RaumZeitWärmePlastik - Der Begriff des Raumes bei Joseph Beuys


Diplomarbeit, 2011

79 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einführung

Physik

Panopticon

Systemtheorie

Umstülpung

Resumee

Abbildungen

Quellen

Weiterführende Literatur

Einführung

Bauen ist wegnehmen und hinzufügen. Meistens kommt zuerst irgendwer mit dem Bagger oder mit der Schaufel und nimmt was weg. Und dann kommt jemand und baut etwas. Und das, was er baut, hat er sich vorher überlegt. Dieses Überlegen ist Planen und es zielt auf das Bauen. Planung will verwirklicht werden, will realisiert werden. Architektur will gebaut werden, Gärten wollen gebaut werden.

In der Planung wird also Zukünftiges in der Gegenwart sichtbar. In der Planung wird schon weggenommen und hinzugefügt, obwohl am Ort selbst noch gar nichts sichtbar wird. Seit Rem Koolhaas das Automonument beschrieb, ist klar, dass im gebauten Raum Form und Inhalt nicht mehr übereinstimmen müssen. In dem Sinne kann auch der Freiraumentwurf unabhängig von seinem Ort geschaffen werden. Wenn zuerst die Vorstellung über das, was gebaut werden soll, da ist und dann der Ort, kann man von kontextlosem Entwerfen sprechen. Soll jedoch eine Verbindung zum Ort erlebbar werden, muss man sich fragen, was genau weggenommen und was hinzugefügt werden kann. Das heißt, wenn ein Ort verbessert werden soll, dann wird eine Vorstellung von dem, was gebaut werden soll, aus dem Ort heraus entwickelt. Deshalb muss Planung auch Kommunikation sein.

Der Titel dieser Arbeit `Der Begriff des Raumes bei Joseph Beuys´ gibt schon die beiden Richtungen vor, die hier zusammengeführt werden sollen: Raum und Beuys. Es soll also der Raumbegriff von Joseph Beuys untersucht werden. Die Arbeitsthese, dass Joseph Beuys ein Wegbereiter des spatial turn war, führte nicht zum spatial turn wie er sonst verstanden wird als Paradigmenwechsel in den Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern zu der Entdeckung, dass Beuys Raum viel umfassender versteht. Er mag wohl ein Wegbereiter eines spatial turn sein, aber eines viel umfassenderen. Denn er erweitert Raum in die Plastik, womit nicht nur eine physisch räumliche Kategorie auch nicht nur eine soziologische Kategorie, sondern eine geistige Kategorie und auch eine spirituelle Kategorie angesprochen wird. Wenn Plastik nun so weit gefasst wird, dann merkt man, dass räumliches Arbeiten eine ganz andere Dimension bekommt und dadurch mit tieferem Sinn unterlegt wird.

„Mit dem spatial turn seit den 1980er Jahren ist die Räumlichkeit zu einem Schlüsselthema der Geistes- und Kulturwissenschaften avanciert. Insbesondere die Geographie, die Soziologie und die Ästhetik haben die Wende im Raumdenken eingeläutet [...].“[1] Mit dieser topologischen Wende wird der Newton´sche Raum überwunden und in einen sozial konstituierten überführt. Daraus ergibt sich in der Folge in den Planungsdisziplinen eine Hinwendung und Implementierung von partizipativen Prozessen, von Bürgerbeteiligungen in der Entscheidungsfindung von Gestalt- und Nutzungsfragen des gemeinschaftlichen, des öffentlichen Raumes. „Wie besonders gut am virtuellen Raum des Internet ersichtlich, wird hier eine neue Raumauffassung nötig, die den Raum nicht mehr als einen Behälter versteht, in dem sich Menschengruppen und Kulturen befinden. Statt dessen erscheint der Raum nun als das Ergebnis sozialer Beziehungen, das dem Handeln einzelner Menschen oder Gruppen entspringt, der reale Raum wird ergänzt durch die für das Subjekt dominante, sozial und kulturell überformte Raum-Wahrnehmung bzw. -konstruktion. Damit die topologische Wende tatsächlich einen Paradigmenwechsel darstellt, genügt es daher nicht, wenn der Raum zum Untersuchungsgegenstand wird. Statt dessen muss vielmehr versucht werden, räumlich zu denken und von Anbeginn der Untersuchung aus sich dem Gegenstand mit räumlichen Kategorien zu nähern. Erst dann wird der Raum zu einer neuen Analysekategorie.“[2]

Es soll jedoch nicht über den spatial turn berichtet werden, sondern ganz auf Joseph Beuys und sein Verständnis von Raum und dem damit zusammenhängenden Begriff der Plastik eingegangen sein. Die Frage, ob Joseph Beuys ein Wegbereiter des spatial turn war, ist also Ausgangspunkt gewesen, um einen Einstieg in den Kosmos Beuys zu finden. Sie wurde nicht benutzt, um eine Kunstgeschichtliche Arbeit aufzubauen, sondern um diesen Kosmos Beuys an aktuelle Diskussionen der Raumgestaltung anzuschließen. Gezeigt hat sich dabei vor allem zweierlei. Erstens ist das chronologische Zeitkonzept unter dem Aktionsbegriff nicht hinreichend, um Aktion beschreiben zu können. Der Zeitbegriff des Chronos muss also erweitert werden um jenen des Kairos.[3] Zweitens ist der Raumbegriff zunächst unter dem Konzept des Raum-Zeit-Kontinuums zusammen mit der Zeit als Prozess zu denken und dann unter dem Wärmebegriff als Plastik. Was den Raum betrifft, macht Einstein dessen Krümmung sichtbar und Joseph Beuys dessen Umstülpung. Insofern ist die Topologische Wende, die Beuys fordert, eine viel umfassendere, als die meisten Menschen nach der kapitalistischen Kulturrevolution überhaupt zu denken wagen.

Gemäß dieser Vorgabe will die vorliegende Arbeit keine Designstrategie oder Entwurfstheorie entwickeln, sondern eine Konstitutionsbeschreibung liefern der res activa der Menschheit einerseits und im Kleinen des Hineingestelltseins des Wesenskerns jedes einzelnen Menschen in diese großen Zusammenhänge andererseits.

