Die "Verbrecherfrage": Impulse für die Entwicklung der modernen Psychiatrie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

21 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Zu Aktualität der „Verbrecherfrage“

2 Impulse für die Entwicklung der modernen Psychiatrie
2.1 Die Entwicklung der Psychiatrie
2.1.1 Fortschritte des 19. Jahrhunderts
2.1.2 Rückschritte der Jahrhundertwende
2.2 Modernisierung
2.2.1 Was heißt „modern“?
2.2.2 Faktoren für die Modernisierung der Psychiatrie
2.3 Die Verbrecherfrage
2.3.1 Straftäter in der Psychiatrie
2.3.2 Probleme
2.3.3 Impulse für die Entwicklung der Psychiatrie?

3 Fazit und Ausblick

4 Literatur und Quellen

1 Zu Aktualität der „Verbrecherfrage“

Psychiater sind aus der Justiz heutzutage kaum mehr wegzudenken. Sie werden als Gutachter von den Gerichten hinzugezogen, um die Schuldfähigkeit von Tätern oder die Glaubwürdigkeit von Zeugen zu beurteilen.[1] Ihre Ergebnisse beeinflussen häufig den Ausgang eines Prozesses und entscheiden über die Art der Strafe. Erst vor kurzem wartete die europäische Öffentlichkeit angespannt auf die Ergebnisse psychiatrischer Sachverständiger, als es darum ging, ob der Massenmörder Anders Behring Breivik für zurechnungsfähig erklärt werden würde.[2] In Deutschland ist das Thema im Augenblick aktuell, da noch immer über eine Reform der Sicherheitsverwahrung diskutiert wird, die bis Mai 2013 durchgesetzt werden soll.[3] Auch hier geht es um die Definitionsmacht der Psychiatrie, die entscheiden kann, ob ein Verbrecher, auch nach Absitzen seiner Strafe, im Freiheitsentzug bleiben muss.Die Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Justiz dauert nun schon über hundert Jahre an. Die Ursprünge dieses Wechselverhältnisses, im späten 19. Und frühen 20. Jahrhundert, und die Verbrecherfrage, wurden in der historischen Forschung ausführlich untersucht, allerdings hauptsächlich in eine Richtung: man analysierte den Einfluss der Psychiatrie auf die Entstehung der Kriminologie und auf die Entwicklung der Strafjustiz.[4] In dieser Arbeit soll das Thema sozusagen von der anderen Seite her aufgerollt werden – sie ist eine Untersuchung aus der Perspektive der Psychiatrie.

Die Entwicklung der Modernen Psychiatrie im Deutschen Kaiserreich wurde von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Einige möchte ich hier exemplarisch skizzieren, das Hauptaugenmerk soll aber auf dem Faktor „Verbrecher und die Psychiatrie“ liegen. Inwiefern kam die Psychiatrie der Kaiserzeit mit Verbrechern in Berührung? Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit der Justiz? Schlussendlich soll geklärt werden, ob und wie die Verbrecherfrage Impulse für die Modernisierung der Psychiatrie gab.

2 Impulse für die Entwicklung der modernen Psychiatrie

2.1 Die Entwicklung der Psychiatrie

2.1.1 Fortschritte des 19. Jahrhunderts

Da die Faktoren, welche die Modernisierung der Psychiatrie im deutschen Kaiserreich später genauer beleuchtet werden, soll hier nur eine allgemeine Übersicht über die Entwicklung des Irrenwesens im 19. Jahrhundert gegeben werden.

Von Psychiatrie lässt sich erst seit der Entstehung des medizinischen Spezialistentums im 19. Jahrhundert sprechen.[5] Man hatte schon in der Antike körperliche Ursachen für seelische Störungen vermutet und die Humoralpathologie, die Säftelehre, entwickelt. Auf diese wurde bis in die Frühe Neuzeit hinein zurückgegriffen. Besessenheit und Dämonologie galten seit jeher als alternative, religiöse Erklärungsansätze. Um 1800 begann man Ursachen für Geisteskrankheiten in Schädigungen des Gehirns und der Nerven zu suchen und die Psychiatrie entstand als medizinisches Fachgebiet.[6]

