Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung

Eine Studie über Möglichkeiten und Grenzen dieses Handlungsansatzes mit Hinblick auf die Familie


Diploma Thesis, 2003

83 Pages, Grade: 1,8


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. Verständnis des Begriffes „geistige Behinderung“
1.1 Der medizinische Aspekt
1.2 Die psychologische Perspektive
1.3 Die soziologische Perspektive
1.4 Die pädagogische Sichtweise

2. Der Umgang mit Behinderung im Geschichtsverlauf
2.1 Behinderung in der Antike bis zur Industrialisierung
2.2 Behinderung zu Zeiten des Sozialdarwinismus und des Nationalsozialismus in Deutschland
2.3 Entwicklungen nach 1945
2.4 Die heutige Geistigbehindertenpädagogik
2.4.1 Systemisches und konstruktivistisches Denken als Leitlinien
2.4.2 Der phänomenologische Ansatz

3. Selbstbestimmung
3.1 Die Selbstbestimmungs-Bewegung
3.1 Die Bedeutung von Selbstbestimmung
3.1.1 Selbstbestimmung contra Fremdbestimmung
3.1.2 Verantwortbarkeit der Selbstbestimmung auch bei Menschen mit geistigen Behinderungen
3.4 Konsequenzen für die Geistigbehindertenpädagogik
3.4.1 Normalisierung
3.4.2 Das Empowerment-Konzept
3.5 Veränderte Anforderungen an die Pädagogen
3.6 Die dialogische Assistenz
3.7 Die Umsetzung in der Praxis
3.7.1 Umsetzung auf gesellschaftlicher Ebene
3.7.2 Die Umsetzung auf sozial-politischer Ebene

4. Selbstbestimmung in der Herkunftsfamilie
4.1 Exemplarische Interviews mit Müttern und ihren Töchtern mit geistiger Behinderung
4.2 Ergebnisse: Die „behinderte Familie“
4.3 Reaktionen auf eine Behinderung
4.4 Bewältigung und Umgang mit der Behinderung
4.5 Zusammenhänge von Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung und elterlichen Verhaltensweisen
4.6 Pädagogische Hilfen für die Eltern und die Familie

Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

EINLEITUNG

In meiner Arbeit stehen Menschen im Mittelpunkt, die unmittelbar von einer sogenannten geistigen Behinderung betroffen sind. Diese Menschen bedürfen je nach Art und Schwere ihrer Beeinträchtigung entsprechend Unterstützung und Hilfe in ihrem Alltag.

Gerade dieser erhöhte Hilfe- und auch Pflegebedarf verleitet viele Menschen noch heute dazu jenen Personenkreis als unmündig und leistungsunfähig zu behandeln. Fremdbestimmung kennzeichnet vielerorts das Leben behinderter Menschen. Besonders davon betroffen sind diejenigen mit schwersten Beeinträchtigungen.

In den letzten 20 Jahren wurden behinderte Menschen selbst aktiv und forderten ihr Recht nach mehr Selbstbestimmung ein. Dieser neue Handlungsansatz gilt als ausschlaggebende Leitidee der Heilpädagogik. Ebenso der Empowerment-Ansatz, der auf dem Selbsthilfeprinzip beruht, stellt eine solche Richtlinie dar. Diese Entwicklungen in Verbindung mit der Normalisierung von Lebensumständen behinderter Menschen, fanden sowohl viele Für- allerdings auch nicht wenige Widersprecher.

Meine Motivation dieses aktuelle Thema näher zu beleuchten, basiert auf eigens gemachten Erfahrungen. In einem vierwöchigen Praktikum in einer Außenwohngruppe einer Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung begegnete mir erstmals der Begriff „Selbstbestimmung“. Die jungen Leute, die als leicht geistig behindert gelten, gingen in ihrem Alltag souverän mit ihren Einschränkungen um. Die Struktur der Wohngruppe war so gestaltet, dass jeder seine Pflichten hatte, allerdings auch individuelle Wünschen und Fähigkeiten sehr berücksichtigt wurden. Hier lernte ich, zu was diese Menschen fähig sein können, wenn man sie nur lässt.

Wie leicht man selbst in eine fremdbestimmende Haltung verfallen kann zeigte mir die Arbeit dort ebenfalls. Durch meine regelmäßige Tätigkeit als Pflegehilfe einer Senioreneinrichtung wird mir dies auch stets vor Augen geführt. Überversorgung und -betreuung, strukturierte Tagesabläufe und Personalmangel sind in solch großen Heimen die Regel. Das lässt kaum Platz für Erfüllungen der Bedürfnisse von Heimbewohner. Um diese umsetzen zu können sind die Menschen durch ihre erhöhte Pflegebedürftigkeit häufig auf Andere angewiesen, die sie meist nicht haben. So bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich „be-handeln“ und fremdbestimmen zu lassen.

Mein Interesse bezüglich Selbstbestimmung in Familien wurde in einer Sommerfreizeit für geistig behinderte Erwachsene, in der ich die Leitung übernahm, angeregt. Dort hatte ein noch im Elternhaus wohnender Mann von 43 Jahren die Wahl zwischen einem Einzel- oder Dreierzimmer. Er wollte partout nicht alleine in ein Zimmer, wozu er durchaus in der Lage gewesen wäre. Aber sein Vater, das betonte er immer wieder, würde dies nicht für gut heißen. Seinen eigenen Wunsch konnte er mir auch nicht nach intensivem Nachfragen mitteilen. Auch sonst wartete er stets auf Erlaubnis oder Anweisungen, die ihm signalisieren sollten, was zu tun ist. Ständig hatte er seinen Vater im Hinterkopf und entschied nach dessen Maßstäben entsprechend.

Diese Haltung machte mich auf das Thema Selbstbestimmung im Allgemeinen neugierig. Zudem interessierte mich durch welche Umstände diese im familiären Rahmen wohl ver- oder behindert bzw. gefördert werden könnte.

Der Anfang meiner Arbeit dient dazu eine Vorstellung zu vermitteln, um welchen Personenkreis es sich hierbei überhaupt handelt. Deshalb werde ich den Begriff der „geistigen Behinderung“ zunächst näher beleuchten. Der Umgang mit Behinderten und auch das Menschenbild änderten sich stets im Wandel der Zeit, unter dem Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen. Diese geschichtlichen Prozesse tragen zur Geistigbehindertenpädagogik, wie sie heute existiert, maßgeblich bei. Auf ihre Inhalte werde ich kurz eingehen. Diese Einführung erachte ich als notwendig um die Veränderungen und Entwicklungen in der jüngsten Zeit besser verstehen und nachzuvollziehen zu können.