Der Umfang einer Diplomarbeit macht es jedoch nötig, eine Einschränkung des zu bearbeitenden Feldes vorzunehmen. Bei Joseph Beuys soll sein Verständnis des Raumbegriffes und weiterer Begriffe, die sich an diesen angliedern, erfragt werden. Parallel soll bei Niklas Luhmann hauptsächlich sein Begriff des Menschen interessieren, um den Beuys´schen Raumbegriff klarer herausarbeiten zu können. Dieser geht, wie deutlich werden wird, eine unauflösliche Verbindung über den Begriff der Plastik mit dem Begriff des Menschen ein und über den Begriff der sozialen Plastik mit der Gesellschaft. Joseph Beuys beurteilt den Menschen als das zentrale Geschehen der Welt, Niklas Luhmann hingegen interessiert sich überhaupt nicht für den Menschen und auch nicht für Raum. Dennoch ist die Luhmannsche Systemtheorie ein viel diskutiertes Angebot zur Gesellschaftsbeschreibung geworden. Zwei konträre Positionen, die in der vorliegenden Arbeit gegeneinander gehalten werden, um die jeweils andere scharf zu stellen.

Bezüglich des verwendeten Materials von Beuys wurde das literarische Werk: Schriften, Interviews, Gespräche bevorzugt, um eine Spekulation über den Raumbegriff zu vermeiden. Die von Beuys hierin immer wieder geforderte und praktizierte Dialogform sollte auch in diesem Sinne Muster für die vorliegende Arbeit sein, in der verschiedenste Wortmeldungen ihren Platz gefunden haben. Es spannt sich dadurch ein Denkraum auf, der im Gespräch[4] mit Johannes Stüttgen (Meisterschüler und Mitarbeiter von Joseph Beuys) durchschritten und in den parallel laufenden Texten nochmals en détail ermittelt wurde. „Gegen die Vorstellung, man könne die ursprüngliche Bedeutung eines Textes durch einen Rückgang in der Zeit wiederherstellen, lässt sich auf der Folie einer poststrukturalistischen Bedeutungstheorie ein eher räumlich zu nennendes Interpretationsverfahren anführen. Da jede Interpretation notwendigerweise aus dem Horizont aktueller Sinnzuschreibungen erfolgt, muss das Geflecht von möglichen sinnhaften Bezügen aufgedeckt werden, die ein Text auch unabhängig von seiner historischen Situierung und dem anzunehmenden Kenntnisstand seines Autors unterhält. Ausgehend von ähnlichen Begriffen, Aussagen oder Denkfiguren können Texte aus weit zurückliegenden Epochen, unterschiedlichen Disziplinen oder Traditionslinien miteinander in Verbindung gebracht werden - beispielsweise anhand des Raumbegriffs selbst. Ein solches Beziehungsgeflecht lässt sich als `Denkraum´ (Quadflieg 2007,22) charakterisieren, in dem die zu analysierenden Zugänge aufgrund ihrer Unterschiede voneinander abgehoben und verortet werden können. Für die Positionierung in einem Denkraum ist weder die chronologische Abfolge noch die gegenseitige Kenntnis oder Bezugnahme der Autoren ausschlaggebend. Vielmehr spannt sich der Denkraum gerade durch die Differenzen, die Nah- und Fernbeziehungen der untersuchten Werke auf. Welche spezifische Bedeutung einem einzelnen Text zukommt, lässt sich erst im Rahmen der jeweiligen Konstellation ermessen, in der er betrachtet wird. Die Interpretation eines Textes erfolgt also mit anderen Worten analog zur Lokalisierung eines Punktes innerhalb eines relationalen Raums: sein Ort kann nur im Hinblick auf eine gewisse Anzahl weiterer Punkte bestimmt werden und nicht durch einen für alle Raumstellen gleichermaßen geltenden absoluten Maßstab.“[5]

Ganz ähnlich Antje Oltmann: „Nach dem Selbstverständnis der `Concept art´ und ganz besonders nach Beuys´ eigenem Plastikverständnis sind die zahlreichen Gesprächsaufzeichnungen, in denen Beuys seinen Kunstbegriff im Dialog mit dem jeweiligen Gesprächspartner entwickelte, als gleichberechtigter Teil seines Kunstschaffens anzusehen.“[6] Und Rainer Rappmann: „Dass aber sein gesprochenes Wort nicht nur ein zeitbedingtes, marginales Unterkapitel seiner Kunsttätigkeit war, zeigt schon seine eigene Einschätzung, dass nämlich der `Erweiterte Kunstbegriff´ sein `größtes´, am `besten gelungenes Kunstwerk´ sei.“[7]

Die an Johannes Stüttgen in diesem Sinne gestellte Frage lautete: was ist Raum? Das sich daraus entwickelnde Gespräch hat unerwartete Wendungen genommen und zeigt mit den angesprochenen Themen die Vielfalt der Fragen, die sich mit dem Raumbegriff verknüpfen. Im Verlauf desselben tauchte jedoch immer wieder der Raumbegriff auf. Die Themen reichen von Raum zu Physik über Metaphysik in astronomische Bereiche, in gesellschaftliche Bereiche, in wirtschaftliche Bereiche, in finanzielle Bereiche und in soziale Bereiche. So macht die Abschrift des Gespräches nochmals klar, dass diese Themen alle einander bedingen. Sie zeigen hierbei, dass die Raumfrage für Beuys, aber auch für unseren Alltag bestimmend ist. Sie muss jedoch in die Frage nach der Plastik überführt werden, wenn sie eine Zukunftsperspektive eröffnen soll.[8]

„`Jeder Mensch ist Künstler!´ D.h. die Kunst wird zum Modell des Gestaltens. Die Frage des Gestaltens ist also eine universelle und ist nicht nur interessant für Künstler etwa, sondern ist für jedermann interessant, aber ist auch die Frage, um zu Neugestaltungen in den verschiedenen Kraftfeldern der Gesellschaft zu kommen, eben im Kraftfeld der Freiheit, im Kraftfeld der Gleichheit und im Kraftfeld der Brüderlichkeit.“[9] Das ist die Richtung, die Beuys von Lehmbruck aus weiterführt: die Plastik, die über sich selbst hinausweist und schon übersinnliches Material zeigt, führt ihn in den sozialen Raum. Der physikalische und der geometrische Raum werden implizit bei Lehmbruck schon, explizit dann bei Beuys erweitert in einen mit einem soziologischen Blick erfassbaren Raum.

Auch Mathias Böttger glaubt, „[...] dass sich eine nachhaltige Lebensweise nur auf kultureller Ebene entwickeln kann. Es gibt viele technische Lösungen und ökonomische wie ökologische Notwendigkeiten, aber der eigentliche Wandel findet in unserer Lebensweise, in unserem Umgang mit Dingen, Menschen und Raum statt.“[10] Auf der Suche nach einem tragfähigen Konzept, das in der Lage ist, die Argumentationslücke zwischen den ökonomischen sowie den ökologischen Notwendigkeiten zu schließen, gab die Aussage, dass der Raumbegriff durch den Wärmebegriff erweitert werden muss, die Anregung, sich näher mit Beuys zu befassen. In der Arbeit von Beuys Argumente zu finden, die damit helfen können, auch die Legitimationslücke zwischen den gestaltenden Berufen und den Wissenschaften zu schließen, besteht außerdem berechtigte Hoffnung.

