Das Standardparadigma von Demenz


Trabajo Escrito, 2009

61 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Etikettierungs-Ansatz
1.2 Das Problem des Relativismus
1.3 Zuschreibungsaspekt
1.4 Versuch einer Definition von Abweichung
1.5 Etikettierung und ihre Auswirkungen in interpersonalen Beziehungen
1.5.1 Stereotypenbildung
1.5.2 Retrospektive Interpretation
1.5.3 Verhandeln
1.5.4 Relative Machtposition
1.5.5 Rollendruck
1.6 Etikettierung und Organisation

2. Der Begriff des Personseins
2.1 Die Einzigartigkeit von Personen
2.2 Personsein und Verkörperung

3. Die Definition von Demenz
3.1 Die Dialektik von Demenz
3.2 Persönlichkeitsveränderungen bei Demenz
3.3 Körperliche Zustände, die eine Demenz verstärken

4. Das Standardparadigma der Demenz
4.1 Abwehrmechanismen in der Demenzpflege
4.2 Maligne, bösartige Sozialpsychologie

5. Die positive Arbeit an der Person

6. Die für- und versorgende Organisation

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der Begriff „Standardparadigma“ wurzelt in der gängigen Hypothese der Demenz, dass ein Faktor oder Faktoren X zu neuropathischen Veränderungen und diese zu Demenz führen. Alle geistigen und emotionalen Symptome wären demnach ausschließlich das direkte Ergebnis einer Reihe katastrophaler Veränderungen im Gehirn, die zum Absterben von Hirnzellen führen und somit zu Demenz. Diese Degeneration wäre irreversibel, und führt ausschließlich zu einer Verschlechterung des gesamten Zustandes einer Person. Bei dieser weit verbreiteten Auffassung handelt es sich jedoch nur um eine vereinfachte, lineare Vorstellung von Demenz. Es untergräbt den Fakt, dass beträchtliche neuropathologische Zustände auch ohne Demenz vorhanden sein können, und das eine Demenz auch ohne signifikante Neuropathologie bestehen kann. Das Standardparadigma von Demenz ignoriert zudem eine Vielzahl von Aspekten der Nervenarchitektur, die entwicklungsbedingt sind und somit nicht statisch einer Verschlechterung unterworfen sein können. Es ignoriert weiterhin eine Reihe von psycho-sozialen Umständen die eine Demenz oder einen Demenz ähnlichen Zustand verursachen oder verstärken können. Der Begriff „Standardparadigma“ steht beispielhaft für eine extrem negative und deterministische Sichtweise, die sich in dem gängigen Image über Demenz als eines „Todes, der den Körper zurücklässt“ oder in der Überschrift eines Artikels „Alzheimer- keine Heilung, keine Hilfe, keine Hoffnung“ zum Ausdruck bringt.

Der zweite Aspekt, auf den der Titel „Das Standardparadigma von Demenz“ verweisen soll ist, dass infolge der Etikettierung von Demenz als neuropathologische Krankheit, eine Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein Mensch mit Demenz ausschließlich als „Kranker“ etikettiert wird und so unter Umständen nicht länger als vollwertige, individuelle Person gilt. Diese Sichtweisen, Vorstellungen und Bilder in unseren Köpfen über Demenz, tragen viel dazu bei, wie wir einem Menschen mit Demenz begegnen, ihn behandeln und ihn bewerten und so wiederum dazu, wie sich solch ein Mensch selber bewertet. Aus diesem Grund werden in dieser Arbeit die Themen Etikettierung und Demenz zusammengeführt, um zu untersuchen, wie groß der Einfluss dieser Vorstellungen in unseren Köpfen auf einen Menschen mit Demenz sein kann. Zudem wird die Ursache, dieser negativen, vereinfachten Sichtweise von Demenz, vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Normen und Werte hinterfragt. Denn alles Verhalten bezieht seine Bedeutung aus denjenigen Definitionsprozessen, in die es verstrickt ist.

