Chinas interne und externe Entwicklungspolitik

Auf der Suche nach einem „chinesischen Entwicklungsparadigma“


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

33 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1 Chinas Engagement in Afrika – Die schwierige Suche nach einer realistischen Einschätzung
1.1 Überblick über die Entwicklung der chinesischen Zusammenarbeit mit Afrika
1.2 Die chinesische Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika: Wahrnehmungen und Realitäten

2 Chinas westliche Provinzen –Aussicht auf nachholende Entwicklung?
2.1 Ausgangssituation und wirtschaftliche Entwicklung Chinas seit
2.2 Wachsende regionale Ungleichheiten als Kehrseite der chinesischen Entwicklung

3 Vergleich der internen und externen Entwicklungspolitik Chinas
3.1 Die wesentlichen Motive und Zielsetzungen der ‚Going-out-Strategy‘ und der ‚Western Development Strategy‘ im Vergleich
3.2 Methoden und Instrumente der Entwicklungspolitik
3.2.1 Infrastrukturprojekte als strategisches Kernelement
3.2.2 Förderung von Investitionen und wirtschaftlichem Austausch
3.2.3 Die sicherheitspolitische Komponente der Entwicklungsstrategien
3.3 Vergleich der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
3.3.1 Die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme durch die Zentralregierung
3.3.2 Politische und wirtschaftliche Konkurrenz zu anderen Gebern und Investoren
3.4 Konsequenzen und Probleme der chinesischen Entwicklungspolitik im Vergleich

4 Unterschiedlicher Kontext – gleiches Entwicklungsparadigma?

Schlussbemerkung: Welche Folgerungen für die künftige chinesische Entwicklungszusammenarbeit?

Abkürzungsverzeichnis

Bibliographie

1. Einleitung

„One of the big issues for international relations in the twenty-first century is if China’s economic integration might lead to alignment with international, or perhaps even Western, norms and beliefs. […] In any event, it is important to take into account present Chinese aid policies and their evolution when the issue of an emerging new aid paradigm is addressed“(Lagerkvist 2010: 166).

Das entwicklungspolitische Universum hat sich innerhalb weniger Jahre radikal verändert. Selten wurde das deutlicher als Ende 2011 auf der internationalen Entwicklungskonferenz im südkoreanischen Busan, wo die Vorstellungen der etablierten westlichen Geberstaaten von größerer Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit (Aid Effectiveness) auf den immer gewichtigeren Einfluss der neuen, vor allem asiatischen Geberstaaten prallten und statt zu gemeinsamen Prinzipien und Hilfszusagen letztendlich nur zu einer „reference for South-South partners on a voluntary basis“ (High Level Forum 2011: 1) führten.