Die Veränderungen, auf die ich speziell hinaus möchte, betreffen die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung und Autonomie. Sie entstanden nicht plötzlich, sondern entwickelten sich aus einer unbefriedigenden Situation heraus. Zunächst nur körperbehinderte, dann aber auch Menschen mit geistiger Behinderung machten sich hierfür stark.

Welche Rahmenbedingungen für die Umsetzung dieser Verlangen nötig sind und wie förderliche Unterstützung aussehen sollte wird im Anschluss, genauso wie mögliche hinderliche Faktoren, beschrieben. Der letzte Teil der Arbeit ist auf Familien und geistig behinderte Töchter bezogen. Hier möchte ich einen Zusammenhang zwischen der elterlichen Erziehung sowie anderen sozialen Einflüssen und den Selbstbestimmungskompetenzen des Kindes herstellen.

Zu Beginn möchte ich noch unbedingt darauf hinweisen, dass mir die kritische Haltung gegenüber der Bezeichnung „geistig behindert“ bekannt ist. Vor allem direkt Betroffene selbst kämpfen dagegen an, was aus dem Forderungskatalog des People First Netzwerkes eindeutig hervorgeht. Trotz der Diskussionen über dessen als abwertend empfundene Bedeutung, ist dieser Begriff dennoch der zur Zeit allgemein gebräuchlichste. Auch hierauf werde ich an späterer Stellen nochmals eingehen. In der folgenden Ausführung wird die Bezeichnung mitunter noch verwendet. Abwertung der Person an sich steckt meiner Meinung dahinter, wenn der Benutzer jener Umschreibung das auch bezweckt. Hiervon möchte ich mich distanzieren.

Durch die Arbeit an diesem Thema hat sich mein Denken und mein Umgang mit jenen Menschen sehr gewandelt. Ich versuche verstärkt dem Leitmotiv der Selbstbestimmung und Befähigung hierzu entsprechend zu handeln. Dadurch habe ich schon interessante Erfahrungen machen können. Schön wäre es beim Leser dieses Werkes eine ähnliche Reaktion hervorrufen zu können.

1. Verständnis des Begriffes „geistige Behinderung“

Einen allgemeinen Konsens über einen anerkannten Begriff der allgemeinen Behinderung gibt es laut Bleidick in der Literatur nicht. Er selbst erklärt Personen für behindert, „die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen so weit beeinträchtigt sind, daß ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden.“ (zit. n. Fornefeld 2000¹, S. 46) Damit spielt er schon auf den heute bedeutsamen Zusammenhang jeder Behinderung mit der Umwelt an. Des weiteren fasst er vier zentrale Merkmale zusammen, die nochmals verdeutlichen, dass eine Beeinträchtigung kein fixer Zustand ist, sondern ein Prozess. Sie ist abhängig von individuellen und sozialen Lebensbedingungen.

„1. Die Definition beansprucht nur einen eingeschränkten Geltungsrahmen.
2. Behinderung wird als Folge einer organischen oder funktionellen Schädigung angesehen.
3. Behinderung hat eine individuelle Seite, die die unmittelbare Lebenswelt betrifft.
4. Behinderung ist eine soziale Dimension der Teilnabe am Leben der Gesellschaft.“

Speck sagt Behinderung setzt sich aus verschiedenen Teilbegriffen zusammen. Erst im Zusammenwirken dieser entstünde „das, was man hierzulande eine Behinderung nennt.“ Behinderung resultiert demnach „aus einer organischen Schädigung (Zentralnervensystem), aus individuellen Persönlichkeitsfaktoren und aus sozialen Bedingungen und Einwirkungen“ (1999, S. 39) Er behauptet eine greifbare Definition des Begriffes der Behinderung sei schwer, denn definieren hieße sich endgültig festlegen. Erstens müsste eine allgemeine Kategorisierung dessen bestehen, was alles an einer Person als behindert, bzw. geistig behindert gilt. Außerdem müsste dies zweitens stimmig abzugrenzen sein von einer anderen bzw. einer Nichtbehinderung. Aber pauschale Aussagen nach dem Muster „Ursache – Auswirkung“ gibt es nicht.

Auch der Verlauf der Geschichte zeigt, dass sich Bezeichnungen bezüglich Menschen mit geistigen Behinderungen stets änderten. Wurden behinderte Menschen einmal Idioten oder Schwachsinnige genannt, wäre das heute unvorstellbar und diskriminierend. Benennungen und auch Haltungen ihnen gegenüber sind somit Einflüssen von Lebensbedingungen im Wandel der Zeit unterlegen.

Wie gesagt gibt es die geistige Behinderung als Einheitsphänomen somit nicht.

Auch wenn sie von vielen häufig nur aus medizinischer Sicht gesehen wird, d. h. reduziert auf einen objektiv erkennbaren somatischen Defekt, ist sie aus verschiedenen Perspektiven anzugehen. Neben diesem medizinischen Aspekt und organischen Schädigungen, v. a. Schädigungen des Zentralnervensystems, werden heute ebenso psychologische, soziologische sowie pädagogische und soziale Aspekte als Faktoren erachtet, die das Bild der Behinderung maßgeblich formen. Unter Berücksichtigung der komplexen Einwirkungen auf die Personen und deren geistigen Behinderung, kann man viel individueller auf die Betroffenen eingehen und eine jeweils geeignete Art der Unterstützung und Förderung finden.

1.1 Der medizinische Aspekt

Es können, wie eben schon erwähnt, verschiedenste Funktionen des Körpers und der Organe beeinträchtigt sein. Genaue und klare Diagnosen liegen laut Liepmann (vgl. Speck 1999, S.45) bei nur ungefähr der Hälfte der von einer geistigen Behinderung betroffenen Kinder und Jugendlichen vor. Dies ist rückzuführen auf die große Anzahl von sichtbaren Erscheinungsformen und eventuellen Ursachen der Beeinträchtigungen.

Die Kinder- und Jugendpsychiater Neuhäuser und Steinhausen gliedern bestimmte klinische Krankheitsbilder nach Entstehungsphasen ein, d. h. in pränatale (vorgeburtlich entstandene), perinatale (auf Geburtskomplikationen zurückzuführende) und postnatale Behinderungsursachen. (vgl. Speck 1999, S. 46 f)

Die Aufgabe der Medizin ist es somit, Gründe und die Entstehungsgeschichte dieser Funktionsstörungen zu klären und entsprechende therapeutische Maßnahmen anzubringen. In heutiger Zeit geschieht dies nicht mehr ohne Einbezug der folgenden anderen Gesichtspunkte.