Weiterhin soll untersucht werden, dass aufgrund der Legitimation einer ausschließlich organischen Grundlage von Demenz, der effizienten Pflege einer Person mit Demenz kein Platz eingeräumt wird. Das Standardparadigma stellt den Pflegeprozess mitunter sogar als vage, undurchsichtig und ohne theoretischen Hintergrund dar. Tom Kitwood geht hingegen davon aus, dass am Grad der Ausprägung einer Demenz auch unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Faktoren beteiligt sein können. Somit könnte in einem optimalen Kontext von Pflege und Fürsorge, jedes Fortschreiten der neurologischen Beeinträchtigung, durch positive Arbeit an der Person kompensiert werden. Diese positive Arbeit besteht aus bestimmten Interaktionen die verschiede psychische Bedürfnisse einer Person befriedigen. Tom Kitwoods Ansatz widerspricht dem Bild einer Tragödie und der hoffnungslosen Unterwerfung unter das Schicksal der Demenz und erhebt die Hoffnung, hohe Grade eines relativen Wohlbefindens über den gesamten Verlauf einer Demenz hinweg erhalten zu können.

Folglich soll in dieser Arbeit Demenz ent-pathologisiert werden. Sie soll untersuchen, warum Demenz nicht als Teil unseres menschlichen Daseins akzeptiert wird, sondern sich eine Dynamik dahingehend zeigt, Menschen mit schwerer körperlicher oder seelischer Behinderung (Abweichung) zu depersonalisieren und aus der Welt der Personen auszugrenzen. Es geht darum ein weites Verständnis von Etikettierungsprozessen und Demenz zu erhalten.

In dieser Arbeit wird daher nicht die Pathologie der Demenz genauer untersucht, sondern die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Krankheit und auf Erscheinungen von Abweichung im Allgemeinen. Auch wird die Methode Kitwoods zur Bestimmung des Wohlbefindens informativ angeführt und nicht methodisch angewandt. Sie bietet jedoch eine gute Grundlage für weiterführende Studien im Bereich der Demenzforschung.

1. Etikettierungs-Ansatz

Bei dem Etikettierungsansatz handelt es sich um eine theoretische Richtung, die noch relativ jung ist, man kann ihren Anfang etwa mit dem Erscheinen von E.M. Lemerts Arbeit „Social Pathology“ im Jahre 1951 gleichsetzen. Dieser ersten umfangreichen Arbeit folgte eine Zeit, in der verschiedene Gedankenelemente in vielfältiger Weise aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.[1]

Klaus Dörner beschreibt Etikettierung wie folgt:

„Seit Leute wie E.M. Lemert und Th. Scheff diese Sichtweise entwickelt haben, haben wir gelernt, uns die im Grunde uralte Frage präziser zu stellen: Warum ist ein Mensch eigentlich so, wie er ist? Ist es eine Krankheit, seine Natur, sein Schicksal? Oder ist er nur deshalb so geworden, weil wir ihn so gesehen haben, so mit ihm umgegangen sind, ihn erst zu dem gemacht haben, was er nun ist? (…) Hat jemand seine Störung aus sich selbst heraus bekommen? Oder hat er zunächst nur uns, seine Bezugsgruppe, die Gesellschaft gestört und zwar derart, dass wir ihn solange etikettiert, abgestempelt haben, bis er die Störung die wir ihm zugeschrieben hatten, auch wirklich hatte? Solche Fragen sind wichtig, weil ihre jeweilige Beantwortung weit reichende Konsequenzen für mein praktisches Handeln und mein theoretisches Denken hat.“[2]

Mit den bisherigen Mitteln sei es, Dörner zufolge, schwer diese Fragen konkret und angemessen zu beantworten. Denn selbst wenn man darin übereinstimmt, dass für die Entwicklung eines Menschen zunächst die zwischenmenschlichen wechselseitigen, alltäglichen Bewertungen und anschließend im professionellen Bereich unsere diagnostische Wahrnehmung und dann unser therapeutischer Umgangsstil eine etikettierende Rolle spielen, dann wüsste man noch immer nicht, in welchem Ausmaß und mit welchen Auswirkungen dies der Fall ist.[3]