Zum Aufbau der Arbeit sei noch hinzugefügt, dass eine Form gewählt wurde, die, trotz ihres Buchcharakters, einem Denkraum nahe kommen kann. Die jeweils linke Seite ist von dem Gespräch mit Johannes Stüttgen[11] vom 22. Juni 2011 in Düsseldorf belegt. Die jeweils rechte Seite nehmen Belegexkurse ein, die sich mit den Themen Physik, Panopticon, Systemtheorie und Umstülpung beschäftigen.

Im Kapitel Physik werden die wissenschaftsgeschichtlichen Grundlagen, also die Geistesgeschichte geklärt, aus der Beuys seinen erweiterten Kunstbegriff ableitet. Mit Panopticon sind die baulichen Grundlagen der uns umgebenden Architekturen gemeint, mit Systemtheorie ist die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz gemeint und mit Umstülpung der räumlich-überräumlich zu verstehende Vorgang im einzelnen Menschen, durch den eine soziale Plastik erst bewusst und damit wirklich werden kann.

Physik

Das Erleben der Zeit taucht beim Menschen an dem Punkt auf, wo er zum ersten Mal Ich zu sich sagt. Hier trennt er ein Vergangenes und ein Zukünftiges und hat damit gleichzeitig die Fähigkeit zu erinnern und zu planen. Die ersten Erinnerungen und das erste Ich-Erlebnis markieren den Punkt der Entstehung der persönlich erlebten Zeit.

In dem Film Absolute Giganten, auf dem Rücksitz mit Telsa im Ford Granada, bei der Fahrt in den morgengrauenden letzten gemeinsamen Tag, erinnert sich Floyd: „Die erste Sache an die ich mich erinnern kann is: wie ich von meiner Mutter an Sylvester ne Wunderkerze bekommen hab. Der Himmel war voll mit Raketen und Feuerwerkskörpern die explodiert sind und sprühten und es war laut! Aber ich hatte keine Angst sondern hab meine Wunderkerze in den dunklen Himmel gehalten und wie wahnsinnig geschüttelt. Ich hab sie so doll geschüttelt, so wahnsinnig doll, wie ich irgendwie konnte, oder noch doller, bis ich nich mehr konnte und immer weiter, besinnungslos und immer doller. Und ich war klein und die Wunderkerze auch - aber ich war beim Größten und Unglaublichsten dabei was ich je gesehen hatte. Das Tollste und Größte was es gab und ich war dabei, ohne das ich es wusste - dass ich irgendwas wusste. Ich glaub ich hab in meinem ganzen Leben nie wieder etwas so gemacht. So doll und kompromisslos und total. Ich glaub ich hab auch nie wieder in meinem Leben irgendwas erlebt, was so groß war und so gigantisch.“[12]

Die hier angesprochenen Themen Zeit, Aktualität, Engagement, zeigen die starke wechselseitige Bedingtheit von Erlebnis und Aktion und damit von Leben und Welt. Diese kleine Geschichte kann uns in die Richtung einer Dimensionserweiterung führen, wie sie Joseph Beuys erarbeitet hat. Damit zusammen hängen unter anderem Fragen, mit denen sich traditionell die Physik beschäftigt: „Die Physik stellt Fragen nach Geometrie und Dimension, Ursprung und Entwicklung, Aufbau und Struktur des Raumes: ist der Raum absolut zu verstehen, als ein äußeres Gefäß, oder relativ, als relationaler Maßstab zweier Ereignisse? Wie verhalten sich Raum, Zeit und Materie zueinander - und zu Feldern? Welche Geometrie besitzt der Raum, wie viele Dimensionen finden sich: 4, 10 oder gar 26? War der Raum schon immer da, oder ist er selbst in Evolution begriffen? Wie ist seine Herkunft und Zukunft zu begreifen (`Big Bang´, Endknall oder kontinuierliche Expansion)? Ist der Raum begrenzt oder unbegrenzt, endlich oder unendlich, gefüllt oder leer? Ist er überall gleich strukturiert und weist die gleiche Richtung auf (Homogenität, Isotropie)? Ist er kontinuierlich oder diskret (Quantisierung)? Wie verhalten sich entfernte Teile des Raums zueinander (Nicht-Lokalität)? Welche Raumstrukturen zeigen sich in der uns Menschen zugänglichen Natur der mittleren Größenordnung (fraktale Raumdimensionen)? Ist es legitim, die heutige Existenz des Menschen als Erklärungstyp für die verblüffende Feinabstimmung physikalischer Naturkonstanten sowie für die Struktur des Raums heranzuziehen (Anthropisches Prinzip)?“[13]

Dieses Anthropische Prinzip findet sich bei Joseph Beuys in dem Begriff der Wärme: „Es kommt eine Zeit, in der der Zeit- und der Wärmebegriff den Raumbegriff erweitert.“[14] Es ist dies auch die zentrale Aussage, an der die Raumforschung nachfragt: was ist hiermit gesagt? Hierzu soll zunächst der Frage nach den wissenschaftsgeschichtlichen Vorraussetzungen des „Appellcharakter[s] seiner Werke als Zeugnisse seines Umganges mit Raum zur Überwindung des Raums und nicht zu dessen Beherrschung“ nachgegangen werden.[15]

Für Albert Einstein gilt die „Auffassung des Raumbegriffes als hervorgegangen aus der Erfassung des Inbegriffes von Lagerungsrelationen zwischen Körpern. [Dies] wird auch durch die Betrachtung der Entwicklung der wissenschaftlichen Raumlehre, der Geometrie, bestätigt.“[16]

Denn „von einer [...] Gravitationsdeterminierung der Raumzeit-Geometrie wird gesprochen. Damit hat, so Max Born, die `Geometrie als eine auf die wirkliche Welt anwendbare Lehre [...] keine Sonderstellung vor anderen Zweigen der physikalischen Wissenschaft´“[17] mehr. Beuys definiert Raum ebenfalls als relationales Gefüge, wenn er erlebt wie „die ganze Welt abhängt von ein paar Brocken Material. Von der Konstellation des Wo-eine-Sache-steht, des Ortes, geographisch, und des Wie-die-Sachen-zueinanderstehen.“[18] Er hat die Vorstellung von Raum als Produkt der Beziehung von Dingen. Bei seinen Installationen kommt es darauf an, wie und wo die Dinge liegen zueinander und zum Gebäude.[19] Die Lagerungsqualität erscheint als raumkonstituierend auch im Zwischenmenschlichen: Soziales ist das Sich-ins-Verhältnis-setzen zum Anderen. Die Frage, wie sich der Eine zum Anderen verhält, macht den Anderen erst zum Mitmenschen. Diese Verhältnissetzung konstituiert die soziale Plastik. Bezüglich des plastischen Begriffes sind also zunächst zwei Erkenntnisse von Bedeutung. Die physiktheoretischen Entdeckungen zeigen, dass der aus Verhältnissen gebildete Raum erst mit der Wärmetheorie möglich geworden ist zu verwirklichen. Und diese Möglichkeit hat Konsequenzen für jeden Menschen, denn die Erweiterung des Raumes in die Plastik macht Gestaltung erst möglich für den einzelnen Akteur.