Bis ins 19. Jahrhundert wurden Geisteskranke in den meisten Fällen zu Hause von ihren Familien versorgt.[7] Konnte dies nicht gewährleistet werden, hatte man die „Irren“ zusammen mit Mitgliedern anderer Randgruppen, wie Landstreichern, Waisen und Kleinkriminellen, in Asylen, Hospizen und Zuchthäusern untergebracht. Diese Institutionen hatten den Hauptzweck ihre Insassen sicher unter Verschluss zu bringen, an Therapie und Heilung wurde in diesen Verwahranstalten noch nicht gedacht.[8]

Der Gedanke, den Anstalten therapeutische Aufgaben zuzuordnen, kam bereits Mitte des 18. Jahrhunderts auf, ebenso wie die Vorstellung, dass Geisteskrankheit überhaupt heilbar sein könne.[9] Dann dauerte es allerdings noch ein halbes Jahrhundert, bis der französische Irrenarzt Philippe Pinel, der als Befreier der Irren gilt, durch seine Reformideen die Heilung und Besserung zum erklärten Ziel der Anstalten machte. Viele historische Darstellungen sprechen in diesem Zusammenhang von der Geburt der Psychiatrie.[10] Pinels Konzepte bildeten die Grundlage für eine neue liberale Strömung der Irrenärzte, die auf angemessene, gewaltfreie Behandlung setzten. Der bekannteste deutsche Vertreter dieser Generation von Psychiatern war Johann Christian Reil, der schon in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts eine Verbesserung der Anstalten forderte.[11] Tatsächlich wurden seine Forderungen in den folgenden Jahrzehnten umgesetzt und neue Anstalten konzipiert.[12] Bestehende Einrichtungen zu Verwahrung der Irren wurden zu Heil- und Pflegeanstalten umgebaut und eine Reihe neuer Heilstätten wurden gegründet. Man war der Überzeugung, dass allein die isolierte Lage in der Natur positive Auswirkungen auf die Kranken haben würden. Von Gewalt und Zwang nahm man so weit wie möglich Abstand. Als Musterbeispiel der Heilstätten galt unter anderen die Anstalt Illenau, die sich an der moralischen, gewaltfreien Behandlung der Patienten orientierte.[13]

2.1.2 Rückschritte der Jahrhundertwende

Ende des 19. Jahrhunderts wurden all diese Fortschritte durch die Krise der Psychiatrie zunichte gemacht. Die Reformen scheiterten an „der bloßen Menge der Patienten“,[14] welche die Ärzte rat- und hilflos machte und jeden Therapieversuch vereitelte. Die Frage, warum um 1900 die Anzahl der psychisch Kranken, die in Anstalten eingewiesen wurden, so enorm anstieg, wurde in der Forschung kontrovers diskutiert.[15] Foucault sah in der Geisteskrankheit ein soziales Konstrukt, das dazu genutzt wurde Andersartige, aus wachsender Intoleranz heraus, zu stigmatisieren und aus dem Blickfeld zu schaffen. Allerdings lässt sich ein realer Zuwachs an psychischen Krankheiten in dieser Zeit erkennen. Genannt werden beispielsweise die Spätfolgen der Syphilis, Trinkerpsychosen und Schizophrenie. Ein weiterer Faktor war sicherlich die Umverteilung der Kranken. Geisteskranke wurden in der vormodernen Gesellschaft vor allem von ihren Familien versorgt, dies scheint sich Ende des 19. Jahrhunderts geändert zu haben, da zahlreiche Familien ihre Kranken Mitglieder in Anstalten unterbrachten. Das Bevölkerungswachstum wird ebenfalls als Grund, für die rasch steigende Anzahl der Patienten, genannt.[16] Aber auch aus den Gefängnissen kam Zuwachs, da geisteskranke Rechtsbrecher nun ebenfalls in Psychiatrien untergebracht wurden.

Dieser Wandel verursachte erste Berührungspunkte zwischen Irrenwesen und Justiz. Was das für die Entwicklung und Modernisierung der Psychiatrie bedeutete, soll in dieser Arbeite erläutert werden. Vorher möchte ich auf die Frage eingehen, was Modernisierung beinhaltete und welche anderen Faktoren diese begünstigten.