Für sich genommen sollte der Etikettierungs-Ansatz (dem eine eindeutige Definition fehlt und dem es bis jetzt nicht gelang, einen zusammenhängenden Bestand an aufeinander bezogenen Sätzen, testfähigen Hypothesen usw. zu gewinnen) bislang nicht, als eine Theorie im formalen Sinn angesehen werden, man spricht deshalb oft von einem Theorieansatz oder einer Theoriekonzeption. Der Etikettierungs-Ansatz gibt dennoch mehr als andere Theoriemodelle einen Anstoß zur Reflexion des eigenen beruflichen Handelns.[4]

Die Aspekte des Etikettierungs-Ansatzes sind sehr vielfältig und wurden von verschiedenen Autoren unterschiedlich wahrgenommen, so dass inzwischen mehrere Bezeichnungen des Konzepts entstanden sind und noch heute verwendet werden. Diese unterschiedlichen Bezeichnungen geben die ersten Hinweise darauf, welche Problembereiche im Etikettierungs-Ansatz thematisiert werden. Im Folgenden werden die geläufigsten Begriffe des Etikettierungs-Ansatzes vorgestellt, um einen ersten theoretischen Überblick zu erhalten.

Der Begriff „Etikettierung“ (englisch: „labeling“) ist in der Psychiatrie, Kriminologie, Soziologie und in anderen Bereichen, die es mit Handlungsweisen von Menschen zu tun haben, zu einem Schlagwort geworden.[5] Der in dieser Arbeit benutzte theoretische Rahmen ist vor allen unter der Bezeichnung „Labeling-Approach“, zu Deutsch Etikettierungsansatz, bekannt geworden, wird aber vielfach als „Reaktionsansatz“ bezeichnet. Mit dem Begriff „Reaktionsansatz“ wird ergänzend angesprochen, dass Etikettierung eine der wichtigsten Reaktionen auf „Abweichung[6] darstellt und den Aspekt sozialer Kontrollreaktionen besonders hervorhebt.[7]

Der Begriff „Labeling-Approach“ im weitesten Sinne konzentriert seine Aufmerksamkeit vor allem auf wichtige Definitionsprozesse auf organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene (in Verbindung mit dem „Vorgehen“ gegen Abweichende auf der einen Seite und mit der Aufstellung formaler Regeln, einschließlich Gesetzten, auf der anderen Seite).[8]

Der Begriff „Social-Reaction-Approach“ weist darauf hin, dass, wenn Abweichung als solche identifiziert wird, in irgendeiner Form immer eine Reaktion darauf erfolgt. Das Attribut „social“ hebt den formellen, institutionalisierenden Bereich gesellschaftlicher Sanktionen hervor (z.B. Gesetzgebung).[9]

Der Begriff „Interactionist Orientation“ betont, dass sich Abweichung und Kontrollreaktionen formell und informell stets in Form wechselseitiger Interaktionen einzelner Individuen abspielen und dadurch einen interaktiven Prozess darstellen. Damit einhergehend deutet der Begriff Prozessualer Ansatz“ auf eine dynamische Entwicklung einer abweichenden Persönlichkeit, auf eine „Patientenkarriere“ (ein Prozess), an dessen Ende die Bezeichnung des „Abweichers“ steht.[10]

Neben diesen hauptsächlichen Bezeichnungen finden sich in der Literatur noch einige andere, wie z.B. „Conception of social control“, „process of social typing“ oder „social-system-concept“. Im Grunde deuten all diese Begriffe darauf hin, dass Abweichung und soziale Kontrolle immer Prozesse sozialer Definition einschließen.

Der Etikettierungs-Ansatz betrachtet somit die Probleme abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Reaktion auf die Abweichung. Der Ansatz verfügt dabei über den Grundsatz, dass die Art und Weise wie sich ein Mensch verhält und sich selbst und sein Verhalten einschätzt, deutlich davon abhängt, wie andere sich ihm gegenüber verhalten und ihn einschätzen. Im Mittelpunkt des Ansatzes steht demnach die Betonung des Prozesscharakters. Abweichung wird dementsprechend nicht als eine statische Größe angesehen, sondern als ein sich fortlaufend bildendes Ergebnis dynamischer Interaktion. Es handelt sich also um eine dynamische Theorie.[11]