Albert Einstein sieht den Feldbegriff, welcher für Beuys´ plastische Arbeit zentrale Bedeutung hat, zugunsten des Raumbegriffes verschwinden: „Das Gesetz der Lichtausbreitung im leeren Raume in Verbindung mit dem Relativitätsprinzip hinsichtlich der gleichförmigen Bewegung hatte mit Notwendigkeit zur Folge, daß Raum und Zeit zu einem einheitlichen vierdimensionalen Kontinuum verschmolzen werden mußten. [...] Der Raum verliert [zunächst] mit der allgemeinen Relativitätstheorie seinen absoluten Charakter. [...] Der Zustand des Raumes gewann [dann jedoch] Feldcharakter; der geometrische Raum war dem elektromagnetischen Felde in dieser Hinsicht analog geworden.“[20] Und schließlich: „Nach den hier vertretenen Gesichtspunkten sieht also das axiomatische Fundament der Physik so aus. Das Reale wird aufgefaßt als vierdimensionales Kontinuum mit einer einheitlichen Struktur bestimmter Art (Metrik und Richtung). Die Gesetze sind Differentialgleichungen, welchen die genannte Struktur, d.h. die als Gravitation und Elektromagnetismus in Erscheinung tretenden Felder genügen. Die Matriellen Teilchen sind Stellen hoher Felddichte ohne Singularität. Zusammenfassend können wir symbolisch sagen: Der Raum, ans Licht gebracht durch das körperliche Objekt, zur physikalischen Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten Jahrzehnten den Äther und die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch das Feld und die Korpuskeln zu verschlingen, so daß er als alleiniger Träger der Realität übrig bleibt.“[21]

Joseph Beuys geht hier noch weiter. Mehr noch, er kommt von einer ganz anderen Seite, aus der Kunst, und öffnet die Wissenschaft für das tägliche Leben jedes einzelnen Menschen. Der Anlass zu diesem Unterfangen ist für Beuys der Raumüberschuss der Plastik von Wilhelm Lehmbruck. „Beuys charakterisiert diesen Gehalt als `räumliche Erweiterung nach innen´.“[22] In diese Richtung, auf Wahrnehmung, dann auf Bewusstsein, dann wieder auf Wahrnehmung, weißt auch Johannes Stüttgen: „Das Gebot der Stunde ist die Überwindung des mental-rational auf das Dreidimensional-Räumliche fixierten Zeitbegriffs der neuzeitlichen Bewußtseinsstruktur“.[23] Denn, so Beuys: „Wenn du den Geist im Ziel hast, hast Du auch ein anderes Konzept der Zeit ... Du siehst, die Zeit auf der Erde ist eine physikalische Wirklichkeit. Sie findet statt im Raum. So ist es die Raum-Zeit-Relation, über welche Einstein spricht. Dies gibt bereits eine Art Hinweis auf eine andere Dimension, aber ich denke, diese andere Dimension ist etwas, was wir noch zu entdecken haben ... Wenn ich sage, daß wir es noch zu entdecken haben, dann ist es bereits entdeckt. [...] Dies ist die Wärmequalität. [...] Die Qualität von Wärme. Diese Dimension ist tatsächlich eine andere Dimension, welche nichts zu tun hat mit der Raum- und Zeit-Relation. Es ist eine andere Dimension, die kommt, um an einem Ort zu existieren und welche wieder fortgeht. Das ist ein sehr interessanter Aspekt der Physik, da bis jetzt die meisten Physiker nicht vorbereitet sind, mit der Wärmetheorie sich zu befassen. Thermodynamik war immer ein sehr komplizierter Stoff.“[24]

Diese Dimensionserweiterung ist also keine statische, sondern muss originär in jedem Augenblick neu erzeugt werden im relationalen Zusammenhang: „Ich habe erlebt, an dieser Stelle, als kleines Kind, daß man mit Material etwas Ungeheures ausdrücken kann, was für die Welt ganz entscheidend ist, so hab ich´s erlebt. Oder sagen wir, daß die ganze Welt abhängt von der Konstellation von ein paar Brocken Material. Von der Konstellation des Wo-eine-Sache-steht, des Ortes, geographisch, und des Wie-die-Sachen-zueinander-stehen, ganz einfach. [...] Ich habe nur gesehen, da war eine Eisenstange, und da waren Eisenelemente, die lagen da rum in verschiedener Form in die Erde versunken und guckten raus, und ich habe mich regelmäßig, wenn ich aus der Schule kam - weil da eine Umsteigestelle für die Straßenbahn war - da hingesetzt und habe mich da, im heutigen Sprachgebrauch könnte man sagen, ganz absinken lassen, in dieses, ja, in dieses Gesehenwerden von den anderen Dingen. Ich habe wahrscheinlich oft stundenlang darauf gesessen und habe mich in die Sache versenkt, ganz einfach, bin eingegangen in diese Sache. Also das Erlebnis, daß ... man mit Formen etwas machen kann.“[25]

Was hier beschrieben ist, ist ein autenthisch aktiv-meditativer Vorgang. Für Johannes Stüttgen ist „es [...] die Aktionszeit, in der Beuys die Dreidimensionalität durchbricht.“[26] Joseph Beuys spannt das Panorama seiner Themen mit den Worten: „Die Aktion ist ja an und für sich ein anderes Wort für den Bewegungscharakter. Der Bewegungscharakter ist in meinem Verständnis kein physikalischer, sondern der Bewegungscharakter ist etwas, was auch wieder versucht, den Menschen zu deklarieren als ein geistiges Wesen, was seine Grenzen nicht innerhalb des positivistischen Weltbildes hat, sondern zurückgreift vor die Geburt, was übergreift nach dem Tode, was die Frage stellt: wo sind die Kräfte der Bewegung überhaupt? Welche initiale Kraft, welche geistige Größe setzt z.B. das Planetensystem in Bewegung? So weit begründe ich den Aktionscharakter meiner Arbeit: den Ansatz der Bewegung in der Zeit zu finden.“[27]

