterogenität der Syndrome, d.h. bei gleichen Syndromen können sich ganz unterschiedliche Symptomatiken zeigen. HARTMANN sieht in der Anwendung dieses Klassifikationsversuches die Gefahr, dass Patienten dem Schema angepasst werden und individuelle Unterschiede in den Symptomatiken unberücksichtigt bleiben (vgl. HARTMANN, 1996, S. 154).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einteilung in die vier klassischen Syndrome, wie oben beschrieben, wichtig und hilfreich für diagnostische und therapeutische Fragestellungen sind. Allerdings sollte die Symptomatik des einzelnen Betroffenen nicht zu Gunsten des Syndromansatzes übersehen werden.

3.4 Begleiterscheinungen der Aphasie

Neben den sprachproduktiven und -rezeptiven Ausfallerscheinungen gibt es verschiedene Begleiterscheinungen auf allen sprachlichen Modalitäten wie z.B. Agnosie, Alexie, Agraphie, Apraxie und Aufmerksamkeitsstörungen.

Die Agnosie steht als Oberbegriff für Störungen des Erkennens; wie z.B. die

Hemianopsie (halbseitige Gesichtsfeldeinschränkung), Autotopagnosie (Lokalisations- und Benennungsstörung eigener Körperteile), Fingeragnosie, Störungen der Rechts- links-Unterscheidung, Alkalkulie (Störungen in der Beherrschung des Zahlensystems und des Rechnens) und verschiedene optische Agnosien (vgl. HARTMANN a.a.O., S. 170f).

Bei der Alexie und der Agraphie handelt es sich um Störungen des Lesens und des Schreibens. Beide Störungen können unabhängig voneinander oder gemeinsam auftreten (vgl. HARTMANN a.a.O., S. 171f).

Die Apraxie beschreibt eine Störung der sequenziellen Anordnung von einzelnen Bewegungen zu Bewegungen oder von Bewegungen zu Handlungsfolgen, ohne dass eine Lähmung, die dies bedingen könnte, vorliegt (ebd.).

4. Sprach- und kommunikationstheoretische Aspekte im Zusammenhang mit Aphasie

Im vorangegangenen Abschnitt wurden medizinische und sprachformale Aspekte einer Aphasie dargestellt. In diesem Abschnitt werden nun mögliche Auswirkungen dieser Aspekte auf Kommunikationsprozesse beschrieben. Dazu stelle ich zunächst einige für meine Arbeit relevanten Definitionen zu Sprache und Kommunikation (Kap. 4.1) und theoretische Grundlagen zu Kommunikationsprozessen in Anlehnung an SCHULZ VON THUN (Kap. 4.2) vor. Anschließend erfolgt die Darstellung gestörter kommunikativer Prozesse (Kap. 4.3). Das Kapitel schließt mit dem Aspekt der Kommunikation mit Menschen, die von Aphasie betroffen sind (Kap. 4.4).

4.1 Begriffsbestimmungen

„Sprache ist eine so komplexe Erscheinung, daß sie sich einer einfachen Definition entzieht. Sprache spiegelt, schafft und verändert Realität. Sprache ist ein konventionelles, kulturgebundenes Zeichensystem. Welt- und Menschenbild einer Sprachgemeinschaft spiegeln sich in ihr wider.“ (HEIDTMANN 1996, S. 1)

Die nun folgenden Definitionen sollen der Sprache die oben angesprochene Komplexität ein Stück weit nehmen und die Bedeutung auf einen Aspekt lenken:

„Was Sprache auch immer sonst noch sein mag, sie ist ein systematisches Verfahren, mit anderen zu kommunizieren, fremdes und eigenes Verhalten zu beeinflussen, Aufmerksamkeit zu lenken und Realitäten zu schaffen...“ (BRUNER 1987, S. 102)

„Sprache: eine typisch menschliche und zugleich gesellschaftliche

Erscheinung [...] das wichtigste Kommunikationsmittel.“

(LEWANDOWSKI 1980, S. 817, zit. nach HEIDTMANN a.a.O., S. 1)

Aus beiden Definitionen geht hervor, dass Sprache vor allem kommunikative Funktion hat, d.h. als Mittel zur Verständigung dient. Sie kann außerdem selbst Gegenstand des Erkennens sein, d.h. mit Sprache kann über Sprache reflektiert werden - Metasprache. Sie kann außerdem in verschiedenen Modalitäten auftreten: sprechen, verstehen, lesen und schreiben (vgl. HEIDTMANN a.a.O., S. 1).

Lange Zeit standen bei Sprachforschern und Sprachtherapeuten sprachformale Aspekte bei Betrachtung der Sprache, d.h. wie ein Mensch verschiedene Struktur- bereiche der Sprache erwirbt und sie schließlich regelgetreu anwenden kann, im Vordergrund (vgl. MOTSCH 1989, S. 74). Wie allerdings aus den Definitionen von BRUNER und LEWANDOWSKY hervorgeht, dient die Sprache primär der Kommunikation. Auch MOTSCH weist darauf hin, dass Sprache nicht um der Sprache willen erlernt wird, sondern um mit seiner Umwelt in Kontakt treten, mit ihr kommunizieren zu können. Er führt dazu den Begriff der kommunikativen Kompetenz an, der in Abschnitt 4.4 näher erläutert wird.

Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass der Begriff der Sprache untrennbar mit dem der Kommunikation verbunden ist. Aus diesem Grund werde ich den Begriff der Kommunikation im Folgenden näher erläutern.

Je nach theoretischem Hintergrund gibt es in der Literatur unterschiedliche Definitionen von Kommunikation, abhängig von den Aspekten, die jeweils in den Vordergrund gestellt werden. Im Folgenden stelle ich einige Definitionen unterschiedlicher Autoren vor, die für meine Arbeit von Relevanz sind.

Nach WUNDERLICH ist Kommunikation

„nicht nur Austausch von sprachlichen Inhalten, (das ist sie auch), zuallererst ist sie aber Herstellen von zweiseitigen Beziehungen...“ (WUNDERLICH 1974, zit. nach HEIDTMANN 1996, S. 3)

Insbesondere den zweiten Teil dieser Definition, den der Autor hier besonders betont, nämlich das Herstellen einer Beziehung zwischen den Interaktionspartnern, erachte ich in Hinblick auf die von mir durchzuführenden Interviews (vgl. Kap. 7.1.3) als besonders bedeutsam für meine Arbeit: Einerseits ist die Thematik der Interviews sehr persönlich und für die Betroffenen individuell unterschiedlich stark belastend, so dass ein un- gezwungenes, angstfreies und weitgehend natürliches Gespräch nur in einer weit- gehend harmonischen Atmosphäre durchführbar ist, in der die Beziehung zwischen den Interaktionspartnern als angenehm empfunden wird; andererseits wirkt sich die Tatsache, dass das Gespräch auf Band protokolliert wird, möglicherweise hemmend auf den Gesprächsverlauf aus.

Nach BERNTGES-BRECHT bedeutet Kommunikation

„die Vermittlung und der Austausch von Informationen und Nachrichten zwischen Kommunikationspartnern mittels sprachlicher oder nicht-sprachlicher Symbole oder Zeichen. [...] Kommunikation ist eine lebensnotwendige Form menschlichen Daseins und Ausdruck von interaktionalen Beziehungen in sozialen Handlungsbereichen. Der Mensch bedient sich zum Austausch von Gedanken, Gefühlen oder Meinungen sprachlicher Elemente und begleitet oder ersetzt diese durch nicht-sprachliche Verständigungsmittel.“ (BERNTGES- BRECHT 1993, S. 328 )

BUßMANN bezeichnet Kommunikation als „zwischenmenschliche Verständigung mittels sprachlicher und nichtsprachlicher Mittel.“ (BUßMANN 1983, zit. nach HEIDTMANN 1996, S. 3).

Beide Autoren verweisen zum einen auf die Möglichkeit verbaler und nonverbaler Kommunikation. Welche Bedeutung verbale und nonverbale Kommunikation für die Aphasie haben kann, werde ich in Kap. 4.4 näher erläutern. Zum anderen beschreibt BUßMANN Kommunikation analog zur Definition zur Sprache von LEWANDOWSKI und BUßMANN als eine typisch menschliche Eigenschaft und BERNTGES-BRECHT betont hierbei zusätzlich den Aspekt der Lebensnotwenigkeit der Kommunikation für das menschliche Dasein. Was der Verlust oder die Einschränkung der Kommunikationsfähigkeiten für Menschen mit Aphasie bedeuten kann, wird in Kap.

5.2.1 näher erläutert.

In Anlehnung an MOTSCH stelle ich unterschiedliche Funktionen vor, die Kommunikation erfüllen kann:

Kommunikationspartner können sich unter Einbeziehung des gemeinsamen Sprachcodes und des ggf. unterschiedlichen Sozialisationshintergrundes über Meinungen, Intentionen, Emotionen oder physische Zustände mitteilen und austauschen.

Kommunikation dient der Bildung, indem sie Lernen mit und von anderen ermöglicht. Daraus resultierend ergibt sich die Funktion der Weitergabe von Wissen oder Werten und Kulturvermittlung und Sozialisation.

Durch Kommunikation kann Einfluss auf andere genommen werden, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und Ziele zu erreichen.

Zusätzlich werden durch Kommunikation soziale Strukturen entwickelt und soziale Prozesse geregelt (vgl. MOTSCH 1989, S. 77f).

Ob und wie es für Menschen mit Aphasie trotz eingeschränkter sprachlicher Fähig- keiten noch möglich ist, diese Funktionen von Kommunikation zu nutzen, wird in Kap. 4.4 thematisiert.

Im folgenden Abschnitt beschreibe ich den Grundvorgang der zwischenmenschlichen Kommunikation nach SCHULZ VON THUN (1996), um Grundlagen zum Verständnis für Störungen der Kommunikation im Zusammenhang mit Aphasie darzustellen.