Im Folgenden beschreibt Schur eine Diskussion von George H. Meads Theorie des Sozialen Selbst und stellte dabei fest, dass Mead das Selbst als Prozess sah und nicht als Struktur:

„Theorien, die das Selbst durch Struktur allein zu erklären versuchen, vernachlässigen den reflexiven Prozess, den Mead als zentral für die soziale Interaktion ansah. Für Mead konnte das menschliche Handeln nicht einfach als ein Produkt determinierender Faktoren gesehen werden, die auf das Individuum einwirken. Stattdessen wird (…) „das menschliche Wesen als aktiver Organismus mit eigenen Rechten gesehen, der den Objekten, die er bezeichnet, gegenübersteht, sie behandelt und sich ihnen gegenüber verhält. Soziale Muster sollen einen fortlaufenden Prozess ‚des Zusammenfügens sich entwickelnder Verhaltensstränge widerspiegeln.“[12]

Demnach findet ein Wandel in den Betrachtungsschwerpunkten statt, hin zur entscheidenden Rolle der sozialen Reaktion.[13] Der Labeling-Ansatz betrachtet weniger den individuellen Abweichenden (seine personalen und sozialen Merkmale), als frühere Ansätze. Gleichzeitig befasst er sich dabei auch intensiver mit ihm, indem er nach der Bedeutung seines Handelns und der Art seines Selbstverständnisses sucht, die durch gesellschaftliche Reaktionen geformt werden. Dabei werden auch diejenigen in den Blickpunkt gerückt, die auf Abweichung (z.B. Krankheit) reagieren, indem sie etikettieren (z.B. diagnostizieren) und Maßnahmen ergreifen (z.B. therapieren). Die auf diese Art herausgehobene zusätzliche Dimension der Analyse, das heißt die Reaktion auf Abweichung, dient als wichtige Ergänzung bei dem Versuch, möglichst viele Phänomene ins Blickfeld zu bekommen, die für Krankheit und Krankheitsbewältigung wesentlich sind.[14]

1.2 Das Problem des Relativismus

In der Soziologie wurde erkannt, dass die Normen und Sichtweisen einer Gesellschaft abhängig von spezifischen Zeiträumen, Kulturen und Subkulturen sind. Ebenso ist, wie schon erwähnt, die Art und Weise wie sich ein Mensch verhält und sich selbst und sein Verhalten einschätzt deutlich abhängig davon, wie sich andere sich ihm gegenüber verhalten und ihn einschätzen.

Labeling-Theoretiker sind der Auffassung, dass das im Gegensatz zu einer Norm stehende Verhalten nicht abweichend ist, bevor es entdeckt wird und man darauf reagiert. Wenn beispielsweise Personen Ehebruch begehen, ihre Handlung aber nicht entdeckt und darauf nicht in einer bestimmten Art (von Seiten der sozialen Umgebung) reagiert wird, dann ist sie nicht abweichend.[15]

Schur betont, dass somit keine eindeutige Grundlage zur Beurteilung der Kategorien „abweichend“ und „nicht-abweichend“ geschaffen wurde.[16]

Der Labeling-Ansatz will solch klare Unterscheidungen auch nicht treffen. Dadurch gelten weder Handlungen noch Individuen als „abweichend“, im Sinne einer unveränderlichen „objektiven“ Realität. Schur sieht in diesem Relativismus daher eine Stärke des Ansatzes. Denn bestimmte als abweichend aufgefasste Handlungen, entsprechend bestimmten Normen einer Gesellschaft, stellen nur einzelne Ausschnitte des Verhaltens eines Menschen dar. Zudem unterscheiden sich abweichende Rollen selbst bei den Menschen stark, die gleichartiges abweichendes Verhalten zeigen und weist zudem im Zeitablauf einen beträchtlichen Wandel auf. Es ist deshalb offensichtlich, dass eine Charakterisierung abweichender Individuen auf einen Bestand von Normen verweisen muss, von denen sie angeblich abweichen.[17]

Schur betrachtet vermehrt diesen „totalen sozialen Zusammenhang des Verhaltens und seiner subjektiven Bedeutung für den Handelnden (der nichts dafür kann, dass er in die direkten oder indirekten, gegenwärtigen oder erwarteten Reaktionen der anderen verstrickt ist)“, als die Ursprünge der eigentlichen Handlung selbst.[18]

Sein Hauptinteresse besteht demnach darin, zu sehen, was gesellschaftlich aus einer Handlung gemacht wird.