1.2 Die psychologische Perspektive

Im Rahmen der Psychologie werden die Auswirkungen von Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven, motorischen, emotionalen bzw. sozialen Entwicklung erfasst. Primär ging es hier bislang um die Beeinträchtigung der Intelligenzentwicklung. Demnach wurde der Patient nach Intelligenz kategorisiert, wobei man nach Abweichungen von einem allgemeinen Quotienten, zwischen 90 und 100 liegend, urteilte. Das heisst, war der Intelligenzquotient (= IQ) unter 70, wurde von geistiger Behinderung gesprochen oder in England von subnormal. Unter 50 liegt eine schwere Subnormalität vor. (vgl. Speck 1999, S. 48 ff)

Die ICD-10 (Internationale Klassifikation von Krankheiten) teilt geistige Behinderung bzw. Retardierung folgendermaßen ein: Bei einem IQ von 50-69 liegt eine leichte Intelligenzminderung, auch als Lernbehinderung bezeichnet, vor. Bei einem IQ von 35-49 besteht eine Mittelgradige, bei 20-34 eine Schwere und bei einem Quotienten von unter zwanzig geht man von schwerster Intelligenzminderung aus. In einer amerikanischen Einteilung liegt die unterdurchschnittliche Allgemeinintelligenz bei 52, also deutlich niedriger. Es befassten sich viele Psychologen und Forscher mit solchen Messwerten und Skalen und nannten verschiedene andere Werte, auf die ich hier aber nicht näher eingehen möchte.

Eine solche Intelligenzdiagnostik wurde und wird auch heute immer noch v. a. verwendet, um einen passenden Schultyp für Kinder und Jugendliche auszumachen.

Allerdings gilt diese Einteilung nach Intelligenz als umstritten. Denn es ist schwer eine allgemeine Intelligenz festzulegen, zumal diese durch individuelle und auch soziale Faktoren beeinflusst wird. Speck behauptet: „Kein Kind kann ausschließlich über eine Intelligenz-Testung als geistig behindert diagnostiziert werden.“ (1999, S.49) Er schreibt vor allem der „Theorie der multiplen Intelligenz“ von Gardner eine wachsende Bedeutung zu. D. h. es existieren mehrere Teilkompetenzen wie z. B. eine musikalische, sprachliche, logisch-mathematische etc nebeneinander. Hiermit ließen sich z. B. auch ungewöhnliche musikalische oder andere einzeln herausragende Fähigkeiten bei geistig behinderten Kindern erklären.

Behinderung unterliegt außerdem einem andauernden Prozess der Veränderung. Unter besonderer Berücksichtigung dessen vollzog sich in der Heilpädagogik eine Verlagerung von einer vorwiegend defizitorientierten oder Selektionsdiagnostik hin zu einer ressourcenorientierten Förderdiagnostik. Gestützt werden sich hier auf individuelle Fähig- und Leistungsmöglichkeiten. Außerdem spielen beeinflussende soziale Bezüge eine große Rolle. Es wird also spezifischer auf das Kind eingegangen und eigens auf sie zugeschnittene Fördermaßnahmen entwickelt.

1.3. Die soziologische Perspektive

Sie befasst sich mit dem Einfluss der jeweils individuellen Sozialisation bzw. sozialen Faktoren auf die Entstehung der Behinderung und deren Erscheinungsbild. Es gibt viele Untersuchungen die das Verhältnis der Sozialschicht und das Ausmaß der geistigen Beeinträchtigung thematisieren. Demnach wurde in verschiedenen Studien festgestellt, dass lernbehinderte Kinder vorwiegend aus den unteren sozialen Schichten stammen.

Über die schwereren geistigen Störungen allerdings wurden verschiedene Befunde konstatiert, die im Widerspruch zueinander stehen. Zum einen besagen sie, dass jene Behinderungen eher regelmäßig verteilt vorkommen, andererseits jedoch, dass auch diese hauptsächlich in unteren Schichten auftreten. (vgl. Speck 1999, S.51 ff)

Als Begründungen hierfür werden häufigere Geburtskomplikationen genannt sowie die schlechtere soziale Situation, d. h. Versorgung und Förderung der Betroffenen.

In der BRD werden nach jüngeren Schätzungen zufolge zwischen 0,5 und 0, 6 Prozent aller schulpflichtigen Kinder als geistig behindert eingestuft. Hiervon gelten circa ein Drittel als schwer geistig behindert. (vgl. Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG 2001) Allerdings wurde in diesem Altersbereich eine Verringerung der Auftretenshäufigkeit bemerkt. Sie könnte auf die zunehmend an Bedeutung gewinnende Präventionsmaßnahme der pränatalen Diagnostik zurückgeführt werden. Hier wird das ungeborene Leben vor der Geburt durch z. B. Ultraschall oder Fruchtwasserkontrolle untersucht.

1.4 Die pädagogische Sichtweise

Eine weitere Bestimmungsgröße ist jene der pädagogischen Förderung, worunter man Erziehung, Unterricht und Therapie zusammenfasst. Aufgabe der Pädagogik ist hier mit den genannten Methoden das Leben der Betroffenen positiv zu beeinflussen.

In der heutigen Geistigbehindertenpädagogik wird vor allem auf die jeweils unterschiedlichen Lernmöglichkeiten und -bedürfnisse der Behinderten Rücksicht genommen. Das heisst, der Betroffenenkreis ist heterogen, also in seinen Eigenarten nicht einheitlich. Allen gemeinsam aber ist eine Beeinträchtigung des Lernens, die mitunter Einschränkungen für ein selbständiges und auch selbstbestimmtes Dasein nach sich zieht. Es besteht also eine andere Art der Hilfebedürftigkeit als in der allgemeinen Pädagogik. Speck formuliert dies folgendermaßen: „Der pädagogische Akzent liegt demnach auf der permanenten Hilfebedürftigkeit, die sich aus einer bestimmten Kognition (oder intellektuellen Eigenart) ergibt, also auf speziellen Erziehungsbedürfnissen.“ (1999, S. 44)

Die Schweregrade der geistigen Beeinträchtigungen sind nochmals aufgegliedert. Sie gehen von leichter geistiger Behinderung über diverse Abstufungen bis hin zur Schwerst- bzw. Mehrfachbehinderung. (Vgl. Fornefeld 2000, S. 70 f) Dieser Einteilung nochmals entsprechend werden die speziellen Betreuungs- bzw. Erziehungsmaßnahmen gehandhabt. Ebenso werden finanzielle Unterstützungshilfen danach bemessen.