4.2 Theoretische Grundlagen zur Kommunikation Zum Vorgang der Kommunikation gehören ein Sender und ein Empfänger. Der Sender übermittelt sein Anliegen in für den Empfänger erkennbare Zeichen, die dieser decodiert (vgl. SCHULZ VON THUN 1996, S. 25). Eine Nachricht beinhaltet nach SCHULZ VON THUN nun viele Botschaften gleichzeitig. Er differenziert den oben von Wunderlich dargestellten Beziehungsaspekt weiter in Selbstoffenbarungs-, Beziehungs- und Appellaspekt. Nach diesem Modell enthält eine Nachricht nun vier Botschaften (vgl. SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 26): Der Sachinhalt der Nachricht übermittelt eine Sach- information („worüber ich informiere“), wobei es nach WATZlawick (1996, S. 53) unerheblich ist, ob die Information richtig oder falsch ist. Durch den Appell („Wozu ich dich veranlassen möchte“) möchte der Sender Einfluss auf den Empfänger nehmen, der zu einer Handlung oder zur Unterlassung einer Handlung veranlasst werden soll. Der Aspekt der Selbstoffenbarung („was ich von mir selbst kundgebe“) übermittelt Informationen über die Person des Senders, d.h. Ich-Botschaften, wobei sowohl be- wusste, also gewollte als auch die unbewusste, d.h. unfreiwillige Selbstenthüllungen eingeschlossen sind. Der Beziehungsaspekt („Was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen“) ist, im Gegensatz zum Selbstoffenbarungsaspekt, von Du- und Wir-Botschaften geprägt. Hier wird zum einen deutlich, was der Sender vom Empfänger hält, zum anderen wird die Beziehung zwischen dem Sender und dem Empfänger durch den gewählten Tonfall, die Formulierung und andere nonverbale Elemente offenkundig und erkennbar (vgl. WATZLAWICK a.a.O., S. 53; SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 28). Einen wesentlichen Punkt in der Beziehung zwischen Interaktionspartnern beschreibt WATZlawick in einem Axiom:

„Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht.“(WATZLAWICK 1996, S. 70)

Als symmetrisch wird eine Beziehung dann bezeichnet, wenn die Beziehung zwischen Interaktionspartnern auf Gleichheit beruht. Komplementäre Beziehungen zeichnen sich hingegen durch Ungleichheit der Beziehung der Interaktionspartner aus. In diesen un- gleichen Beziehungen übernimmt ein Partner die sogenannte superiore Stellung, der andere die entsprechend inferiore. Diese unterschiedlichen Positionen sind allerdings nicht als wertend zu betrachten, sondern basieren auf sich gegenseitig ergänzenden Unterschieden. Komplementäre Beziehungen sind in der Regel durch kulturelle Kon- texte bedingt (z.B. Mutter und Kind, Arzt und Patient) und werden gewöhnlich nicht durch einen Partner aufgezwungen (vgl. WATZLAWICK a.a.O., S. 69).

SCHULZ VON THUN veranschaulicht seine Ausführungen in einem Schema:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Die vier Seiten (Aspekte) einer Nachricht - ein psychologisches Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation (SCHULZ VON THUN 1996, S. 30).

Der oben beschriebene verbale Anteil der Kommunikation stellt allerdings nur einen Informationskanal menschlicher Kommunikation dar; er wird zusätzlich durch viele nonverbale Kanäle ergänzt. HEIDTMANN (1996) differenziert den nonverbalen Anteil weiter in einen vokalischen und nichtvokalischen. Nonvokale Elemente sind z.B. Mimik, Gestik, Körperhaltung, Blickverhalten und räumliches Verhalten. Als vokale Elemente lassen sich z.B. Stimmlage und Intonation sowie Prosodie beschreiben (vgl. HEIDTMANN 1996, S. 2). Nach MOTSCH (1989, S. 79) kommt gerade diesem nonverbalen Anteil der Kommunikation in Zusammenhang mit Störungen der Sprache eine besondere Bedeutung zu.

Nonverbale Kommunikationsanteile sind den Interagierenden meist nicht bewusst, ob- wohl sie im Kommunikationsgeschehen fortwährend eingesetzt werden und bedeutungsvolle Wirkung in der kommunikativen Handlung besitzen. Zudem ist für ein eindeutiges Verständnis der Kommunikationspartner untereinander die nonverbale Kommunikation unerlässlich (BERNTGES-BRECHT 1993, S. 329). Die Autorin betont allerdings, dass nonverbale Kommunikation auch bewusst eingesetzt werden kann, um Ziele zu erreichen, den Kommunikationspartner zu beeinflussen oder zu kontrollieren (ebd.).