1.3 Zuschreibungsaspekt

Der Etikettierungs-Ansatz betont, dass das Phänomen „Abweichung“ nicht nur aus einzelnen verbrecherischen Handlungen oder aus dem Abweichen von Normen resultiert, sondern hauptsächlich aus den Prozessen sozialer Definition. Noch wichtiger ist, dass ein Verhalten ohne das Etikett „abweichend“ (in Form einer sozialen Definition) nicht einmal als Abweichung wahrgenommen werden würde. Mit anderen Worten ist die Etikettierung eines Verhaltens durch andere als „abweichend“ eine notwendige Vorraussetzung dafür, dass Abweichung überhaupt in unserer Gesellschaft auftreten kann.[19]

Im Allgemeinen erklärt der Etkettierungs-Ansatz, dass die Erscheinungsform der Abweichung komplexe Prozesse von Aktion und Reaktion, Antwort und Gegenantwort widerspiegeln.[20]

Genauer betrachtet geht der Ansatz davon aus, dass Abweichung kein einem bestimmten Verhalten innewohnendes Merkmal ist, sondern ein Merkmal, das diesem Verhalten erst durch die Interaktionspartner zugeschrieben wird. Die Interaktionspartner und nicht der abweichend Handelnde selbst gelten demnach als die entscheidende Variable für ein weites Verständnis von abweichendem Verhalten. Denn schließlich entscheiden die Interaktionspartner, ob eine gegebene Handlung als Abweichung etikettiert wird oder nicht. Es handelt sich also „um ein zugewiesenes Merkmal einer Person“.[21]

Howard Becker unterstreicht diesen Aspekt wie folgt:

„Ich meine…, dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem `Missetäter`. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.“[22]

Beckers Gedanken folgend, ermöglicht im Grunde erst die Existenz einer Norm, wie z.B. „Man soll nicht stehlen“, die Zuschreibung des abweichenden Merkmals „Diebstahl“.[23]

Kai T. Erikson erwähnt in diesem Zusammenhang drei Ebenen der Analyse auf denen Zuschreibungsprozesse stattfinden können. Die erste Ebene betrachtet die Gesellschaft als ganze, als einen Komplex von verwobenen Gruppen und Interessen, in dem allgemeine Reaktionen (Etikettierungen) auf verschiedene Formen des Verhaltens erfolgen. Eine zweite Ebene umfasst jene Personen, einschließlich der unmittelbaren Bezugsperson, mit denen ein Mensch in täglicher Interaktion steht und durch welche er ständig auf vielfältige Weisen etikettiert wird. Eine dritte Ebene umfasst offizielle und organisierte Agenten sozialer Kontrolle, beispielsweise die Mitarbeiter eines Pflegeheims. Diese gehören zu denjenigen, deren Reaktionen oder Etikettierungsversuche besonders wichtig sind, denn sie konkretisieren und prägen, vermittels organisatorischer Strukturen und institutioneller Prozeduren, die allgemeinen gesellschaftlichen Definitionen. Beispielsweise durch die stattfindende Öffentlichkeitsarbeit einer Institution in Form von literarischen Veröffentlichungen.[24]

Dementsprechend können sich Reaktionen auf die Verletzung von Normen oder Regeln, sowohl im formellen als auch im informellen Bereich abspielen. Informelle Zuschreibungen wären durch Nachbarn oder Verwandte geäußerte Bemerkungen. Ein Gerichtsurteil oder eine psychiatrische Diagnose sind Beispiele der formellen Zuschreibung (Etikettierung).[25]

Folglich bezieht alles Verhalten, sei es den Normen entsprechend oder abweichend, seine Bedeutung aus denjenigen Definitionsprozessen, in die es verstrickt ist. Die Bezeichnung eines Verhaltens als abweichend ist somit keine wertneutrale Klassifikation, sondern die Zuschreibung einer negativ bewerteten Eigenschaft.[26]

Es können jedoch auch positive Zuschreibungen (Etikettierungen) stattfinden, beispielsweise durch positive Motivationen, welche ein positives Selbstverständnis einer Person und somit ein positives Selbstbild fördern können.