In den Mittelpunkt gestellt wird in der Geistigbehindertenpädagogik heute der behinderte Mensch als Person. Je nach seinen individuellen Ressourcen also, wird versucht ihn so weit wie möglich zu einem selbstbestimmten und eigenständigen Leben zu befähigen. Die Förderung wird somit dem Menschen angepasst. So wird Unter- bzw. Überforderung zu verhindern versucht. Speck spricht hier auch von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ bzw. „Hilfe zur Lebensverwirklichung“ in sozialer Integriertheit als Ziel der Erziehung.

Wichtig ist, also auch unter dem pädagogischen Aspekt zu sehen, dass nicht die organisch-genetischen Schädigungen alleine die Behinderung ausmachen. Wie bereits angesprochen wird die Persönlichkeit und das Verhalten eines davon Betroffenen auch durch soziale Prozesse geprägt. Diese gilt es in diesem Bereich mitunter zu initiieren.

Zusammengefasst also sieht man, dass der Begriff der „geistigen Behinderung“ nicht einfach zu kategorisieren ist und in komplexen Zusammenhängen gesehen werden muss. Dass die Sichtweise bzw. das Verständnis nicht immer so gewesen ist und sich auch immer noch im Wandel befindet, wird im Kapitel zwei deutlich.

2. Umgang mit Behinderung im Geschichtsverlauf

„Die Geschichte dieser Menschen war über Jahrhunderte hinweg die Geschichte ihrer Verfolgung und Missachtung.“ (Bachmann, zit. n. Speck 1999, 11) Erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts konnten sich Ansätze zur Erziehung und Bildung geistig Behinderter anbahnen. Aus heutiger Sicht kann man diese allerdings nicht als wirklich förderlich ansehen, da sie der klassisch-medizinischen Perspektive untergeordnet und somit defektorientiert waren. Behinderung galt somit als irreversible Beeinträchtigung und war mit Krankheit gleichgesetzt. Für den Großteil der Betroffenen bedeutete das Verwahrung und Isolation.

Der Umgang mit von Behinderungen betroffenen Personen wurde stets aus der Perspektive der Gesellschaft definiert. (vgl. Speck 1999, S.45) Das heisst, wie schon erwähnt gab es mit jedem gesellschaftlichen Wandel auch in dieser Hinsicht Veränderungen. Erste interessante Tatsachen, die das Ansehen von behinderten Menschen betrifft, findet man schon in der Antike.

2.1 Behinderung in der Antike bis zur Industrialisierung

Während Behinderte in Mesopotamien um ca. 3000 v. Chr. in der Gesellschaft auf „eigentümliche Weise integriert“ (vgl. Mattner 2000, S. 18) lebten, wurde in Sparta, Athen, Rom und auch bei den Germanen anders gehandelt. Behinderte galten als dem Interesse des Gemeinwohles nicht dienlich, woraufhin ihnen das Lebensrecht in vielen Fällen abgesprochen wurde. Neben ihrer Tötung gab es als Maßnahmen auch Ausgrenzungen bzw. Aussetzungen oder Verkauf. Oft wurden sie auch zur Belustigung des Volkes auf speziellen „Narrenmärkten“ präsentiert.

Im Mittelalter, ca. 500 n. Chr. –1500 n. Chr., waren die Menschen davon überzeugt, Fehlbildungen und Behinderungen seien selbstverschuldet und auf böse Mächte zurückzuführen. Man sah in behinderten Menschen den Teufel, den man ihnen nur durch exorzistische Mittel austreiben konnte. Als Besessene galten diejenigen, die nicht der Vorstellung des menschlichen Ebenbildes Gottes entsprachen. Man verbrannte sie auf dem Scheiterhaufen. (vgl. Mattner 2000, S. 21)

Behinderte Kinder wurden Wechselbälger genannt. Von ihnen glaubte man, dass sie gegen ein gesundes Kind ausgewechselt oder untergeschoben wurden. Das Böse hätte sich demnach ihre Seelen genommen und statt ihrer eine satanische Kreatur hinterlassen. Auch ihnen wurden Folterung und Tod zuteil.

Ungefähr im 14. Jahrhundert entstanden auch in Deutschland sogenannte „Narrenhäuser“. Hierin wurden die sogenannten „Irren“, ähnlich wie auf den Narrenmärkten, Schaulustigen präsentiert. Bis ins 19. Jahrhundert wurden solche Vorführungen in verschiedenen Formen zur allgemeinen Neugierbefriedigung veranstaltet.

Ein Jahrhundert später nahm sich die beginnende Armenfürsorge den Betroffenen an. Sie waren in kirchlichen Einrichtungen untergebracht, die allerdings als beklagenswerte Massenunterkünfte, die einen gerade so am Leben erhielten, dargestellt werden.

Im folgenden Zeitalter bis zur Industrialisierung setzte sich der Rationalismus durch. Das bedeutete anstelle des Religiösen trat mehr und mehr die Wissenschaft mit ihren objektiv erklärbaren und kausalen Zusammenhängen. In dieser Zeit der Aufklärung wurden geistig Behinderte, „Irre“ oder „Irrsinnige“ genannt, mehr und mehr zu wissenschaftlichen Forschungsobjekten. Der behinderte Mensch wurde zum kranken und beklagenswerten, „in seinen Sinnen und Empfindungen irrender Mensch“. (Mattner 2000, S. 25) Er galt in Abgrenzung zur Vernunft, die das Normale bestimmte und bewahrt werden musste, als „unvernünftig“. Deshalb wurden Masseneinrichtungen und Anstalten geschaffen, in denen man Behinderte sozusagen weggesperrte und vor der Öffentlichkeit verschwinden ließ. Denn im Sinne des derzeitigen Bildungs- und Fortschrittgedankens zählte allein die als „Normalität“ bezeichnete Daseinsform als berechtigt.

Ähnlich verlief es dann zu Beginn der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es kristallisierte sich zusehends eine Leistungsgesellschaft hinaus. Das wurde auch daran deutlich, dass in diesem Zeitraum das Schulsystem enorm ausgebaut wurde, nachdem die allgemeine Schulpflicht eingeführt war. Menschen wurden demnach immer häufiger nach ihren Qualifikationen und dem Nutzen für die Gesellschaft beurteilt.