2.2 Modernisierung

2.2.1 Was heißt „modern“?

Der Begriff „Moderne“ tauchte als erstes im Kontext der Literatur und Kunst, als Bezeichnung einer Stilrichtung, auf. Als Kern der Moderne sah man damals vor allem den radikalen Bruch mit der Tradition und jeglicher Konvention. Der Neologismus verbreitete sich jedoch rasch im allgemeinen Sprachgebrauch und konnte bald auf weitere Bereiche bezogen werden. Inzwischen verbindet man die Moderne hauptsächlich mit Rationalismus, was auf Max Weber zurückgeht. „Moderne“ ist in diesem Sinne ein positiv besetzter Begriff, der die Umgestaltung der Gesellschaft nach dem neuen Prinzip der Rationalisierung, umfasst.[17] Dies hatte seine Ursprünge bereits in der Aufklärung, setzte sich aber erst um die Jahrhundertwende durch. Daher wird der Begriff „Moderne“ heute vor allem als Epochenbezeichnung für jene Zeit um 1900 verwendet. Als „klassische Moderne“[18] gilt heute die Zeit von 1880 bis 1930. Dipper beschreibt die Moderne als Ergebnis verschiedener Basisprozesse: Bürokratisierung, Industrialisierung, Globalisierung, Vergemeinschaftung, Verwissenschaftlichung, Technisierung, Bildungsexpansion, Individualisierung und einige mehr.[19]

Für die Entwicklung der Psychiatrie war vor allem der Prozess Verwissenschaftlichung von Bedeutung, welche die Differenzierung der Wissenschaften umfasst, sowie die Entwicklung neuer Theorien und Praktiken, die die Wissenschaft bis heute prägen.[20]

Aber auch die neue Form der Staatsmacht und die Bürokratisierung sind für die Psychiatrie von Bedeutung. Adel und Kirche waren als Herrschaftsträger entmachtet worden und die neue staatliche Herrschaft musste sich durch eine flächendeckende Verwaltung durchsetzen. Vorgeblich um den Schutz der Bürger gewährleisten zu können, wurde deren Autonomie eingeschränkt.[21] Gesetzesänderungen und die wachsende Macht des Polizeiapparates sind Faktoren für die Modernisierung der Psychiatrie, welche von der veränderten Form des Staates abhängen.

2.2.2 Faktoren für die Modernisierung der Psychiatrie

Verwissenschaftlichung, einflussreiche Persönlichkeiten, Gesetzesänderungen, gesellschaftlicher Wandel... Die Modernisierung der Psychiatrie wurde von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die sich in vielen Fällen nicht genau voneinander abgrenzen und bestimmen lassen. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, den Einfluss einiger Faktoren zu beschreiben, um dann den der Verbrecherfrage besser beurteilen zu können.

2.2.2.1 Verwissenschaftlichung und Professionalisierung

Zu Beginn wären die Fortschritte in den Naturwissenschaften zu nennen, denn im gesamten 19. Jahrhundert dominierte die biologische Psychiatrie, welche sich an den empirischen Wissenschaften orientierte.[22]

Verschiedene Neuerungen der Naturwissenschaften nahmen im 19. Jahrhundert Einfluss auf die Entwicklung der Medizin und damit auch der modernen Psychiatrie. Grundlegend waren beispielsweise die Selektionstheorie von Charles Darwin und die Degenerationstheorie von Bénédikt-Augustin Morel,[23] auf welche Lombrosos Vorstellung vom geborenen Verbrechers aufbaut.[24] Im Bereich der Medizin herrschte, vor allem Ende des Jahrhunderts, ein allgemeiner Forschungsdrang. Neue empirische und pathologisch Methoden wurden erschlossen, derer sich auch die Psychiatrie bediente, um ihre biologischen Ansätze zu belegen.[25]

Da die Medizin der Moderne auf naturwissenschaftliche Grundlegung aufbaute, streiften die Wissenschaftler Gedanken an Besessenheit und Dämonologie im 19. Jahrhundert endgültig ab.[26] Auch die entstehende moderne Psychiatrie nahm Abstand von religiösen Erklärungen für Geisteskrankheit und bestand „strikt auf naturwissenschaftliche-medizinischen Konzepten für Ätiologie und Genese psychischer Krankheiten“[27].