1.4 Versuch einer Definition von Abweichung

Ausgehend von dem oben erwähnten Argument, dass „Abweichung“ überwiegend ein zugeschriebener Status ist, der nicht nur die abweichenden individuellen Handlungen widerspiegelt, sondern auch die darauf folgenden Reaktionen, stellt Schur eine Definition von Abweichung vor:

„Menschliches Verhalten ist in dem Maß abweichend, in dem es als eine persönlich anzulastende Abweichung von den normativen Erwartungen einer Gruppe gesehen wird und indem es interpersonelle oder kollektive Reaktionen hervorruft, die darauf hinauslaufen, Personen, die ein solches Handeln an den Tag legen, zu ’isolieren’, zu ’behandeln’, zu ’bessern’ oder zu ’bestrafen’.[27]

Demnach muss in Übereinstimmung mit einem weiten Verständnis von Etikettierungsvorgängen, eine arbeitsfähige Definition der Abweichung[28], die fast fließende Natur der sozialen Prozesse anerkennen, durch die Abweichungsphänomene „produziert“ werden.[29]

Im Sinne des Reaktionsansatzes ist „Abweichung“ am besten als „Sensibilisierungsbegriff“ zu betrachten. Herbert Blumer erklärt hierzu:

„Ein definitiver Begriff bezieht sich genau auf das, was einer Klasse von Objekten gemeinsam ist aufgrund einer genauen Definition vermittels Eigenschaften oder festen Abgrenzungen. Diese Definition oder die Abgrenzung dient dazu, die individuelle Ausprägung festzustellen, die vom Begriff abgedeckt wird. Ein Sensibilisierungsbegriff ermangelt einer solchen Spezifikation von Attributen oder Abgrenzungen und konsequenterweise befähigt er nicht dazu, sich direkt der Ausprägung und ihrem relevanten Gehalt zuzuwenden. Statt dessen gibt er einen allgemeinen Bezug und eine Anleitung beim Eingehen auf empirische Fälle.“[30]

Statt die Möglichkeit zu liefern, Akte oder Personen in zwei deutlich voneinander abgesetzte Kategorien -„abweichend“ und „nicht-abweichend“- zu trennen, hebt der Sensibilisierungsbegriff „Abweichung“ die Tatsache hervor, dass die Abweichung eines Aktes oder eines Individuums immer relativ ist, wechselnd, eine Sache von Abstufungen. Der Grad der Abweichung ist dabei überwiegend abhängig davon, wie das Verhalten gesehen (definiert) wird und wie darauf reagiert wird. Abweichung und soziale Reaktion (Kontrolle) stehen demzufolge in einer Wechselbeziehung zueinander, und es ist unmöglich, das eine ohne das andere zu verstehen.[31]

1.5 Etikettierung und ihre Auswirkungen in interpersonalen Beziehungen

Ziel des Labeling-Ansatzes ist es, „Abweichung“ als einen zugeschriebenen Status erkennbar zu machen. Wie erwähnt, wird Abweichung als Folge dessen betrachtet, was sowohl der abweichend Handelnde als auch die Anderen tun. Schur zufolge machen abweichende Handlungen allein noch keinen Abweichenden aus, es müssen zudem Mechanismen sozialer Etikettierung (Reaktion) ins Spiel kommen. Um die Bedeutung von „abweichender Identität“ und die sie umfassenden sozialen Situationen, verstehen zu können, müsse man Schur zufolge insbesondere die Formen betrachten, in denen die Eigenschaft des Abweichenden Handlungen und Personen zugesprochen wird. Schur verdeutlicht in seinen Ausführungen die grundlegenden Reaktionsprozesse (Stereotypenbildung, retrospektive Interpretation und Verhandeln) und wie sie auf den verschiedenen Ebenen der Analyse wirksam sind.[32]

[...]