Das räumliche Element Bewegung wird also in der Zeit gesucht, was Stüttgen veranlasst zu sagen: „Zeit wird erkannt als plastische Qualität - und entsprechend: Plastik als Zeitqualität, als `Überzeit´ und `Gegenraum´. Der Schlüsselbegriff dieser Dimensionserhöhung hinsichtlich Plastik und hinsichtlich Zeit (so wie der Verbindung beider in einer neuen Substanzform) ist die Wärme. Immer wieder ist hier von `Wärme-Zeit´ und von `Wärmeplastik´ die Rede. `Wärme´, `Plastik´ und `Zeit´- alle drei sind Schwellencharaktere; als solche sind sie es auch, die das, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts namentlich durch die Physik (Einstein, Planck u.a.) allseits bekannt wurde, überhaupt erst einlösen. [...] Diese Transformation des `Raum-Zeit-Kontinuums´ der modernen Physik in die Plastik im Zuge der Transformation der Plastik selbst aus ihrem neuzeitlich reduzierten Begriff findet schon 1964 in einigen ganz wichtigen Statements von Joseph Beuys ihren Niederschlag, im übrigen nicht zufällig parallel mit dem Einsatz seiner ersten großen Aktionen [...]. Die entscheidende Rolle spielt dabei [...] das Wärmeprinzip:“[28] „und da liegt wieder etwas vor, was hier auszudrücken ist in Bezug auf Wärme und Kälte - das sind zwei Dinge, die mich unheimlich interessieren, die bisher nicht in die Plastik hineingenommen wurden, die aber meines Erachtens etwas viel Wesentlicheres aussagen über das Wesen der Plastik als zum Beispiel Raum und Zeit - oder sagen wir so, wir wollen es nicht ausschließen, Raum und Zeit sind sehr wichtig, aber Wärme und Kälte sind ebenfalls zwei sehr wesentliche Elemente.“[29] „Ich erkannte, daß Wärme (Kälte) überräumliche plastische Prinzipien waren, die bei Formen: der Ausdehnung und Zusammenziehung, dem Amorphen und Kristallinen, dem Chaos und dem Geformten, entsprachen. Gleichzeitig erhellte sich mir im exaktesten Sinne das Wesen der Zeit, der Bewegung, des Raumes.“[30]

Johannes Stüttgen erläutert: „Wärme und Kälte werden als überräumliche plastische Prinzipien heraus- und Raum und Zeit gegenübergestellt. Und schon im selben Interview, einige Sätze davor, klingt im Hinblick auf die (physikalisch begründete) Gleichschaltung von Raum und Zeit eine für feinere Ohren unüberhörbare Differenzierung zwischen Raum und Zeit an: `Raum und der bisher erarbeitete unzureichende und verschwommene Zeitbegriff - unser Leben zwischen Geburt und Tod ruft auf zur Erforschung von Gegenraum-Wärme-Zeit - unsterblicher Wesenskern des Menschen, Leben nach dem Tod. Von der Einsicht in diesen Zusammenhang (Antikunst) hängt es ab, ob wir zuverlässige Kontrollmöglichkeiten und Maßstäbe bekommen über das, was wir in Raum und Zeit machen.´“[31]

Stüttgen erläutert im Folgenden die Perspektive, aus der auch eine Systemtheorie in ihrer Figuration in die Theoriegeschichte erst eingeordnet werden kann: „Wobei als erstes vielleicht dabei aufgeht, daß ein Bewußtsein von Geburt und Tod so wie von Raum und Zeit ohne Bewußtwerden des (im Leben zwischen Geburt und Tod) Ausgegrenzten gar nicht möglich ist. Daß also mir durch die Einsicht in das Ausgegrenzte auch das Eingegrenzte erst begreifbar wird.“[32] Weiter Joseph Beuys: „Innerhalb der normalen, metrischen Zeit, die durch die Uhrenzeit charakterisiert ist oder durch den meßbaren Raum, spielt sich eine Aktion ab, die sich auf einen anderen Zeitbegriff bezieht und auf einen weitergehenden Raum bezieht. ( ... ) Das ist eine Lebenszeit, biographische Zeit, Schicksalszeit oder auch Zeit, bevor ein Mensch geboren wird oder nachdem er stirbt. Also alles Kategorien von Wirklichkeiten, die in diesem metrischen, physikalischen Zeitbegriff ja nicht drin enthalten sind. Es sind also Lebensbegriffe darin enthalten und keine mechanische Zeit.“[33]

Stüttgen konturiert diese Lebensbegriffe: „Was aber die Abgründigkeit betrifft, ist es - das Folgende von mir mit der Einschränkung naturwissenschaftlicher Nichtkompetenz vorgetragen - die Abgründigkeit der Frage von `innen´ und `außen´ oder, wenn man so will, menschlicher Innerlichkeit (gemeint sind nicht nur ‚Gefühl‘ und ‚Empfinden‘ ) und den Materieverhältnissen außen. So werden Raum und Zeit im Zuge der Relativitätstheorie unablöslich miteinander verknüpft, aber völlig vom Menschen abgetrennt. Dieser gerät gleichzeitig, nämlich unter der Maßgabe der Bedingungen der Quantenmechanik, als `Beobachter´ in eine nicht aufhebbare Verquickung mit dem atomaren Feld, das nun nicht mehr als bloßes `außen´ zu fassen ist. Ein `innen´ kommt trotzdem nicht in Betracht, es bleibt trotz Verwischung des `außen´ außen vor, geradeso, als werde es miteliminiert. Die herkömmlichen Begriffe von Raum und Zeit, aber auch von `innen´ und `außen´ geben ihre bis dahin in der Neuzeit hartnäckig behauptete Sicherheit preis. Hier nun bringt Joseph Beuys seinen Begriff der Plastik ins Spiel.“[34]

Genau diese Innen-Außen-Frage diskutierte auch Johann Wolfgang von Goethe. „Nicht nur sei es falsch, Natur und Kunst zu trennen, sondern der Mensch selbst darf und kann sich bei der Naturbeobachtung nicht von der Natur lösen. Die `Objektivierung´ der Natur durch die Empiristen, welche dem Menschen die Natur als Ding an sich gegenüberstelle, führt nach Goethes Überzeugung zu dem Irrtum, die Natur müsse dem Menschen prinzipiell verschlossen bleiben. Das brachte Goethe in einem Gedicht zum Ausdruck, das er den Physikern explizit ins Stammbuch schrieb. Konkret richtete es sich gegen den damals bekannten Schweizer Naturforscher Albrecht von Haller, der in seinem Gedicht `Die Falschheit menschlicher Tugend´ behauptete, es sei unmöglich, ins Innere der Natur zu dringen.“[35]

Allerdings - Dem Physiker

`Ins Innere der Natur -´

O du Philister! -

`Dringt kein erschaffner Geist.´

Mich und Geschwister

Mögt ihr an solches Wort

Nur nicht erinnern:

Wir denken: Ort für Ort

Sind wir im Innern.