Aus leistungsstärkeren Schülern wurden solche, die als „schwachsinnig“, „schwachbefähigt“, geistesschwach“ oder als „Halbidioten“ betitelt wurden, herausgesiebt. Eigens für sie wurden Hilfssysteme in Form von Nachhilfeklassen und Hilfsklassen eingerichtet, die eine Rückführung ins reguläre Schulsystem zum Ziel hatten. Da dies aber nur selten der Fall war entstand die „Hilfsschule“. Sie nahm allerdings nur Kinder mit leichten Behinderungen wie z. B. Sprachstörungen, d. h. sogenannte „Kinder mit Bewusstsein“ auf. Andere wurden den 1835 entstandenen „Blödsinnigen“-, „Idioten“- oder „Irrenanstalten“ zugewiesen, die meist privat organisiert waren und kirchlichen Trägern angehörten. Dass Ansätze zur Förderung einiger Behinderter bestanden könnte man als fortschrittlich bezeichnen. Dahinter allerdings stand vorwiegend ein ökonomisches Interesse. Zudem brauchte man auch Arbeitskräfte, die unbeliebte, als minderwertig angesehene Tätigkeiten ausführen sollten. Bis ungefähr 1960 waren geistig Behinderte in Westdeutschland noch von jeglicher Beschulung ausgeschlossen. In der ehemaligen DDR sogar noch bis zur Wende. (vgl. Mattner 2000, S. 30)

Die Psychiatrie als Wissenschaft etablierte sich ab dem beginnenden 19. Jahrhundert. Man klassifizierte Behinderung in Schweregrade und errichtete Institutionen für medizinisch gesehen Heil- und Unheilbare. Letztere wurden den Theologen und Pädagogen überlassen, da sie für die Medizin als hoffnungslose Fälle galten.

In der Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts entstanden also die ersten heilpädagogischen Gedanken. Sie implizierten eine Erzieh- und Bildbarkeit eines jeden Menschen auf irgend eine Art und Weise in Verbindung mit einer ärztlich-heilenden Intention. Die Schweizer Pestalozzi und der Arzt Guggenbühl setzten hierin bedeutsame Maßstäbe. Genauso wie die deutschen Pädagogen Georgens und Deinhardt in einem Heim für gesunde und „abnorme“ Kinder. Sie arbeiteten mit Angehörigen verschiedener Professionen zusammen und überwanden so die rein medizinische Sichtweise in ihrem Betreuungskonzept. (vgl. Mattner 2000, S. 32 ff) Allerdings waren auf diese Weise arbeitende Einrichtungen nicht die Regel.

2.2 Behinderung zu Zeiten des Sozialdarwinismus und des Nationalsozialismus in Deutschland

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs der Einfluss nationalsozialistischen Gedankenguts. Dem dadurch entstandenen Leistungsdruck konnten die Hilfsschulen nicht weiter entsprechen. Das Regime sah keinen Sinn mehr darin, die dem Volk nicht dienlichen Kinder vergebens zu fördern. Die speziellen Klassen für „schwerer schwachsinnige“ Kinder wurden deshalb 1933 aufgelöst. Damit einher ging die Verbreitung des Sozialdarwinismus, der im 3. Reich zur Vernichtung der Schwachen der Gesellschaft führte, was vor allem Behinderte betraf.

Der Sozialdarwinismus war an die 1859 veröffentlichten Erkenntnisse des Biologen Charles Darwin angelehnt. Damit bezog er sich allerdings nur auf die Pflanzenwelt, in der durch natürliche Auslese und Selektion gute Entwicklungen erzielt werden konnte. Im selben Jahrhundert noch wurden seine Thesen auch auf die Menschheit übertragen. (vgl. Fornefeld 2000, 24) Damit wurde sozusagen die Befürwortung zur Aufzucht der perfekten und wertvollen Menschenrasse durch Selektion formuliert.

Bestärkt wurden diese Ideen auch von der Vererbungstheorie der Eugenik.

Gemeint ist die Lehre von der Verbesserung des Erbguts zurückgehend auf den Naturforscher Francis Galton. Er vertrat 1883 den Standpunkt, man könne durch Mischung bester Gene den Fortbestand günstiger Erbanlagen unter den Menschen erhalten und fördern. Gleichzeitig würde die Ausbreitung minderwertigerer Erbanlagen eingegrenzt bzw. verhindert. Aufgrund dieser sich schnell verbreitenden sozialdarwinistischen und eugenischen Behauptungen wurden geistig Behinderte gesellschaftlich isoliert und in Anstalten untergebracht.

In den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, in der Weimarer Republik, verhärtete sich der Glaube an diese Thesen so sehr, dass Schwachsinnigen und Schulbildungsunfähigen das Recht auf Leben abgesprochen wurde. Es entbrannte eine Lebenswert- oder Tötungsdebatte in bezug auf geistig Behinderte. (vgl. Mattner 2000, S.44 ff) Der Grundstein zur „Tötung unwerten Lebens“, wie Hoche und Binding sie nannten wurde hierin gelegt. Unter Tötung verstanden sie eine Erlösung dieser „unheilbar Blödsinnigen“. Denn „bei ihnen könne von Leiden keine Rede sein, weil kein Lebenswille und kein Selbstbewusstsein vorlägen. Sie seien ‚geistig Tote’, ‚leere Menschenhülsen’.“ (Speck 1999, S. 25) Im Nationalsozialismus galt ab Anfang 1934 das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es führte unter dem Grundsatz der Brauchbarkeit und ökonomischen Verwertbarkeit zur Selektion „Minderwertiger“, denen sowohl geistig Behinderte als auch andere Randgruppen angehörten. Auch Zwangssterilisationen gingen damit einher. Bis 1945 waren es ungefähr 400.000 dieser Eingriffe. Ärzte, Erzieher, Lehrer und anderes Betreuungspersonal wurden von der Regierung zur Meldung der als minderwertig Bezeichneten verpflichtet und eingespannt. Eine Umgehung dieser Auflage war kaum möglich. Mit dem Paragraf 11 des Reichschulpflichtgesetz wurde 1938 die Grundlage geschaffen die geistig behinderten Kinder, die noch in Hilfsschulen untergebracht waren, hieraus auszusondern. Das bedeutete neben Ausschluss oft auch die ihre Tötung. Viele Verfechter der Rassenhygiene im 3. Reich äußerten, dass die mit geistig behinderten Menschen arbeitenden Erzieher sich „auf verlorenem Posten“ befänden. Bildungsunfähigkeit und Lebensunwertigkeit wurden gleich gesetzt. Ab 1940 bis 1945 bedeutete dies die systematische Ermordung für u. a. missgebildete Kinder (Gehirnmissbildung) und erwachsene Geisteskranke in speziellen und getarnten Tötungseinrichtungen. Im Rahmen dieses Euthanasie-Programms mussten insgesamt zwischen 100.000 und 130.000 betroffene Menschen ihr Leben lassen. Nach Kriegsende 1945 sind zahlreiche Ärzte und Pflegepersonal wegen Unterstützung des Nazi-Regimes verurteilt worden.