[1] Vgl. Alf Trojan, Psychisch Krank durch Etikettierung?, München, Wien, Baltimore, 1978, Teil 1, S.1

[2] Klaus Dörner, in Alf Trojan a.a.O., Geleitwort S. V.

[3] Vgl. Dörner, a.a.O., S.V

[4] Vgl. Edwin M. Schur, Abweichendes Verhalten und Soziale Kontrolle: Etikettierung und gesellschaftliche,Reaktion,Frankfurt/ Main 1974, S.39.

[5] Vgl. Dörner, a.a.O., S.V.

[6] „Abweichung“ im Sinne von abweichen von gesellschaftlich definierten und sozialen Normen, Regeln und Erwartungen einer jeweiligen Kultur. Der Abweichende gilt somit als ein Normbrecher.

[7] Vgl. Trojan, a.a.O., S.1.

[8] Vgl. Schur, a.a.O., S.13.

[9] Vgl. Trojan, a.a.O., S.1

[10] Vgl. Trojan, a.a.O., S.2.

[11] Vgl. Schur, a.a.O., S.16.

[12] Schur, a.a.O., S.17.

[13] Vgl. Schur, a.a.O., S.12.

[14] Vgl. Schur, a.a.O., S.19.

[15] Vgl. Schur, a.a.O., S.21.

[16] Vgl. Schur, a.a.O., S.21.

[17] Vgl. Schur, a.a.O., S.22-23

[18] Edwin M. Schur, a.a.O., S.23.

[19] Vgl. Trojan, a.a.O., S.1.

[20] Vgl. Schur, a.a.O., S.19.

[21] Vgl. Kai T.Erikson, Notes on the Sociology of Deviance, in. Social Problems, 9 (Frühjahr 1962), S.308.

[22] Howard S. Becker, (The Outsiders. Deutsch) Außenseiter, Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt/ Main 1973, S.8.

[23] Trojan, a.a.O., S.5.

[24] Vgl. Kai T. Erikson, Notes on the Sociology of Deviance, in: Edwin M. Schur, a.a.O., S.20.

[25] Trojan, a.a.O., S.6.

[26] Trojan, a.a.O., S.5.

[27] Schur, a.a.O., S. 30.

[28] Der Labeling-Ansatz unterscheidet zusätzlich zwischen eine primären Abweichung (dem bloßen Akt der Regelverletzung) und sekundärer Abweichung (in der eine sekundäre Ausweitung einer Regelverletzung stattgefunden hat, die sich auf das Selbstbild, das Verhalten und breitere Situationen und Interaktionen erstrecken kann).

[29] Vgl. Schur, a.a.O., S.30

[30] Herbert Blumer, What is Wrong with Social Theory? In: Blumer, Symbolic Interactionism, Englewood Cliffs, N.Y., 1969, S. 147f.

[31] Vgl. Schur, a.a.O., S.33-34.

[32] Vgl. Schur, a.a.O., S.41.

Final del extracto de 61 páginas

Detalles

Título
Das Standardparadigma von Demenz
Universidad
University of Frankfurt (Main)  (Erziehungswissenschaften)
Curso
Hausarbeit im Rahmen der Diplom-Vorprüfung
Calificación
1,3
Autor
Año
2009
Páginas
61
No. de catálogo
V208637
ISBN (Ebook)
9783656361633
ISBN (Libro)
9783656363163
Tamaño de fichero
663 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Etikettierung, Labeling, Abweichung, Rollendruck, Betreuung, Definitionsprozesse, positive Arbeit, self fulfilling prophecy, Bedürfnisse, Trost, Liebe, Anerkennung, Beschäftigung, Kreis der Personen, Ausgrenzung, Entpersonalisierung, Entmenschlichung, Einbeziehung, soziale Attraktivität, Blindheit, Organisation, alte Pflegekultur, neue Pflegekultur, Personsein, Respekt, Vertrauen, Alter, Altersbilder
Citar trabajo
Diplompädagogin Anita Helm (Autor), 2009, Das Standardparadigma von Demenz, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208637

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