Insbesondere der Aufstieg der Volksrepublik China zu einem immer einflussreicheren Akteur in Afrika[1] fand in den letzten Jahren viel Beachtung in Politik, Medien und Wissen­schaft. Nicht umsonst: Schließlich hat Beijing die Afrikapolitik im beginnenden 21. Jahrhundert öffentlichkeitswirksam zu einem der Schwerpunkte seiner Außenpolitik gemacht, wie die zahl­reichen hochrangigen Treffen und die intensive Reisediplomatie chinesischer Politiker in Sub-Sahara-Afrika unterstreichen (vgl. Jiang 2008: 51). Dass eine so schnelle und radikale Um­wälzung traditioneller Macht- und Einflussstrukturen zu zahlreichen klischeehaften und über­triebenen Darstellungen führt, ist nicht verwunderlich. Umso wichtiger ist daher jedoch ein differenziertes Verständnis der Hintergründe und Leitprinzipien chinesischer Entwicklungs­politik, um deren Implikationen für die internationale EWZ besser verstehen zu können. Auffallend ist, dass sich zwar in den letzten Jahren Unmengen an Forschungsarbeiten mit dem chinesischen Engagement in Afrika beschäftigen,[2] dass aber kaum Erkenntnisse über die internen Entscheidungsprozesse, die das Vorgehen der chinesischen Regierung (oder auch großer Staatsunternehmen) erklären könnten, vorliegen. Ein großes Problem hierbei ist natürlich die durch die Organisation des Parteienstaats bedingte fehlende Transparenz der chi­nesischen Politik, die es erschwert, Entscheidungen und deren Motivationen direkt nachzuvoll­ziehen (vgl. McGregor 2010: 12-20). Dennoch sollte deswegen die Bedeutung interner Ein­flussfaktoren nicht unterschätzt werden. Auch wenn die Entscheidungszentrale in Beijing weitgehend als Black Box betrachtet werden muss, erscheint angesichts des engen Zusammen­hangs von innen- und außenpolitischen Entscheidungen in China (vgl. McGregor 2010: 15-18) ein näherer Blick auf die interne Entwicklungspolitik Chinas vielversprechend. Schließlich darf bei der Diskussion über China als aufsteigenden Geberstaat keinesfalls vergessen werden, dass das Land selbst noch vor kurzer Zeit zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt zählte und auch heute noch mit zahlreichen grundlegenden Entwicklungsproblemen konfron­tiert ist. Insbesondere die immensen regionalen Disparitäten zwischen den weit entwickelten Großstadtregionen der Ostküste und den wesentlich ärmeren Regionen in West- und Zentral­china sind hierbei von Bedeutung. Auch wenn die weitverbreitete Selbstdarstellung Chinas als „größtes Entwicklungsland der Welt“[zui da de fazhanzhong guojia] (Yang F. 2006: 6; Xu 2008) gerne politisch instrumentalisiert wird, um die Solidarität mit Afrika als dem „Kontinent mit den meisten Entwicklungsländern“[fazhanzhong guojia zui wei jizhong de dalu] (Yang F. 2006: 6) zu betonen, so besteht kein Zweifel, dass die ‚Entwicklungspolitik im eigenen Land‘ noch über Jahrzehnte hinweg eine wichtige Rolle für China spielen wird.

Um die Motive und Leitprinzipien chinesischer Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert besser zu verstehen, kann daher ein Vergleich zwischen der internen Entwicklungsstrategie mit Blick auf die eigenen Westregionen und der externen Strategie hinsichtlich der chinesisch-afrikanischen Zusammenarbeit sehr aufschlussreich sein. Bemerkenswert ist zunächst der syn­chrone Ablauf beider Strategien: Die „große Strategie zur Entwicklung der Westregion“[xibu da kaifa zhanlüe, im Folgenden Western Development Strategy][3] wurde offiziell im Jahr 1999 initiiert. Der Startschuss zur so genannten „Going-Out-Strategy“[zouchuqu] fiel im Zuge des chinesischen Beitritts zur WTO 2001, wobei das gesteigerte Interesse an Afrika bereits in der Gründung des „Forum on China-Africa Cooperation“[zhongfei hezuo luntan] und der damit einhergehenden Beijing-Erklärung [beijing xuanyan] vom 12. Oktober 2000 (FOCAC 2000) zum Ausdruck kam. In der Folge soll gezeigt werden, dass neben dieser zeitlichen Koinzidenz weitere wichtige Parallelen in Bezug auf Motivation, Instrumentarium und Problematiken zwischen den beiden Strategien bestehen.[4]

Der Untersuchung liegt die Hypothese zugrunde, dass China als „lernendes autoritäres System“ (Heilmann 2008) im Wesentlichen die Erkenntnisse aus der erfolgreichen eigenen Entwicklung der Ostprovinzen seit Beginn der Reformpolitik 1978 sowohl auf die Strategie zur Entwicklung der eigenen westlichen Provinzen als auch auf seine externe Entwicklungszusam­menarbeit in Afrika überträgt. Aufgrund dieser angenommenen Pfadabhängigkeit sollten, trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen, gemeinsame Muster und Methoden der beiden Entwicklungsstrategien zu erkennen sein, die sich auf die chinesische Entwicklungserfahrung der vergangenen drei Jahrzehnte zurückführen lassen. Davon ausgehend soll die Frage erörtert werden, ob von einem generellen „chinesischen Entwicklungsparadigma“ gesprochen werden kann, wie es der jüngst in Mode gekommene Terminus „Beijing Consensus“ (Ramo 2004) als Gegenmodell zum westlichen „Washington Consensus“ nahezulegen scheint (vgl. Samy 2010: 76). Schließlich ist das Verständnis der Prinzipien und Motivationen chinesischer Entwicklungspolitik von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, in Zukunft die Chancen einer möglichen Kooperation oder gar die Herausbildung eines neuen aid paradigm zu befördern und eine konfliktreiche Konfrontation zwischen alten und neuen Gebern in Afrika zu vermeiden (vgl. Gieg 2010: 125).