`Glückselig! Wem sie nur

Die äußre Schale weist!´

Das hör ich sechzig Jahre wiederholen,

Ich fluche drauf, aber verstohlen;

Sage mir tausend, tausend Male:

Alles gibt sie reichlich und gern;

Natur hat weder Kern noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male;

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob Kern du oder Schale seist.[36]

„Der Kern der Natur ist im Herzen des Menschen. Das darf, so betont Goethe, die Naturforschung nie aus den Augen verlieren.“[37] Naturforschung verstanden als Positivismus, so Stüttgen, ist nicht das Ende der Geschichte: „Die in der Gegenwart zu realisierende, neue Bewußtseinsstufe, die Jean Gebser die `Zeitfreiheit´ nennt, ist nicht etwa [...] die Eliminierung der früheren Stufen, also der `archaischen´ (charakterisiert als `vorräumlich/vorzeithaft´), der `magischen´ (`raumlos/zeitlos´), der `mythischen´ (`raumlos/naturzeithaft´) und der `mentalen´ (`raumhaft/abstrakt zeithaft´). `Zeitfreiheit´ ist vielmehr die Integration aller Stufen. Sie hat Joseph Beuys in den Aktionen in vielfacher Weise demonstriert - oder, um es noch ausdrücklicher zu sagen: diese Integration war sogar die wesentliche Qualität der Aktion.“[38]

Im eigenen Erleben wird Zeit plastisch dadurch, dass sie handhabbar wird, handhabbar wird sie dadurch, dass man sich in das Gefühl versetzen kann, unendlich viel Zeit zu haben. Die Beschleunigung führt dazu, dass Zeit ihren, eben diesen, Raumcharakter verliert und wahrscheinlich lineal wird, magert, fast gänzlich verschwindet, wodurch also der Raumaspekt der Zeit völlig in den Hintergrund tritt und die Zeit nur so davonfliegt, verfliegt. Das zeigt sich auch im Beuys´schen Begriff der sozialen Plastik dadurch, dass, wenn man keine Zeit mehr hat für seine Mitmenschen aufgrund der Beschleunigung: `Keine Zeit, keine Zeit, muss schnell weiter: Termine, tschüss!´, dann kann die soziale Plastik auch nicht zustande kommen. Die soziale Plastik entsteht als Verknüpfung von Biographien. Dafür muss eben auch Zeit dasein, der einzelne Mensch muss über Zeit verfügen können. Verfügen können, also gestalten können, plastisch mit Zeit umgehen können. Dafür ist das Gefühl keine Zeit zu haben zu 100% abträglich, das Gefühl unendlich viel Zeit zu haben, sehr zuträglich.

Panopticon

„Uns, die wir uns dort zwischen Tischtennisplatte und Trampolin zusammengerottet hatten, war schon klar, was die da draußen sahen: Sie sahen, wie im Innersten mehrerer Konzentrischer Kreise, die Bionade-Eltern von Prenzlauer Berg, die Bugaboo-Fahrer vom Bötzowviertel, die Witzfiguren aus einem Alexander-Osang-Roman oder aus dem `Geo´-Artikel über die Hufelandstraße, den wir natürlich auch alle gelesen hatten. Wir wussten, was sie sahen, weil wir uns ständig selbst von außen sehen und weil wir eben nicht vergessen können, wer wir waren: Das ist ja unser Problem. Und unser Glück. Wir alle kannten das irritierende Gefühl sehr gut, mit dem Abziehbild des eigenen Lebensentwurfs konfrontiert zu werden, aber nicht jeden Tag ist es so schwer zu ignorieren. Sogar der Tocotronik-Sänger Dirk von Lowtzow kam, guckte und zeigte, das machte die Sache nicht unbedingt leichter. Die nostalgische Erinnerung an die eigene Jugend und die `alternative history´, die sich daraus ableitet, begleitet uns sowieso ständig. Da müssen die Protagonisten der eigenen Plattensammlung nicht extra persönlich vorbeikommen, auch wenn sie gleich um die Ecke wohnen. Wir waren hier drinnen, aber es fühlte sich an wie draußen.“[39]

Peter Sloterdijk stellt diesen Bericht in einen größeren Zusammenhang, wenn er darlegt: „Wenn das große Thema des 20. Jahrhunderts, wie Luhmann sagte, in epistemischer Sicht Reflexivität hieß, dann auch, weil das große Ereignis des 20. Jahrhunderts unter westlichen Breiten in der Verwöhnung als Massentatsache bestand. Was man das Reflexivwerden der Moderne genannt hat, erfüllt sich darum erst durch das Thematischwerden der Verwöhnungsqualität der Moderne. Wir realisieren die ästhetisch verfremdete Wahrnehmung der Situation, wenn wir uns im sozialen Raum wie Besucher in einer Installation bewegen. Der Beobachter, der die Lage erkennt, begreift, daß er sich in einer Ausstellung umsieht, die größer formatiert ist als das normale Museum - einer Ausstellung, die fürs erste nicht gegen das gewöhnliche Sichtfeld abgegrenzt werden kann.“[40]

Was geschieht dem Besucher der Installation, wenn er Mitkurator werden will? Oder zunächst einfach er selbst bleiben möchte? Wie kann das Individualitätsversprechen der folgenden, in die eigene `alternative history´ eingebetteten Zeilen eingelöst werden und vor allem: wodurch sieht es sich bedroht? Wer ist you?

Try to make me bow down to you.

Try to take my identity.

Try to make me just another pebble on the beach.

A green mind twists the plan.

A cold hand trying to silence me.

You try to grasp me, but I‘m out of reach.