Nonverbale Kommunikation kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: Sie kann als Unterstützung der verbalen Sprache dienen, indem sie diese begleitet, illustriert oder aber die verbale Sprache vollständig ersetzt, d.h. eigenständige Botschaften vermittelt. Sie dient dem Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, da durch sie Charaktereigenschaften sowie der soziale Status offenbar und Emotionen und Stimmungen deutlich werden können. Nonverbale Kommunikation definiert auch den Ausdruck interpersonaler Beziehungen, wie z.B. den Grad der Kommunikations- bereitschaft und gegenseitige Aufmerksamkeit sowie Status- und Dominanz- unterschiede. Sie hat u.a. eine qualifizierende Wirkung, indem sie beschreibt, wie das Gesagte gemeint ist. Des Weiteren hilft sie, den Ablauf von Kommunikationsprozessen zu regeln (vgl. SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 34).

Bezugnehmend auf die oben genannten Elemente nonverbaler Kommunikation betont

WATZLAWICK,

„daß das Material jeglicher Kommunikation keineswegs nur Worte sind, sondern auch alle paralinguistischen Phänomene [...] umfaßt - kurz, Verhalten jeder Art“ (vgl. WATZLAWICK 1996, S. 51).

Er beschreibt Verhalten als eine Eigenschaft, die kein Gegenteil hat und folgert daraus, dass man sich nicht nicht verhalten kann. Der Annahme folgend, dass Verhalten in zwischenmenschlichen Situationen Mitteilungscharakter hat, d.h. Kommunikation ist, formuliert der Autor ein metakommunikatives Axiom:

„Man kann nicht nicht kommunizieren.“(WATZLAWICK 1996, S. 53)

Die Bedeutung dieses Axioms für Menschen, die von Aphasie betroffen sind, wird weiter unten näher beleuchtet.

Hinsichtlich des oben beschriebenen Kommunikationsmodells von SCHULZ VON THUN wurde bisher nur die Seite des Senders berücksichtigt, aber im Verlauf eines Ge- sprächs ist die Rolle des Empfängers von ebenso großer Bedeutung wie die des Sen- ders. Denn die empfangene Nachricht gleicht nicht der Gesendeten. Dies ist aus zweierlei Gründen der Fall. Zum einen verbindet der Sender mit den zu einer Nachricht verschlüsselten Zeichen Bedeutungen. Diese sind rein subjektiv und abhängig von den Vorerfahrungen des Senders; sie können nicht mitgeschickt werden (vgl. Kap. 2). Der Empfänger decodiert die ankommenden Zeichen und interpretiert sie nach eigenen subjektiven Maßstäben, d.h. er versieht sie mit eigenen Bedeutungen. Außerdem hat der Empfänger nach SCHULZ VON THUN die freie Wahl, auf welche der ankommenden Botschaften er reagieren möchte. Der Verlauf der Kommunikation ist demnach also auch abhängig von der jeweiligen Reaktion des Empfängers (vgl. SCHULZ VON THUN, a.a.O., S. 44). Dies kann dann zu Störungen führen, wenn der Empfänger auf Bot- schaften reagiert, die der Sender nicht primär beabsichtigt hat (vgl. SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 46).

Die Übernahme von Verantwortung und die Einsicht des Empfängers, am Kommunika- tionsverlauf maßgeblich beteiligt zu sein, können diesen Kommunikationsprozess erheblich erleichtern. In diesem Zusammenhang betont SCHULZ VON THUN, dass das Feedback in hohem Maße dazu beitragen kann, die Kommunikation zu verbessern. Allerdings sind dafür Botschaften notwendig, die einen hohen Selbstoffenbarungsanteil haben. In diesen sog. „Ich-Botschaften“ teilt der Sender etwas über sich mit. Im Ge- gensatz hierzu stehen „Du-Botschaften“, bei denen eine Aussage über einen anderen gemacht wird. Oftmals werden hier eigene Gefühle („Ich fühle mich übergangen“) zu Beschreibungen über den anderen („Du bist rücksichtslos“). Dadurch kann sich der Andere angegriffen fühlen und wird unfähig, das Problem auf konstruktive Art und Weise zu lösen (SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 79f). Der Autor bezeichnet „Du- Botschaften“ als besonders ungünstig, da sie interpretativ sind.

Das oben vorgestellte vorläufige Kommunikationsmodell wird ergänzt, indem das Feedback mit einbezogen und zwischen gesendeter und empfangener Nachricht unterschieden wird. Wie jede Nachricht, enthält auch die Rückmeldung des Empfän- gers vier Seiten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Vervollständigtes Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation (SCHULZ VON THUN 1996, S. 81)

Die obigen Ausführungen und dieses Modell verdeutlichen die Bedeutung des Feedbacks für einen gelungenen Kommunikationsverlauf. Zusammenfassend lässt sich Kommunikation als ein komplexer Vorgang beschreiben, der neben sprachlichen Elementen durch eine Vielzahl von Eigenschaften und Bedeutungszuschreibungen durch die Interaktionspartner definiert ist.