2.3 Entwicklungen nach 1945

Nach dem Krieg wollte man alte Versorgungsstrukturen für geistig Behinderte, wie sie bis 1933 noch bestanden, wiederbeleben. Die Hilfsschule nahm ihren Betrieb wieder auf. Da das Reichsschulpflichtgesetzt aber weiterhin gültig war, galten Schwerbehinderte allerdings nach wie vor davon als „befreit“. Sie wurden in Anstalten untergebracht, die nach dem 2. Weltkrieg fast leer waren und sich in sehr schlechtem Zustand befanden. Zum einen finanziell, zum anderen hatte sich am gesellschaftlichen Ansehen geistig Behinderter seither nichts geändert. Der Umgang mit den dort Untergebrachten war nur auf das pflegerische reduziert. Es wurde in ihnen nur ein nicht behebbarer Defekt gesehen, was es für sie unmöglich machte, ein weitgehend normales Leben führen zu können.

Mit der Psychiatrie-Enquête, den Vorschlägen einer Kommission, die sich 1975 mit den Missständen in Anstalten und anderen Großeinrichtungen auseinandersetzte, folgte dann die sogenannte Entpsychiatrisierung bzw. Enthospitalisierung. Eine ambulante Betreuung wurde der stationären vorgezogen. Empfehlungen dieser Enquête sind vor allem die Errichtung verschiedener gemeindenaher und am Gemeinwesen orientierter Hilfsdienste. Die Arbeit in kleineren Rahmen sollte den Behinderten als Menschen mehr in den Mittelpunkt rücken.

Im schulpädagogischen Bereich forderten vor allem Erzieher aus Anstaltsklassen eine öffentliche Schulbildung für geistig Behinderte. Außerdem auch die Aufhebung der unteren Bildungsgrenze. Das hieße ein eigenes Schulsystem für geistig Behinderte solle geschaffen werden. Man wollte sich am Ausland, besonders an den amerikanischen und skandinavischen Vorbildern orientieren. Diese Länder konnten zur Zeit des zweiten Weltkrieges ihre Entwicklung in der Arbeit mit behinderten Menschen fortsetzten und weiterentwickeln. Im Vergleich zu ihnen lag Deutschland hinsichtlich dessen weit zurück. Eine Umsetzung dieser Forderungen fand in Deutschland aber noch nicht statt.

Geistig behinderte Kinder besäßen nach einem „Gutachten der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Ordnung des Sonderschulewesens“ 1960 zwar eine gewisse Bildbarkeit. Diese fand man aber als zu gering, um die Betroffenen in heilpädagogischen Einrichtungen fördern zu können. Dennoch hätten sie genauso das Recht als Menschen geachtet und behandelt zu werden. (vgl. Speck 1999, S. 29)

Noch unter dem Schockzustand der NS-Zeit schlossen sich 1958 Eltern geistig Behinderter nach amerikanischen und niederländischem Vorbildern zusammen. Sie gründeten die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ und verstanden sich als Sprachrohr für Belange von Betroffenen aller Altersstufen. Als ihre Aufgabe verstanden und verstehen sie heute noch immer, Maßnahmen und Einrichtungen zu fördern, die der Entwicklung von behinderten Menschen zugute kommen. Auf ihre Initiative hin entstanden innerhalb kurzer Zeit heilpädagogische Kindergärten und Tagesbildungsstätten, sowie Werkstätten und weitere Einrichtungen. Ihre Ziele basieren bis heute auf ethischen Grundsätzen. Sie betont das uneingeschränkte Lebensrecht von Menschen mit geistiger Behinderung, das laut Verfassung und Grundrecht für alle Menschen besteht. Die Elterninitiative hatte maßgeblichen Anteil daran, dass der Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes erweitert wurde. Seit 1994 heisst es: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Die Lebenshilfe prägte in Deutschland ein neues, positiveres Bild der Behinderten und somit eine bessere Einstellung ihnen gegenüber. Auch der Begriff „geistige Behinderung“ wurde von ihnen eingeführt und ist bis heute die populärste Bezeichnung. Namen wie Idioten, Schwach-, Blöd- oder Irrsinnige wurden dadurch ersetzt. Denn diese wurden als abwertend, erniedrigend und integrationshemmend empfunden. Der von ihnen geprägte Ausdruck ist bis heute zwar der am allgemein Gängigste, Kritik daran wird dennoch geübt. Diese kommt vorwiegend von den Betroffenen selbst.

In den Sechzigern wurden alle geistig behinderten Kinder nach dem Gesetz in Westdeutschland schließlich schulpflichtig. Auch hierauf drängte die Lebenshilfevereinigung und setzte sich letztendlich durch. Es wurden zunächst Sonderschulklassen für sie eingerichtet und 1962 dann eigenständige Sonderschulen gegründet. Dies alles geschah in einer relativ kurzen Zeit. Ebenso errichtet wurden andere außerschulische Institutionen. Dazu gehören u. a. Frühförderungsstellen, Wohnheime, Freizeiteinrichtungen oder Erwachsenenbildung, die weitere Lebensräume abdeckten. Die Geistigbehindertenpädagogik als pädagogischer Wirkungsbereich nahm somit ihren Lauf. Integrative Einrichtungen allerdings waren zunächst nicht vorhanden.

An diesem Verlauf kann man erkennen, dass allein das Leben geistig Behinderter nicht immer selbstverständlich war. Eine allgemeine Akzeptanz ihnen gegenüber entwickelte sich, so auch die Geistigbehindertenpädagogik, eigentlich erst im letzten Jahrhundert. So sind nicht nur Fürsprecher, wie Eltern oder Betreuer, sondern in jüngster Zeit auch die behinderten Menschen selbst aktiv geworden. Forderungen nach mehr Gleichberechtigung, Autonomie und Selbstbestimmung von den direkt Betroffenen selbst wurden immer lauter. Wie das konkret aussah und was darauf folgte ist im nächsten Kapitel ersichtlich. Um diesen Ansprüchen nachkommen zu können mussten Strukturen überdacht und geändert werden.