Als Grundlage für das Verständnis und die Kontextualisierung der beiden analysierten Strategien dient zunächst ein Überblick über die Entwicklung der chinesisch-afrikanischen Zusammenarbeit, mit besonderem Augenmerk auf den heftig diskutierten Motiven des chine­sischen Engagements (Kap. 2), sowie über die politökonomische Entwicklung der westlichen Provinzen und autonomen Regionen der Volksrepublik China, wobei die Frage nach der jüngeren Entwicklung der regionalen Ungleichheiten im Zentrum steht (Kap. 3). Anschließend werden die beiden aktuellen Strategien einem systematischen Vergleich anhand ihrer Motive und Zielsetzungen, zentraler Instrumente und Methoden (Infrastrukturausbau, Investitionsförde­rung und Sicherheitspolitik), der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie ihrer jeweiligen Konsequenzen und Probleme unterzogen, wobei die teilweise erstaunlichen Gemeinsamkeiten ebenso wie die grundlegenden Unterschiede zwischen der internen und externen Entwicklungspolitik Chinas herausgearbeitet werden (Kap. 4). Von dieser vergleichenden Analyse ausgehend wird abschließend die Hypothese diskutiert, ob beiden Strategien ein gemeinsames „chinesisches Entwicklungsparadigma“ zugrunde liegt, das es erlaubt, von einem neuen „Beijing Consensus“ (Ramo 2004) als Gegenmodell zum westlichen Entwicklungsparadigma zu sprechen (Kap. 5).

1 Chinas Engagement in Afrika – Die schwierige Suche nach einer realistischen Einschätzung

„Today, Mao's little red book has been replaced by a balance sheet” (Eisenmann 2007: 33).

Die Beobachtung, die Joshua Eisenmann hier pointiert formuliert, ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz in der Diskussion über das chinesische Engagement in Afrika geworden: Während früher vor allem ideologische Motive die chinesische Außenpolitik bestimmten, geht es inzwischen ausschließlich um wirtschaftliche Interessen. Wie die meisten pauschalen Be­hauptungen hält auch diese jedoch einer näheren Untersuchung nur bedingt stand, weshalb das folgende Kapitel eine differenzierte Betrachtung ermöglichen soll. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung der chinesisch-afrikanischen Beziehungen und insbesondere deren rasante Ausweitung im beginnenden 21. Jahrhundert wird die verbreitete Wahrnehmung eines durch China beförderten ‚New Scramble for Africa‘ mit der chinesischen Selbstwahrnehmung in Bezug gesetzt und anschließend versucht, die wichtigsten Motive für das chinesische Engagement in Afrika jenseits gängiger Klischees herauszuarbeiten.

1.1 Überblick über die Entwicklung der chinesischen Zusammenarbeit mit Afrika

Nach chinesischer Lesart bestehen die Beziehungen zwischen China und Afrika bereits seit über 2000 Jahren, dem engen freundschaftlichen Austausch in wirtschaftlicher, technologischer und kultureller Hinsicht wird eine immerhin 600-jährige Geschichte attestiert (vgl. Yang L. 2010a). In dieser Geschichtsschreibung stellt die für die Süd-Süd-Kooperation wegweisende Bandung-Konferenz von 1955 also nicht den Grundstein, sondern lediglich eine Wiederauf­nahme der durch die gemeinsam erlittene Kolonialzeit unterbrochenen Beziehungen zwischen China und dem afrikanischen Kontinent dar (vgl. ebd.; ZR der VRC 2006). Jenseits dieses stark konstruierten historischen Bezugs besteht spätestens seit der afrikanischen Dekolonisierung unbestreitbar eine besondere Tradition der chinesisch-afrikanischen Beziehungen, weshalb diese nicht zu Unrecht als Vorreiter für die immer wichtigeren Süd-Süd-Beziehungen angesehen werden (vgl. Jiang 2008: 51). Ursprünglich waren die Beziehungen vor allem ideologisch und politisch geprägt durch die blockfreie Bewegung und das Streben der VRC nach internationaler Anerkennung, insbesondere in direkter Konkurrenz zur Republik China (Taiwan). Einhergehend mit den innenpolitischen Reformen Chinas vollzog sich jedoch ab den 1980er-Jahren ein Wandel der Beziehungen „from being anticolonial brothers-in-arms to economic and trade partners based on market principles“ (Jiang 2008: 51).[5]