Die Irrenärzte dieser Zeit arbeiteten daher hauptsächlich in Sektionsräumen und Laboratorien, um durch die Untersuchung der Hirnstrukturen Geisteskranker biologische Ursachen für psychische Erkrankungen zu finden.[28]

[...]


[1] Vgl. zur Arbeit forensischer Psychiater: Tarmas, Olaf: Forensische Psychiater. Von Missbrauch bis Mord, Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2012/27/C-PSychiater-Aufmacher/komplettansicht, zuletzt geprüft am 03.09.2012.

[2] Artikelsammlung zum Fall Breivik Online verfügbar unter http://www.zeit.de/suche/index?q=breivik&sort=aktuell&rezension=0&tmode=&from=&to=&p=1, Vgl. v.a.: http://www.zeit.de/video/2012-08/1797958052001, zuletzt geprüft am 03.09.2012.

[3] Vgl.: Zeit Online: Verfassungsrichter kippen Sicherungsverwahrung, Online verfügbar unter http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-05/urteil-sicherungsverwahrung-bundesverfassungsgericht, zuletzt geprüft am 03.09.2012.

[4] Vgl.: Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933. Göttingen op. 2004, im Folgenden: Müller; sowie: Désirée Schauz/Sabine Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart 2007, im Folgenden: Schautz/Freitag.

[5] Vgl.: Edward Shorter, Geschichte der Psychiatrie. Berlin 1999, S. 13, im Folgenden: Shorter.

[6] Vgl.: Heinz Schott/Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006, S. 78, im Folgenden: Schott/Tölle

[7] Vgl.: Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980. Göttingen 2010, S. 86, im Folgenden: Brink.

[8] Vgl.: Shorter, S. 17 f.

[9] Vgl.: Shorter, S. 25

[10] Vgl.: Shorter, S. 28 f.

[11] Vgl.: Shorter, S. 31 f.

[12] Vgl.: Brink, S. 70.

[13] Vgl.: Heinz Schott/Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006, S. 259, im Folgenden: Schott/Tölle.

[14] Shorter, S. 79.

[15] Vgl. zum folgenden Absatz: Shorter, S. 81-83.

[16] Vgl.: Ansgar Weißer (Hrsg.), Psychiatrie-Geschichte-Gesellschaft. Das Beispiel Eickelborn im 20. Jahrhundert. Bonn 2009, S. 16, im Folgenden: Weißer.

[17] Vgl.: Christof Dipper, Moderne, 2010, http://docupedia.de/docupedia/images/0/07/Moderne.pdf, zuletzt geprüft am: 02.09.2012, im Folgenden: Dipper.

[18] Müller, S. 11.

[19] Vgl.: Dipper.

[20] Vgl.: Brink, S. 193.

[21] Vgl.: Dipper.

[22] Vgl.: Shorter, S. 58.

[23] Vgl.: Schott/Tölle, S. 83.

[24] Vgl.: Richard F. Wetzell, Criminology in Weimar and Nazi Germany, in: Becker, Peter/Wetzell, Richard F. (Hrsg.), Criminals and their scientists. The history of criminology in international perspective. New York 2006, 401–423, S. 417, im Folgenden: Wetzell.

[25] Shorter, S. 114.

[26] Vgl.: Schott/Tölle, S. 78 f.

[27] Brink, S. 194.

[28] Vgl.: Schott/Tölle, S. 82.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die "Verbrecherfrage": Impulse für die Entwicklung der modernen Psychiatrie
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte)
Veranstaltung
Aufbruch in die Moderne?: Kulturpessimismus und Lebensreform um 1900
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V209749
ISBN (eBook)
9783656375388
ISBN (Buch)
9783656375753
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
geschichte, Deutschland, Psychiatrie, Wissenschaftsgeschichte, Medizin
Arbeit zitieren
Julia Arnold (Autor:in), 2012, Die "Verbrecherfrage": Impulse für die Entwicklung der modernen Psychiatrie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209749

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