Zunächst werden die heutigen Inhalte der Geistigbehindertenpädagogik und ihre Ziele beschrieben. Danach werde ich kurz auf die systemische und konstruktivistische Erkenntnistheorie eingehen. Denn hiervon bedient sie sich u. a. zum Entwurf ihrer heutigen Erziehungskonzeptionen.

2.4 Die heutige Geistigbehindertenpädagogik

Die Geistigbehindertenpädagogik ist eine Fachrichtung der Heilpädagogik, die sich in der Nachkriegszeit entwickelte. Die Heilpädagogik befasst sich außerdem praktisch als auch theoretisch noch mit anderen Behinderungsformen sowie deren Auswirkungen auf die personale und soziale Entwicklung von betroffenen Menschen. Weitere Fachbereiche sind: die Krankenpädagogik, die Erziehungsschwierigkeitenpädagogik, Hör- bzw. Sehgeschädigtenpädagogik, die Lern- sowie Körperbehindertenpädagogik. Die allgemeine Heilpädagogik wirkt für alle verbindend auf der wissenschaftlichen Ebene. Sie vereint übergreifende ethische, erkenntnis- und wissenschaftstheoretische, historische, terminologische oder methodische Grundfragen.

Im Gegensatz zur Allgemeinpädagogik werden in der Geistigbehindertenpädagogik stärker Erkenntnisse anderer Wissenschaftsgebiete einbezogen. Dazu gehören eben vor allem die Medizin, Soziologie und Psychologie. Ebenfalls hinein spielen auch generelle pädagogische, rechtswissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse. Sie ist also interdisziplinär organisiert. Ein wichtiger Aspekt, denn nur so ist der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit zu sehen und zu fördern.

Wie eben bereits erwähnt ist zentraler Punkt der Mensch mit seinen Bedürfnissen. Die heutige Geistigbehindertenpädagogik ist in der von ihr vertretenen Bildung und Erziehung subjektorientiert. Sie ist eine „Pädagogik vom Menschen aus“, die seinem Alter und seinen Fähigkeiten entspricht. (Fornefeld 2000, S. 16 f) Ihr Ziel ist die gesellschaftliche Integration durch Schaffung adäquater und gemeindenaher Lebens-, Lern-, und Arbeitsräume. Hier sollen sie so gut wie möglich individuell gefördert werden.

Deshalb müssen auch gesellschaftliche Veränderungsprozesse und deren Bewertung stets von dieser Pädagogik beobachtet werden. Denn wie bereits angedeutet haben sie großen Einfluss auf das Leben und Ansehen behinderter Menschen. Die Gesellschaft mit ihren Anforderungen, welche sich aus Werten und Normen ergeben, ist daher genauso Gegenstand der Pädagogik wie der zu erziehende Mensch. Die Pädagogik will solche Werte und Normen vermitteln, denn sie prägen unser Zusammenleben.

Die spezielle Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es eine Brücke zu schlagen. Sie will zwischen behinderten Menschen und der Gesellschaft vermitteln, will Kommunikation aufbauen und den Austausch fördern im Sinne der Integration. „Der Prozess des Verbindens individueller Ansprüche behinderter Menschen mit gesellschaftlichen Erwartungen bleibt ständige Aufgabe und Herausforderung (...)“ (Fornefeld 2000, S.163)

Da sich geistige Behinderung ein Leben lang auswirkt, reicht ihre Pädagogik in alle folgenden Lebensbereiche hinein. Dazu gehören:

- Humangenetische Beratung und Pränatale Diagnostik
- Frühförderung: Frühdiagnose und Therapie
- Medizin: Medizinische Therapien und Versorgung
- Behindertenrecht: Juristische Hilfen
- Soziale Hilfen / Hilfen zur Eingliederung
- Psychologische Hilfen: Krisenintervention und Therapien
- Schule: Schulische Erziehung und Bildung
- Arbeit: Berufsvorbereitung und Arbeit
- Freizeit: Hilfen zur Freizeitgestaltung
- Weiterbildung / Erwachsenenbildung
- Wohnen in unterschiedlichen Institutionen
- Alter: Assistenz im Alter / Sterbebegleitung (ebd., S.18)

Diese Tätigkeitsbereiche erstrecken sich demnach auf verschiedene Lebensräume mit jeweils spezifischen Aufgaben. Zu diesen Lebensräumen zählt die Familie, Kliniken, Frühfördereinrichtungen, Werkstätten für Behinderte, Rehabilitationszentren, Freizeiteinrichtungen, psychiatrische Institutionen als auch Wohn- und Altenheime sowie Sonderschulen und integrative Schulen. Hier überall wird versucht den Menschen mit geistiger Behinderung die besagte „Hilfe zur Selbstverwirklichung“ und einem zufriedenen Leben zu gewährleisten.

Der Begriff der Sonderpädagogik wird vornehmlich im Bereich des Sonderschulwesens angewandt. Er bezieht sich heute vor allem auf die schulische Erziehung. Im allgemeinen Gebrauch wird Sonderpädagogik jedoch häufig mit der Heilpädagogik gleich gesetzt. Auch dieser Ausdruck wird häufig kritisiert, da er das Wort „Besonderung“ und Separierung ausdrücken könne. Auch am Begriff der Heilpädagogik wird Kritik geübt. Hierauf möchte ich allerdings nicht weiter eingehen.

Die Geistigbehindertenpädagogik gilt durch verstärkte Forschung in ihren verschiedenen Einsatzfeldern auch als Erziehungstheorie und -wissenschaft. Sie orientiert sich heutzutage vermehrt an aktuellen Erkenntnistheorien, wie z. B. dem phänomenologisch-ethischen Grundsatz und dem systemtheoretischen Konstruktivismus.

2.4.1 Systemisches und konstruktivistisches Denken als Leitlinien

Für die Geistigbehindertenpädagogik gewinnen diese Theorien zunehmend an Bedeutung. U. a. hieran orientiert sie sich im Entwurf ihrer Erziehungskonzeptionen. Auf die Pädagogik übertragen meint es eine Abwendung vom defizit- und krankheitsorientierten Bild des behinderten Menschen.