Dieser Wandel wurde durch das Ende der Blockkonfrontationen des Kalten Krieges und den Übergang Chinas vom Nettoexporteur zum Nettoimporteur von Rohöl 1993 weiter befeuert (vgl. Alden 2007: 12). Gleichzeitig war die Gründung des FOCAC mit immerhin 44 afrika­nischen Partnerstaaten Zeichen eines wesentlich umfassenderen Ansatzes chinesisch-afrikanischer Zusammenarbeit, sowohl in Bezug auf die Anzahl der Partnerstaaten als auch der Kooperationsbereiche (vgl. He 2008: 143).

1.2 Die chinesische Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika: Wahrnehmungen und Realitäten

Der ungeahnt schnelle Aufstieg Chinas als wichtiger Akteur in Afrika führte in den letzten Jahren bei vielen westlichen Beobachtern zu extremen Befürchtungen und Warnungen sowie pauschaler Kritik an China als „Rogue Donor“ (Naím 2007), der keinerlei Interesse an den von westlichen Staaten inzwischen vertretenen Good-Governance-Prinzipien zeige. Zusammen­fassen lässt sich die heftige Kritik in dem Vorwurf, China agiere in Afrika als neokolonialer Akteur, der ausschließlich an Einflusssphärensicherung, Ressourcenausbeutung, der Stützung repressiver Regime und dem Aufbau afrikanischer Abhängigkeiten interessiert sei (vgl. Edoho 2011: 108f; Alden 2009: 6). Aus chinesischer Sicht sind diese Vorwürfe Ausdruck einer fortbestehenden „cold-war mentality“ (He 2008: 154), wobei zumindest unter kritischeren chinesischen Afrika-Experten negative Begleiterscheinungen der chinesischen Expansion in Afrika, wie etwa die Zerstörung afrikanischer Industriezweige durch chinesische Konkurrenz oder negative Umwelteffekte, durchaus anerkannt werden (vgl. ebd.: 160f).[6] Auch unter vielen westlichen Wissenschaftlern stößt der Neokolonialismus-Vorwurf auf Ablehnung:

„Fundamentally, relations between China and Africa are neither colonial nor neocolonial. China respects the national sovereignty of African states; China does not seek political or economic hegemony over African nations, nor does it seek to perpetuate its political and economic advantage in Africa in the capacity of a former colonial power“ (Rupp 2008: 79).

Neben der Kennzeichnung Chinas als neokolonialem Akteur können in der Literatur als weitere Hauptströmungen die Sicht auf China als „voracious economic competitor“ (Edoho 2011: 107), der in erster Linie an Ressourcenausbeutung interessiert sei, sowie die – deutlich positiver besetzte – Rolle eines „development partner“ (ebd.:105), der durch seine eigene Entwicklungs­erfahrung zur afrikanischen Entwicklung beitragen könne, unterschieden werden.

Natürlich lassen sich angesichts des Facettenreichtums und der je nach Staat oder Region sehr unterschiedlichen Gegebenheiten zahlreiche Argumente sowohl für optimistische als auch für pessimistischere Sichtweisen auf das chinesische Engagement in Afrika finden. Ein generell angeprangertes Problem besteht dabei in der extremen Intransparenz chinesischer EWZ (vgl. Lagerkvist 2010: 170). Diese Undurchsichtigkeit erschwert nicht nur eine angemessene Kon­trolle etwa durch Akteure der afrikanischen Zivilgesellschaft, sondern macht auch quantifizier­bare Aussagen sowohl über Umfang und Motivation als auch über die konkreten Folgen der chinesischen Entwicklungspolitik sehr schwierig. Verständlicherweise stellen für die etablierte, westlich dominierte Gebergemeinschaft zahlreiche Aspekte der chinesischen Entwicklungs­zusammenarbeit, insbesondere die politische Nicht-Einmischung, das weitgehende Ignorieren der Prinzipien der „Paris-Deklaration“[7] und der Fokus auf bilateraler Zusammenarbeit statt multilateraler Einbindung ernste Herausforderungen dar. Gerade weil bestehende internationale Normen von der chinesischen Führung zwar genau studiert, aber eher selten befolgt werden (vgl. Söderberg 2010: 125f), liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit jedoch auf den internen Motiven und der Prägung der chinesischen EWZ durch eigene Erfahrungen.