Bei Nichtbeachtung der Kommunikationsregeln, kann es zu Störungen in kommuni- kativen Prozessen kommen. Diese Störungen sind Inhalt des folgenden Abschnittes.

4.3 Störungen der Kommunikation

Die im Kapitel 4.2 vorgestellten Abläufe von Kommunikation bezogen sich auf intakte Kommunikationsprozesse. Allerdings kann es aus verschiedenen Gründen immer wieder zu Störungen im Kommunikationsverlauf kommen. Auf mögliche Ursachen möchte ich in diesem Abschnitt eingehen.

Ein häufiger Fehler in der menschlichen Kommunikation ist nach WATZLAWICK die Reaktion des Empfängers auf eine Botschaft, die der Sender anders gemeint hat. Typischerweise handelt es sich dabei meist darum, dass bei einer Unstimmigkeit auf der Beziehungsebene die Lösung auf der Inhaltsebene gesucht wird (vgl. WATZLAWICK 1996, S. 80). Als Grund hierfür nennt SCHULZ VON THUN (1996, S. 47f) „einseitige Empfangsgewohnheiten“ einiger Empfänger, d.h. sie reagieren hauptsächlich auf einer der vier Ebenen, unabhängig von Kontext und Situation. Daraus resultieren unter- schiedliche Folgen im Kommunikationsprozess. Reagiert ein Empfänger hauptsächlich auf die Sachseite einer Information, kommt es oft zu Schwierigkeiten, wenn das eigent- liche Problem auf der Beziehungsseite zu suchen ist, d.h. die zwischenmenschliche Ebene unterliegt. Wer hingegen die Beziehungsseite zur Hauptseite macht, bezieht auch beziehungsneutrale Nachrichten wertend auf sich oder gewichtet manche Bot- schaften über. Ein solcher Empfänger fühlt sich dann leicht angegriffen und beleidigt. Für den Empfänger „seelisch gesünder“ beschreibt SCHULZ VON THUN die Gewichtung auf das Selbstoffenbarungsohr (SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 54). Der Empfänger wer- tet die Nachricht hier unter dem Aspekt, was der Empfänger über den Sender erfährt. Dem Sender können so seine Gefühle zugestanden werden, auf den Sender kann ein- gegangen werden, ohne dass sich der Empfänger selber angegriffen fühlt (SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 55). In diesem Fall schafft der Empfänger Raum für den anderen, je- doch vernachlässigt er dabei seine eigenen Bedürfnisse.

Eine weitere Gefahr für gestörte Kommunikationsprozesse bietet die Tatsache der subjektiven Bedeutungszuschreibungen von Äußerungen. Denn obwohl die Interaktionspartner sich über den Code der Verschlüsselung, d.h. die Zeichen einig sein können, sind die Bedeutungen, die mit den verschlüsselten Zeichen verknüpft sind, subjektiv und abhängig von den Erfahrungen der jeweiligen Interaktionspartner. Stimmen die zugeschriebenen Bedeutungen von Sender und Empfänger nicht überein, d.h. misst der Empfänger den Zeichen eine andere Bedeutung bei als vom Sender beabsichtigt, kann es zu Unstimmigkeiten im Kommunikationsverlauf kommen. Ein Grund für divergierende Bedeutungszuschreibungen können z.B. unterschiedliche Sprachmilieus sein. Betroffen sind in diesem Fall v.a. die Sach- und die Beziehungs- ebene, da insbesondere das Bild, das die Interaktionspartner voneinander haben, einen Schlüssel für die Interpretation von Nachrichten liefert (vgl. SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 63).

Eine weitere Störungsquelle ergibt sich aus der Tatsache, dass auf zwei Ebenen gleichzeitig kommuniziert wird, auf der verbalen und der nonverbalen. Wie oben bereits beschrieben, können sich sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation ergänzen und stützen und so den Kommunikationsverlauf erleichtern. In diesem Fall werden sie als kongruent bezeichnet (vgl. SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 35). Widersprechen sich die beiden Signale hingegen, spricht der Autor von Inkongruenz. Da der Empfänger zwei unterschiedliche Signale erhält, muss er sich entscheiden, auf welches von beiden er reagiert. Die für den Empfänger beste Reaktion wäre, dem Sender seine In- kongruenz und die damit verbundene Verwirrung deutlich zu machen (vgl. SCHULZ VON THUN a.a.O., S. 41).

Auch aus der Tatsache, dass einer der Interaktionspartner nicht kommunizieren will, können sich Störungen im Ablauf von Kommunikatikon ergeben. An dieser Stelle sei noch einmal auf das erste Axiom von WATZLAWICK hingewiesen in dem er betont, dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren. Er weist allerdings an gleicher Stelle darauf hin, dass dem Menschen nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten bleibt, auf eine Nachricht zu reagieren. Diese Möglichkeiten sind nach WATZLAWICK Abweisung (an einem Gespräch nicht interessiert sein), Annahme (nachgeben, obwohl man nicht interessiert ist), Entwertung (eigene oder fremde Aussagen werden absichtlich oder unabsichtlich einer klaren Bedeutung beraubt) oder die Vortäuschung der Unfähigkeit zur Kommunikation, so dass ein Gespräch unmöglich gemacht wird. WATZLAWICK hebt hervor, dass das Resultat solcher Kommunikations- oder Nicht-Kommunikations- versuche aufgrund der Unmöglichkeit nicht nicht zu kommunizieren eine gestörte Kommunikation ist (vgl. WATZLAWICK a.a.O., S. 74f).