No Spiritual Surrender

No Spiritual Surrender[41]

Um einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, sollen, den Entwurf für ein Panopticon von Jeremy Bentham[42] im Hinterkopf, gewisse Architekturen des modernen Lebens bezüglich ihrer Wirkung auf diese `spiritual identity´ untersucht werden. Zu zeigen ist, und gezeigt wird hier, wie das was Luhmann beschreibt als die `Form Person´[43], benutzt bzw. ausgebaut wird in ein `Panoptisches System´ durch bauliche Veränderungen im Raum und seinen Niederschlag findet auch in rechtlichen Regelungen. Dieser Ausbau führt letztendlich dazu, dass die von Rudolf Steiner, von Joseph Beuys und von Johannes Stüttgen angesprochene, und als Ermöglichung der sozialen Plastik gemeinte Umstülpung, verunmöglicht wird. Die Verunmöglichung findet ihren Ursprung darin, dass aus traditionalgesellschaftlichen Zusammenhängen heraus die der `Form Person´ gegenübergestellte Praxis der Authentizität als zunächst einmal idealistisch, als romantisch, als verklärerisch gesehen und bezeichnet wird. Diese Authentizität ist aber Voraussetzung, um sich selbst gegenüber in einem ersten Schritt und in einem zweiten Schritt der Gesellschaft gegenüber zu plastischem Gestalten gelangen zu können, um zunächst einmal jeder in sich selbst die Grundlagen zu erarbeiten, die nötig sind um, im wörtlichen Sinne, tatsächliche Authentizität praktizieren zu können. Diese Authentizität ist jedoch die, welche, so Beuys, erübt werden muss, weil ohne diese Authentizität der Punkt, an dem Umstülpung stattfinden kann, nicht erreicht wird. Im Panoptischen System wird die Möglichkeit, die Unperson zu erreichen, jedoch systematisch ausgeschaltet. Das psychische System wird ohne Rückfahrkarte zur Person gemacht im Sinne einer Verunstaltung oder Entfremdung.[44]

Architektur ist schon immer virtuell. Ein Haus kann man nur zeitlich ganz erfassen, indem man es durchschreitet, oder gedanklich, indem man sich eine Vorstellung vom ganzen Gebäude bildet. In der Betrachtung hat man aktuell immer jedoch nur Teile eines Gebäudes vor sich. Eine Wand. Die Wand wird in der Moderne weiß und daraufhin transparent. Sie löst sich auf. Glas und Stahl. Eine Entwicklung hin zur beliebigen Bespielung der Wand ist zu beobachten. Die Wand ist weit mehr als statisches Element geworden. Sie ist ein Bildschirm. Was jedoch ist ein Bildschirm? Ein Bildschirm ist ein Medium, auf dem ein Bild erscheinen kann. Er ist neutral. Ein Bild zeigt etwas, das aktuell nicht anwesend ist. Darauf weisst René Magritte deutlich hin. Hier ist nicht eine Pfeife zu sehen, sondern das Bild einer Pfeife. Bilder finden zunehmend auch Eingang in die Gestaltung von Außenraum im Sinne einer Erlebnissteigerung des Konsumenten. Landschaft wird in farbiges Licht getaucht, wodurch natürliche Bezüge verändert werden und Grenzen verschwimmen. Der Ort wird zunehmend bedeutungslos, nur das möglichst eindrucksvolle Erlebnis zählt. Die „Beschreibung der Transparenz als Symptom des Verlusts architektonischer Materie und [...] Erklärungen zur Auflösung der festen Wand in moderne Transparenz und darauffolgend in postmoderne Elektronik“[45] veranschaulicht einen Vorgang, der virtuelle Welten in unser tägliches Leben einführen will. Um die virtuellen Welten des Internet verständlich zu gestalten, werden räumliche und soziale Ordnungsprinzipien aus der realen Erdenwelt übernommen. „Der virtuelle Raum lässt die Riten der Einschreibung nicht aus. Er macht von ihnen Gebrauch als Erklärungsmuster, Ordnungsinstrument und Parallelkonzept“.[46] Er „bettet geläufige Formen sozialen Verhaltens und kultureller Praxis in eine neue Formel ein, wobei die bekannten Konnotationen des materiellen Raumes ein wichtiger Teil darin sind.“[47] Seit Aristoteles wissen wir: „Jedes Ding hat seinen Ort. Das heißt, wir kommen nicht ohne eine Ordnung aus, die räumlich gedacht ist. Nur werden wir das heute nicht mehr nur mit der Frage des physischen Raumes verknüpfen, sondern als eine Notwendigkeit unserer gedanklichen Fähigkeiten, unserer Vorstellungskraft verstehen.“[48] Diese Notwendigkeit nehmen wir natürlich in die virtuelle Welt mit. „Weil wir aber entsprechende Wahrnehmungsgewohnheiten ausgebildet haben, stehen wir nun vor der Situation, daß wir vieles auf technischer Ebene integrieren können, aber uns sinnlich damit schwer tun“.[49]

[...]


[1] Dünne, Jörg; Günzel, Stephan (Hrsg.) (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

[2] (2011): „Topologische Wende“. de.wikipedia.org. San Francisco Abgerufen am 12.12.2011 von http://de.wikipedia.org/wiki/Topologische_Wende.

[3] siehe hierzu: Lange, Christoph (1999): „Alles hat seine Zeit“. archiv.fridericianum-kassel.de. Kassel (Zur Geschichte des Begriffs kairos), Abgerufen am 12.12.2011 von http://archiv.fridericianum-kassel.de/ausst/chronos/chronos-text1.html. Und ausführlicher: Stüttgen, Johannes (1988): Zeitstau. Wangen: FIU-Verlag (Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys).

[4] Ursprünglich war ein Experteninterview mit Johannes Stüttgen Teil dieser Arbeit. Dieses Gespräch wird hier jedoch nicht veröffentlicht.

[5] Quadflieg, Dirk (2009): „Philosophie“. In: Günzel, Stephan (Hrsg.) Raumwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp S. 286f.

[6] Oltmann, Antje (1994): “Der Weltstoff letztendlich ist... neu zu bilden.” Ostfildern: edition tertium (Joseph Beuys für und wider die Moderne).

[7] Rappmann, Rainer (Hrsg.) (2011): Beuys beim Wort genommen. Wangen/Allgäu: FIU-Verlag.

[8] siehe: Fußnote 4.

[9] Beuys, Joseph (2011): „Denker, Künstler, Revolutionäre. Beuys, Dutschke, Schilinski, Schmundt: Vier Leben für Freiheit, Demokratie und Sozialismus“. In: Rappmann, Rainer (Hrsg.) Beuys beim Wort genommen. Wangen/Allgäu: FIU-Verlag S. 21.

[10] Mathias Böttger in: Röhse, Jasmin (2010): „Zukunftsweisend“. Qvest. Köln (Qvest). S. 123.

[11] Siehe: Fußnote 4.

[12] Floyd in: Absolute Giganten (1999), DVD, Universum Film, Kapitel 17, Position 1:05:36 - 1:07:00.

[13] Schmidt, Jan C. (2009): Physik, in: Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 290f.