In der chinesischen Literatur stehen mit Blick auf diese internen Motive ganz eindeutig die Bereiche ‚Einfluss auf der internationalen Bühne‘ und ‚Wirtschafts- und Handelsinteressen‘ im Vordergrund. In beiden Bereichen werden jeweils chinesische und afrikanische Interessen gemeinsam betont. Offiziell wird in diplomatischer Hinsicht das Ziel einer neuen, multipolaren internationalen Weltordnung durch die Stärkung der Süd-Süd-Kooperationen angestrebt (vgl. He 2008; Yang L. 2010b; Yang F. 2006). Natürlich dient letztere auch als Legitimation der Wirtschaftsbeziehungen. Während Yang Lihua vor allem den Nutzen diversifizierter Handels­beziehungen und neuer Absatzmöglichkeiten für chinesische und afrikanische Unternehmen an­spricht (vgl. Yang L. 2010b: 2), betont He Wenping offen die strategische Bedeutung afrika­nischer Bodenschätze, insbesondere von Rohöl, als „critical for sustaining [China‘s] growth trajectory” (He 2008: 146). In der Tat bleibt China als wirtschaftlichem ‚Nachzügler‘ kaum eine andere Wahl, als sich für die noch weitgehend unerschlossenen Ölreserven afrikanischer Staaten zu interessieren, da ein Großteil der weltweiten Ressourcen bereits unter den etablierten Industrienationen aufgeteilt ist (vgl Gieg 2010: 64f). Gerne wird jedoch von chinesischen Auto­ren der Eindruck erweckt, die immer nur als „chinesisch-afrikanische Kooperation“[zhongfei hezuo] bezeichnete Zusammenarbeit trage ganz automatisch zur Entwicklung der afrikanischen Staaten bei, während der Aspekt konkreter „Hilfe“ für Afrika kaum angesprochen wird.

Aus methodischer Sicht ist daher auch die Unterscheidung zwischen Entwicklungshilfe (d.h. ODA im engeren Sinne) und kooperativer Außenwirtschaftspolitik im Falle Chinas beson­ders schwierig (vgl. Brautigam 2009: 162-165). Dies liegt einerseits an der hohen Intranspa­renz, andererseits aber auch an einem grundlegend anderen Verständnis von Entwicklungs­politik, deren Fokus per se auf einer Stärkung des wirtschaftlichen Austausches liegt (vgl. Samy 2010: 76). Auch die chinesische Regierung vermeidet die traditionelle westliche Entwicklungs­rhetorik durch den omnipräsenten Verweis auf den „beiderseitigen Nutzen“ [ huli ] (FOCAC 2006a; ZR der VRC 2006) als Grundlage der Beziehungen. Aus westlicher Sicht liegt daher der Vorwurf nahe, EWZ vermische sich im Falle Chinas mit eigennütziger Interessenpolitik. Man könnte es aber auch so sehen: Während westliche Staaten hehre moralische Ziele und Prinzipien für ihre EWZ aufstellen, die dann oftmals von der eigenen Wirtschafts- und Handels­politik konterkariert werden, folgt die chinesische Afrikapolitik einheitlichen, wenn auch durchaus eigennützigen Prinzipien, unabhängig vom entwicklungspolitischen, ökonomischen oder diplomatischen Schwerpunkt einzelner Maßnahmen. Entscheidend für diese Untersuchung ist in erster Linie, dass sich die Analyse chinesisch-afrikanischer Entwicklungszusammenarbeit nicht auf die formelle ODA beschränken kann, sondern alle entwicklungspolitisch relevanten Aspekte der Partnerschaft im Auge behalten muss (vgl. Brautigam 2009: 15ff).