Die obigen Ausführungen zu gestörter Kommunikation bezogen sich ausschließlich auf Störungen, die unabhängig von Störungen der Sprache auftreten können. Wenn aller- dings, wie bei der Aphasie, zusätzlich das Sprachvermögen eines der Interaktions- partner eingeschränkt ist, können dadurch weitere Störungen im Kommunikations- prozess entstehen; einerseits durch das veränderte Sprachvermögen des Betroffenen, andererseits durch unangemessenes Handeln des nicht-betroffenen Interaktions- partners. Diese Störungen werden im folgenden Abschnitt thematisiert.

4.4 Kommunikation mit Menschen, die von Aphasie betroffen sind

MOTSCH betont, dass gestörte Sprache gestörte Kommunikation zur Folge hat (MOTSCH 1989, S. 80). Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:

„Herr K. steht vor einem Kiosk. Die Verkäuferin fragt: ‚Was darf es sein?‘. Herr K. setzt mehrmals zum Sprechen an. Dann winkt er verärgert und resigniert ab und geht fort.“ (MOTSCH 1989, S 73) Hier wird deutlich, dass dem von Aphasie betroffenen Menschen die gestörte oder fehlende Sprache unmöglich macht, mit der Verkäuferin in eine ungestörte, normal ablaufende Kommunikationssituation zu treten und sein Ziel zu erreichen.

Was aus diesem Beispiel nicht hervorgeht ist die Tatsache, dass trotz eingeschränkter Sprachproduktion und -verstehen das Hintergrundwissen über das Funktionieren von Kommunikation noch vorhanden ist (vgl. LUTZ a.a.O., S. 166). So ist das Wissen über sprach- und kommunikationstheoretische Grundlagen, wie Turn-Taking, Grammatik, Semantik, Phonologie, Pragmatik usw. bei Menschen mit Aphasie zwar vorhanden, jedoch wird der Zugriff auf dieses in der Kindheit erworbene Wissen erschwert oder verhindert. Grundsätzlich ist ein Mensch mit Aphasie jedoch in der Lage, verbal und/ oder nonverbal zu kommunizieren (vgl. MOTSCH a.a.O., S. 74).

Ein zentrales Element bildet in diesem Zusammenhang der Begriff der kommunikativen Kompetenz. Um kommunikativ erfolgreich zu sein, reicht die Beherrschung linguistischer Regeln nicht aus. Zusätzlich ist der Kontext, in dem Sprache gebraucht wird, von Bedeutung. MOTSCH definiert kommunikative Kompetenz als Fähigkeit des Menschen, „verbale und nonverbale Mitteilungen kontextangemessen zu verstehen und zu produzieren.“ (MOTSCH 1989, S. 75)

In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Sprachfähigkeit, die ein von Aphasie betroffener Mensch zeigt, nicht zwingend auch ein Indikator für dessen Kommunikationsfähigkeit ist. Es ist, im Gegenteil, ein an den Defiziten des Betroffenen orientierter Faktor (vgl. Kap. 3). So ist der Herr aus obigem Beispiel in der Situation einer Sprachtherapie durchaus in der Lage, sich verbal zu äußern, was ihm außerhalb jedoch nicht gelingt (vgl. MOTSCH a.a.O., S. 73). Der Autor hebt hervor, dass die Verbesserung der Sprachfähigkeit erst im Zusammenhang mit der Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten bedeutsam wird (ebd.).

Zur Verbesserung dieser kommunikativen Fähigkeiten kann der Einsatz nonverbaler Elemente beitragen. BERNTGES-BRECHT (1993) und HERRMANN (1991) heben den Aspekt der nonverbalen Kommunikation insbesondere im Umgang mit Menschen mit schweren Aphasien als sprachkompensatorische Kommunikationsform hervor (vgl. HERRMANN a.a.O., S. 350). An gleicher Stelle verweisen die Autoren allerdings darauf, dass von Aphasie betroffenen Menschen auch bei nicht-sprachlichen Funktionen Ein- schränkungen unterliegen, so dass die nonverbalen Elemente ebenfalls nur einge- schränkt nutzbar sind. HERRMANN betont jedoch, die nonverbalen Fähigkeiten der Be- troffenen trotz eventueller Einschränkungen zu nutzen, um die kommunikativen Fähig- keiten zu verbessern (HERRMANN a.a.O., S. 363).