[14] Zumdick, Wolfgang (2002): PAN XXX ttt. Joseph Beuys als Denker : Sozialphilosophie - Erkenntnistheorie - Anthropologie, Stuttgart, Berlin: Mayer.

[15] Harald Szeemann: Joseph Beuys - die Wärmezeitmaschine, in: Beuys, Joseph; Szeemann, Harald (Hrsg.) (1993): Joseph Beuys. (26. November 1993 bis 20. Februar 1994, Kunsthaus Zürich), Zürich, S. 9.

[16] Einstein, Albert (1930): Raum, Äther und Feld in der Physik, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt M.: Suhrkamp, S. 95.

[17] Schmidt, Jan C. (2009): Physik, in: Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 290-307, S. 303.

[18] Beuys, Joseph; Jappe, Georg (Hrsg.) (1977): „Interview mit Beuys über Schlüsselerlebnisse 27.09.1976“. In: Kunst Nachrichten. Kunstkreis Luzern/Stuttgart 13 (3).

[19] vgl: Beuys, Joseph; Halpern, John (Hrsg.) (2005): Transformer. New York: The Archive Films (A 60 Minute Television Sculpture).

[20] Einstein, Albert (1930): Raum, Äther und Feld in der Physik, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt M.: Suhrkamp, S. 97ff.

[21] Einstein, Albert (1930): Raum, Äther und Feld in der Physik, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt M.: Suhrkamp, S. 100f.

[22] Doris Leutgeb in: Beuys, Joseph / Bezzola, T / Adriani, Götz (1993): Joseph Beuys. Kunsthaus Zürich, 26. November 1993 bis 20. Februar 1994, Zürich, S. 271.

[23] Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 41.

[24] Joseph Beuys in: Blume, Eugen / Nichols, Catherine (Hrsg.): Beuys. Die Revolution sind wir, [Katalog anlässlich der Ausstellung „Beuys. Die Revolution Sind Wir“ ; eine Ausstellung der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Berlin, im Rahmen der Ausstellungsreihe „Kult des Künstlers“, 3. Oktober 2008 - 25. Januar 2009] Göttingen: Steidl 2008, S. 313.

[25] Joseph Beuys in: Getlinger, Fritz, Guido De Werd, Roland Monig, and Museum Kurhaus Kleve, Fritz Getlinger : Joseph Beuys Und Die Strassenbahnhaltestelle. Kleve: Museum Kuhrhaus Kleve, 2000. S.58

[26] Harald Szeemann: Joseph Beuys - die Wärmezeitmaschine, in: Beuys, Joseph; Szeemann, Harald (Hrsg.) (1993): Joseph Beuys. (26. November 1993 bis 20. Februar 1994, Kunsthaus Zürich), S. 8.

[27] Joseph Beuys in: Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 64.

[28] Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 41–67.

[29] Joseph Beuys in: Ruttmann, Rainhardt; Zimmermann, Kurt (1964): „Das Museum der 100 Tage“. Hessischer Rundfunk (Erster Bericht von der documenta lll in Kassel, 1964).

[30] Joseph Beuys (1964) in: „Krawall in Aachen“. Kunst - Magazin für moderne Malerei, Grafik, Plastik. Heft 4, Mainz (Interview mit Joseph Beuys), S. 95- 97.

[31] Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 44.

[32] Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 64.

[33] Beuys, Joseph; Molenaers, Tom (Hrsg.) (1984): „De aktie is een uit elkaar genomen skulptuur“. 3. ed. Metropolis M (Interview met Joseph Beuys), S. 30.

[34] Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 47.

[35] Schauerhammer, Ralf (1999): „Goethes Naturforschung: Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen...“. solidaritaet.com. Wiesbaden Abgerufen am 15.11.2011 von http://www.solidaritaet.com/fusion/1999/3/goethe.htm.

[36] Goethe, Johann Wolfgang von (1836): Goethe‘s sämmtliche Werke. Paris: Tétot Frères. S 142.

[37] Schauerhammer, Ralf (1999): „Goethes Naturforschung: Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen...“. solidaritaet.com. Wiesbaden Abgerufen am 15.11.2011 von http://www.solidaritaet.com/fusion/1999/3/goethe.htm.

[38] Stüttgen, Johannes (1996): „Zeitbegriffe bei Jean Gebser und Joseph Beuys“. In: Beiträge zur Integralen Weltsicht. Schaffhausen 11, S. 61.

[39] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 46, 21.11.2010: Bionade-Eltern von Prenzlauer Berg, die Bugaboo-Fahrer vom Bötzowviertel, S.29.

[40] Peter, Sloterdijk (2004): Schäume. 6. ed. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Sphären. Plurale Sphärologie), S. 809ff.

[41] inside out (1990): „No Spiritual Surrender [Vinyl]“. Huntington Beach: Revelation.

[42] vgl: Bentham, Jeremy; Bozovic, Miran (Hrsg.) (1995): The Panopticon Writings. London: Verso.

[43] Luhmann, Niklas (1995): Soziologische Aufklärung. Opladen: Westdeutscher Verlag (Die Soziologie und der Mensch).

[44] vgl: Luhmann, Niklas (1995): Soziologische Aufklärung. Opladen: Westdeutscher Verlag (Die Soziologie und der Mensch). S. 153.

[45] Mörtenböck, Peter (2001): Die virtuelle Dimension. Wien: Boehlau (Architektur, Subjektivität und Cyberspace). S. 85.

[46] Mörtenböck, Peter (2001): Die virtuelle Dimension. Wien: Boehlau (Architektur, Subjektivität und Cyberspace). S. 84.

[47] Mörtenböck, Peter (2001): Die virtuelle Dimension. Wien: Boehlau (Architektur, Subjektivität und Cyberspace). S. 86.

[48] Krausse, Joachim (2000): „Medienarchitektur“. In: ARCH. Aachen 149/150, S. 29.

[49] Krausse, Joachim (2000): „Medienarchitektur“. In: ARCH. Aachen 149/150, S. 29.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
RaumZeitWärmePlastik - Der Begriff des Raumes bei Joseph Beuys
Hochschule
Technische Universität Berlin
Veranstaltung
Landschaftsarchitektur, Freiraumplanung
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
79
Katalognummer
V211750
ISBN (eBook)
9783656399797
ISBN (Buch)
9783656401148
Dateigröße
759 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Joseph Beuys, Niklas Luhmann, Wärmetheorie, Systemtheorie, Panopticon, Rudolf Steiner, Johannes Stüttgen, Physik, Umstülpung, Erweiterter Kunstbegriff, Soziale Plastik
Arbeit zitieren
Jérôme Kost (Autor:in), 2011, RaumZeitWärmePlastik - Der Begriff des Raumes bei Joseph Beuys, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211750

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