2 Chinas westliche Provinzen –Aussicht auf nachholende Entwicklung?

2.1 Ausgangssituation und wirtschaftliche Entwicklung Chinas seit 1978

Historisch gesehen war die Westgrenze Chinas stets starken Veränderungen unterworfen, und erst im 18. Jahrhundert gelang es der Qing-Dynastie, sämtliche heute zur VRC gehörenden Gebiete unter chinesische Herrschaft zu bringen. Auch wenn ein Vergleich mit der Koloni­sierung Afrikas durch die europäischen Mächte gewagt erscheint, so spielten doch auch bei dieser Eroberung kolonialistische Motive wie Ressourcenerschließung, die Kontrolle über wichtige Handelswege nach Zentralasien und die ‚Zivilisierung‘ scheinbar unterentwickelter Völker eine entscheidende Rolle (vgl. Keil 2010: 165). Nachdem China jedoch selbst Opfer des europäischen Kolonialismus wurde, verloren die Westgebiete rapide an wirtschaftlicher Bedeu­tung, da die Kolonialmächte China ein wirtschaftliches Standortschema aufzwangen, das die Küstenregion bevorzugte und ehemalige Wirtschaftszentren im Westen verkümmern ließ (vgl. ebd.: 164). Diese aus der Kolonialzeit geerbten regionalen Ungleichgewichte versuchte Mao Zedong durch eine umfassende staatliche Förderung der Zentral- und Westregion auszu­gleichen. Die planwirtschaftlich vorangetriebene, punktuelle Förderung von Industriestandorten (vgl. Onishi 2001: 6f) erwies sich jedoch als ähnlich ineffizient wie die Konstruktion der berüchtigten White elephants in postkolonialen afrikanischen Staaten.

Radikal verschärft wurden die Ost-West-Disparitäten in der VRC jedoch erst im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik nach 1978. Das neue entwicklungspolitische Credo ‚Effizienz statt Gleichheit‘ basierte auf der ‚Ladder-step theory‘, nach der der Weg aus der Unterentwick­lung zunächst über die einseitige Förderung von Ballungszentren mit günstigen Entwicklungs­voraussetzungen führt, von denen ausgehend sich dann die Peripherie schrittweise ebenfalls entwickeln soll (vgl. Holbig 2004: 338). Hieraus resultierte aufgrund offensichtlicher Standort­vorteile eine bewusste Bevorzugung der Küstenprovinzen durch so genannte „preferential policies“, die von einigen wenigen Sonderwirtschaftszonen ausgehend immer weiter ausge­dehnt wurden.[8] Die Kehrseite dieser für Ostchina zweifelsohne erfolgreichen Entwicklungs­politik zeigte sich jedoch ab Mitte der 1980er-Jahre in einer zunehmenden Marginalisierung der Westregionen sowie einer immer größeren regionalen Einkommensungleichheit.

2.2 Wachsende regionale Ungleichheiten als Kehrseite der chinesischen Entwicklung

Da die ‚Ladder-step theory‘ keinerlei Zeitrahmen für die Entwicklung der wirtschaftlichen Peripherie vorsah und der Widerspruch zwischen der offiziell immer noch propagierten sozia­listisch-egalitären Gesellschaft und der Realität immer frappierender wurde, sah sich die KPCh unter Deng Xiaoping Ende der 1980er-Jahre zu einer weiteren ideologischen Anpassung gezwungen: Das neue Paradigma der ‚Two overall situations‘ sollte die temporären Ungleich­heiten durch die Notwendigkeit einer Entwicklung in zwei Schritten legitimieren und enthielt gleichzeitig das Versprechen einer aufholenden Entwicklung der Westregionen ab der Jahrtau­sendwende (vgl. Holbig 2004: 336f). Dieser allmähliche Bewusstseinswandel schlug sich zwar offiziell in einem neuen Ansatz für eine ausgewogenere Regionalentwicklung nieder, nichts­destotrotz setzte sich der Anstieg der regionalen Disparitäten in der Realität unvermindert fort (vgl. Keil 2010: 159; 168). Dies führte dazu, dass auch unter chinesischen Intellektuellen der Zweifel an den versprochenen ‚trickle-down‘-Effekten, also der automatischen Ausbreitung des neu gewonnenen Wohlstandes von den Zentren in die Peripherie, immer größer wurde und die ungleiche Entwicklung zusehends an der Legitimität der KPCh zu zehren begann (vgl. Holbig 2004: 339). Die Situation in der Mehrzahl der ärmeren Westprovinzen stellte sich Ende der 1990er-Jahre so dramatisch dar, dass Keil in der neuen Entwicklungsstrategie der Westregionen gar eine Form des „nation-building im eigenen Land“ (Keil 2010: 181) sieht.