Diese Erkenntnistheorien stellen die Frage nach der Entstehung von Wissen in ihren Mittelpunkt. Sie geht davon aus dass das System, das Subjekt oder der Mensch, seine Wirklichkeit selbst konstruiert. Das System steht immer im Austausch mit der Umwelt in einer sogenannten Strukturkoppelung. Es erschafft sich seine Wirklichkeit durch Unterscheidung und Beobachtung. Unterscheidung bedeutet hier, dass „ein Gegenstand meines Erkennens... erst durch meine Beobachtung von seiner Umwelt unterscheidbar und damit benennbar gemacht“ wird. (Osbahr 2000, S. 24) Das heisst, dass hinter jeder Differenzierung eines Beobachters immer schon seine Motive und Werthaltungen stehen. Denn er unterscheidet eben nur Dinge, die ihm persönlich auffallen. Somit bezieht sich der Beobachter mit der gewonnenen Erkenntnis auch immer auf sich selbst. Die Beobachtung sagt also etwas über ihn aus, über seine Einstellung gegenüber Werte und Normen. Man nennt dies Selbstreferenz und sie stellt eine zirkuläre Denkbewegung dar. (vgl. Ohsbar 2000, S. 24 f)

Die Selbstreferenz wird zur Selbstreflexion, da wir eigene Unterscheidungen und Gedanken beobachten. Durch sie gewinnen wir Identität. Identität wird laut Ohsbar als „Fähigkeit einer Beobachterin verstanden..., sich selber abgehoben von der Umwelt zu beobachten ..., selbstbezügliche Invarianten zu bilden und im Zeitverlauf ... zwischen sich selbst und der Umwelt zu vermitteln (Handlungsfähigkeit, ‚Kausalität’) (ebd., S.40) Voraussetzung zum Erlangen dieser Identität ist allerdings, dass das System seine Unterscheidungen, Beobachtungen und somit seine Erfahrungen selber macht.

Deshalb kann Realität und auch wissenschaftliche Befunde nie wirklich objektiv oder die einzige Wahrheit sein. Immer spielen subjektive Erfahrungen und Bewertungen mit hinein. Wirklichkeit und Erkenntnisse sind demnach wie gesagt selbst geschaffen und als Konstrukte zu betrachten. Sie stehen in Zusammenhang mit Einflüssen der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt.

Dasselbe gilt für den Begriff der Behinderung, der somit ebenfalls nur ein Produkt ist. Er beschreibt laut Ohsbar kein beobachtbares Phänomen, „sondern er liefert eine bestimmte Erklärung für beobachtete Verhaltensweisen.“ (ebd. S. 81) Andere Beobachter würden die selbe Sache möglicherweise anders beschreiben. Der Normalitätsbegriff ist auch ein selbsterzeugtes Konstrukt. Sie ist nur Allgemeinheit und Mehrheit und nicht die alleinige Wirklichkeit. Dass sich ein Begriff für ein bestimmtes Phänomen verbreitet, liegt an zwischenmenschlicher Kommunikation. Mehrere Personen haben eine übereinstimmende Verständigung über dieselbe Erscheinung gefunden. Dies kann man als Passung der Bedingungen aller Beteiligten umschreiben. Osbahr behauptet, dass Kategorisierungen, darunter auch die der „geistigen Behinderung“, eine gewisse Ordnung in unser Erleben und unsere Welt bringt. Sie sage so mehr über uns selbst aus als über die anderen. (ebd., S.103)

Weiterhin werden Lebewesen als autopoietisch, das heisst selbsterzeugend gesehen. Autopoiese meint, dass Organismen und Systeme in Wechselwirkung mit der Umwelt fähig sind sich selbst zu organisieren. Dieser Begriff ist auf die Biologen und Erkenntnistheoretiker Maturana und Varela zurückzuführen. Nach der Selbsterhaltungstheorie besteht das System nämlich aus mehreren Einheiten. Zu diesen Einheiten gehört das Bewusstsein mit seinen Gedanken, außerdem auch Gefühle, Emotionen sowie innere Bilder. Insgesamt stellen diese ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, bzw. eine Struktur dar. Sie wird durch Interaktion mit der Umwelt gebildet und verwirklicht.

Anders gesagt dadurch, dass sich das System mit der Umwelt in Wechselwirkung befindet, lösen Veränderungen im Umfeld auch Veränderungen in der Struktur des Systems aus und umgekehrt. Bestimmte Anregungen, Reize etc. aus der Umgebung stören sozusagen einen Gleichgewichtszustand im Subjekt und lösen Bewegungen aus. Das System spricht allerdings nur auf solche Einflüsse an, die es aktiv auswählt. Es muss für sie sensibel sein. Nach diesem Verständnis ist also alle Entwicklung eine Selbstentwicklung. (vgl. Osbahr 2000, S. 45)

Soll ein Mensch nun beeinflusst werden, z. B. ein Kind durch den Lehrer, dann hat dieser im Prinzip auf es einzugehen. Der Lehrer muss die Strukturen des Kindes verstehen. Es muss dementsprechend ein konsensueller, ein übereinstimmender Bereich vorhanden sein. Das heisst, Angebote sind zu machen, die der Absicht des Lehrers entsprechen und beim Kind Resonanz finden. Was Anklang bei ihm findet und was eben nicht kann demnach nur über Kommunikation und Interaktion herausgefunden werden.

Georg Feuser bringt im Zusammenhang mit geistiger Behinderung folgenden Einwurf: „Jeder Mensch, auch der so genannt geistig behinderte, bringt sich durch sein Verhalten, auf der Basis seiner subjektiven Wirklichkeit, in einer für ihn möglichen und angemessenen Weise in Beziehungen ein und verhält sich so effektiv und sinnvoll.“ (Feuser in Osbahr 2000, S.101) Es stehen jedem, auch dem schwerst behinderten Menschen, ausgehend von seinen Ausgangsbedingungen diverse Entwicklungsmöglichkeiten offen. Entscheidender als das derzeitige Sein, so Feuser weiter, ist demnach sein Werden. Menschen sind also nicht behindert. Denn eine Behinderung ist keine Beschreibung des Charakters, wie er lebt oder mit seiner Umwelt sinnhaft im Austausch steht. Vielmehr werden sie behindert.

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Excerpt out of 83 pages

Details

Title
Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung
Subtitle
Eine Studie über Möglichkeiten und Grenzen dieses Handlungsansatzes mit Hinblick auf die Familie
College
Protestant University of Applied Sciences Darmstadt
Grade
1,8
Author
Year
2003
Pages
83
Catalog Number
V20909
ISBN (eBook)
9783638246675
ISBN (Book)
9783638723497
File size
821 KB
Language
German
Keywords
Selbstbestimmung, Menschen, Behinderung, Studie, Möglichkeiten, Grenzen, Handlungsansatzes, Hinblick, Familie
Quote paper
Nicole Bork (Author), 2003, Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20909

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