In diesem Zusammenhang bemerkt KOTTEN, dass nonverbalen Kommunikations- elementen für Betroffene und deren Gesprächspartner im Vergleich zur Kommunikation zwischen Sprachgesunden häufig andere Funktionen innewohnen. KOTTEN nennt unterschiedliche Funktionen, die nonverbale Kommunikationselemente für Betroffene haben können, abhängig vom Schweregrad der Aphasie.

I Total ersetzend: Nonverbale Elemente sind alleinige Kommunikationsmittel, die verbale Kommunikation wird komplett ersetzt.

II Ein Stück ersetzend: Die sprachliche Handlung wird durch nonverbale Ele- mente ergänzt und komplettiert.

III Aufbauend: Nonverbale Kommunikation dient als Hilfestellung für die Umset- zung einer primär intendierten Sprachhandlung.

IV Stützend: Nonverbale Elemente können die sprachliche Handlung sowohl in- formativ als auch emotional unterstützen.

V Konventionell stützend: Verbale Sprache überwiegt den nonverbalen Ele- menten gegenüber, die intendierte Information wird durch die verbale Sprache übermittelt, die nonverbalen Anteile dienen lediglich der Verdeutlichung der sprachlichen Handlung.

VI Begleitend: Nonverbale Elemente stehen mit dem Sprachgeschehenen in keinem reflektiven Zusammenhang; die nonverbale Kommunikation allein ergibt keine sinnvoll interpretierbar Aussage.

VII Nullstufe: Für Außenstehende ist allein durch nonverbale Elemente kein Zusammenhang des Kommunikationsgeschehens zu erkennen. (KOTTEN 1976, nach HERRMANN 1991, S. 369)

Zu beachten ist bei dem Einsatz nonverbaler Kommunikationsmittel, dass Betroffene häufig ein verändertes nonverbales Kommunikationsverhalten, z.B. eine übertriebene oder reduzierte Mimik und Gestik oder eine verkrampfte Köperhaltung zeigen, was auf die hirnorganische Schädigung zurückzuführen ist (vgl. MOTSCH a.a.O., S. 81; HERRMANN a.a.O., S. 350).

Durch Einschränkungen verbaler sowie nonverbaler Ausdrucksmöglichkeiten sind die betroffenen Menschen oft nicht in der Lage, die Funktionen menschlicher Kommunikation (vgl. Kap 4.1) uneingeschränkt zu nutzen. Allerdings ist an dieser Stelle zu betonen, dass nicht nur Betroffene das Kommunikationsgeschehen beeinflussen. Analog zum Sender-Empfänger-Modell von SCHULZ VON THUN (vgl. Kap. 4.2) tragen auch hier beide Kommunikationspartner zum Kommunikationsverlauf bei, so dass auch der Nicht-Betroffene mitverantwortlich für den Erfolg gelungener Kommunikation ist (vgl. MOTSCH a.a.O., S. 82).

In diesem Zusammenhang möchte ich näher auf die Bedeutung der Selbstoffenbarungs- und Beziehungsebene in der Kommunikation mit von Aphasie betroffenen Menschen eingehen.

In Kommunikationssituationen zwischen Betroffenen und Sprachgesunden ist zunächst scheinbar primär die Inhaltsebene betroffen, da sich der Betroffene nicht oder nur schwer mitteilen und den Interaktionspartner nicht oder nur mühsam verstehen kann, d.h. der Austausch von Sachverhalten ist erschwert. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass dieser Aspekt neben der tatsächlichen Sprachstörung weitere Gründe zur Ursache haben kann. So weist MELLIES (1989, S. 72) darauf hin, dass das aktuelle Sprachverhalten neben der primären Schädigung außerdem beeinflusst wird durch emotionale Einschätzungen der eigenen sprachlichen Fähigkeiten seitens des Betroffenen, die sich im Laufe der Kommunikationsgeschichte als „Aphasiker“ heraus- gebildet haben, sowie der Perspektive des Betroffenen, ob und wie er sich als Persön- lichkeit noch, wieder oder nicht mehr realisieren kann (vgl. Kap. 5.2).

LUTZ betont, dass die mit der Nachricht verbundene Selbstoffenbarung für viele Be- troffene ein Problem darstellt. Denn obwohl sie eine Sachinformation übermitteln wol- len, gerät in der Kommunikationssituation häufig die Aphasie in den Vordergrund und der Kommunikationspartner erfährt zunächst etwas über den Betroffenen anstatt über den Inhalt. Inwiefern das eintritt, ist zum einen abhängig von der Persönlichkeit des Betroffenen, andererseits spielt die Umgebung in diesem Kontext eine wichtige Rolle (vgl. LUTZ a.a.O., S. 169). MOTSCH betont, dass hier insbesondere die Beziehung des Betroffenen zum Interaktionspartner von großer Bedeutung ist (MOTSCH a.a.O., S. 82), denn die jeweiligen Kommunikationspartner können in unterschiedlichem Maße dazu beitragen, die Symptome der Aphasie und die Motivation zur Kommunikation des Be- troffenen im Kommunikationsverlauf zu verstärken bzw. aufrecht zu erhalten. Als verursachende Verhaltensweisen nennt MOTSCH falsche Einschätzungen des Betrof- fenen („er ist dumm oder faul“), falsche Gefühle dem Betroffenen gegenüber (z.B. Mit- leid oder Abscheu) oder falsche Reaktionen im Kommunikationsprozess (z.B. Ermahnung, Verbesserung, Überforderung, Überbehütung, Entmündigung) (vgl. MOTSCH a.a.O., S. 83).