[...]


[1] China zu den „neuen Geberstaaten“ zu rechnen, wie dies in jüngeren entwicklungspolitischen Diskussionen oft getan wird, ist eigentlich angesichts der jahrzehntelangen Tradition chinesischer Entwicklungshilfe in Afrika nicht korrekt (ausführlich dazu vgl. Brautigam 2009: 30-67). Dennoch hat, wie in der Folge gezeigt wird, das chinesische Engagement in Afrika im vergangenen Jahrzehnt in ungekannter Weise zugenommen.

[2] Siehe u.a. Alden 2007, Alden/Large/Oliveira 2008, Asche/Schüller 2008, Brautigam 2009 oder Rotberg 2008.

[3] Interessanterweise bedeutet das chinesische Wort kaifa sowohl „Erschließung, Öffnung“ als auch „Entwicklung“, weshalb in der einschlägigen englischsprachigen Literatur bisweilen auch von der „Campaign to Open up the West“ (z.B. Goodman 2004) gesprochen wird. Die Standardübersetzung ist jedoch „Western Development Strategy“.

[4] Natürlich ist die chinesische Entwicklungspolitik in Wirklichkeit nicht auf die von der WDS erfassten Westregionen einerseits und die afrikanischen FOCAC-Partnerstaaten andererseits beschränkt. Dennoch stehen die genannten Regionen eindeutig im Zentrum chinesischer Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert, weshalb hier die Begriffe „interne“ und „externe“ Entwicklungspolitik jeweils nur auf diese Regionen und Staaten bezogen werden.

[5] Dennoch spielt der ‚diplomatische Krieg‘ mit Taiwan um internationale Anerkennung auch heute noch eine – wenn auch geringere –Rolle in der chinesischen Afrikapolitik. So stellt der Zwang zur Anerkennung der Ein-China-Politik, also der völkerrechtlichen Zugehörigkeit Taiwans zur Volksrepublik China, die einzige Ausnahme von der ansonsten konsequent verfolgten Politik der Nichteinmischung und der politischen Nichtkonditionalität chinesischer Entwicklungszusammenarbeit dar (vgl. Gieg 2010: 70; Brautigam 2009: 67).

[6] Die westliche Afrikapolitik wird dabei jedoch weniger als Vorbild denn als Negativbeispiel dafür betrachtet, welche Fehler China in Afrika nicht wiederholen dürfe (vgl. He 2008: 156).

[7] Die 2005 unterzeichnete „Paris-Deklaration über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit“ legt fünf Grundprinzipien für effektive Entwicklungshilfe fest: „Eigenverantwortung, Harmonisierung, Partnerausrichtung, Ergebnisorientierung sowie gegenseitige Rechenschaftspflicht“ (OECD 2005). China hat die Erklärung zwar unter­schrieben, wurde aber wiederholt für seine Missachtung der Kriterien, insbesondere der mangelnden Abstim­mung mit anderen Gebern sowie mangelnder ‚accountability‘ und Transparenz kritisiert (vgl. Brautigam 2009: 132ff).

[8] Diese „preferential policies“ umfassten insbesondere die Erlaubnis zur wirtschaftlichen Öffnung für Investitionen aus dem Ausland, massive staatliche Investitionen in die Ostregion, sowie den allmählichen Aufbau privatwirtschaftlicher Strukturen (vgl. Bell/Khor/Kochhar 1993: 38ff).

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Chinas interne und externe Entwicklungspolitik
Untertitel
Auf der Suche nach einem „chinesischen Entwicklungsparadigma“
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Arnold-Bergstraesser-Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar „Entwicklungspolitik im Zeitalter der Globalisierung“
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
33
Katalognummer
V211215
ISBN (eBook)
9783656393184
ISBN (Buch)
9783656395126
Dateigröße
670 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
China, Entwicklungspolitik, Afrika, Western Development Strategy, Beijing Consensus, Tibet, Xinjiang, Aid Effectiveness
Arbeit zitieren
Bertram Lang (Autor:in), 2012, Chinas interne und externe Entwicklungspolitik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211215

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