Auch LUTZ sieht den Grund für erfolglose Kommunikation häufig im Kommunikations- partner,

„...denn statt auf die Botschaft zu reagieren, beachtet der Gesprächspartner häufig nur die (falsche) Form.“ (LUTZ 1992, S. 170).

[...]


1 Automatismen werden beschrieben als aneinandergereihte Einzelsilben, feste Silbenfolgen oder beliebige Wörter oder Phrasen, wie z.B. jeden Tag guten Tag (vgl. PITA 1994, S. 31).

2 Hierbei handelt es sich um stereotyp wiederkehrende Floskeln, die weder lexikalisch noch syntaktisch in den sprachlichen Kontext passen (vgl. HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 106).

3 ANDRESEN bezeichnet Stereotypien als spezifischen Rest normaler Sprachfähigkeit und nicht als durch die Krankheit hervorgerufenes und diese ausdrückendes Phänomen (vgl. ANDRESEN 1989, S. 61).

4 Die so produzierte Lautkette ist kein Wort der Zielsprache (vgl. HUBER, POECK, WENIGER 1989,

S. 105).

5 Hierbei handelt es sich um unbeabsichtigte und zwanghafte Wiederholungen zuvor gemachter Äußerungen (vgl. HUBER, POECK, WENIGER 1989, S. 104).

6 Hiermit ist die ungewollte Wiederholung vorangegangener Laute, Silben, Wörter oder Sätze (oder Fragmenten dieser) gemeint. Diese können bewusst oder unbewusst, unmittelbar oder verzögert auftreten (vgl. TESAK, a.a.O., S. 24)

7 Sprachanstrengung wird beschrieben als Schwierigkeit, Gedanken aufgrund von Wortfindungsstörungen, sowie Störungen von Wort- und Satzbildungen sprachlich auszudrücken (vgl. HARTMANN a.a.O., S. 161).

8 Bei den Sprechanstrengung handelt es sich um Schwierigkeiten in der Sprechmotorik; davon betroffen sind die Artikulation, die Phonation und der Sprechrhythmus (ebd.).

9 Bei phonematischen Paraphrasien werden einzelne Laute durch andere ersetzt, ausgelassen, umgestellt oder hinzugefügt; verwechselt wird hierbei entweder die Artikulationsart oder der Artikulationsort; bei den semantischen Paraphrasien handelt es sich um die falsche Wortwahl oder Wortkombination (ebd.).

10 Zu beobachten sind hier v.a. Paralexien (vgl. PITA 1994, S. 28).

11 Hierbei handelt es sich um einen Redeschwall, eine ungehemmte sprachliche Überproduktion (vgl. HARTMANN a.a.O., S. 162).

12 Mögliche Reaktionen sind z.B. Nullreaktionen, phonematische Paraphrasien, Neologismen, verbale Paraphrasien, d.h. ein anderes, nicht intendiertes Wort wird geäußert, semantische Paraphrasien, d.h. die semantische Nähe zum Zielwort ist vorhanden, formale Paraphrasien, d.h. der semantische Bezug zum Zielwort fehlt, aber der formale ist vorhanden; auffallend ist, dass konkrete Wörter eher verfügbar sind als abstrakte (vgl. HARTMANN, a.a.O., S. 164).

13 Nicht zuordnen zu den klassischen Syndromen lassen sich z.B. traumatische oder subkortikale Aphasien oder Aphasien bei Kindern und Jugendlichen (vgl. TESAK 1997, S.3).

Ende der Leseprobe aus 232 Seiten

Details

Titel
Diagnose Aphasie. Welche Rolle spielen Selbsthilfegruppen bei Sprachverlust?
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Erziehungswissenschaftliche Fakultät)
Note
2
Autor
Jahr
2002
Seiten
232
Katalognummer
V20753
ISBN (eBook)
9783638245500
ISBN (Buch)
9783656753933
Dateigröße
1610 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Aphasie, medizinische Grundlagen, Leben mit Aphasie: Belastungs- und Bewältigungsprozesse bei Aphasie, Selbsthilfegruppen
Schlagworte
Bedeutung, Aphasiker-Selbsthilfegruppen, Möglichkeiten, Unterstützung, Berücksichtigung, Belastungs-, Bewältigungsprozessen, Menschen, Aphasie
Arbeit zitieren
Kristina Laudan (Autor:in), 2002, Diagnose Aphasie. Welche Rolle spielen Selbsthilfegruppen bei Sprachverlust?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20753

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