Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Muslimische Diaspora
2.1. Zum Begriff ‚Diaspora’
2.2. Merkmale der muslimischen Diaspora
2.3. Nicht streng religiöse Muslime
3. In Deutschland ‚außerhalb Deutschlands’ leben: Der Islam in der Fremde
3.1. Säkularismus
3.2. Das neue Heimatverständnis
4. Warum Muslime anders sind: Grundlage der muslimischen Identität
4.1. Die Frage der Bedeutung des Muslimseins ausgehend von den islamischen, spezifischen kulturellen Prinzipien
4.2. Die Frage nach einer europäischen islamischen Kultur. Euro-Islam
4.3. Das Kopftuch als Zeichen der Identität muslimischer Frauen
4.3.1. Ist das Kopftuch europäisch?
4.3.2. Das Kopftuch in der Schule
5. Zur Frage der Integration muslimischer Immigranten in Deutschland
5.1. Identitätskrise
5.1.1. Der radikale Islamismus
5.1.2. Lösungsvorschläge
6. Schlussfolgerung
Literatur:
Tabellenverzeichnis:
Tabelle 1: Häufig ausgeführte religiöse Handlungen nach Altersgruppen (in %)
Tabelle 2: Ansichten zum Islam (in %)
Tabelle 3: Zustimmung bzw. Ablehnung zu kultureller Zugehörigkeit und Marginalisierung
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: Grad der Religiosität (in %)
Abbildung 2: Religiös fundierte Gewaltbereitschaft (in %)
Abbildung 3: Verweigerung einer kollektiven Identität (in %)
1. Einführung
Der Islam ist in den letzten Jahrzehnten zur zweitgrößten Religion Europas nach dem Christentum aufgestiegen (vgl. Mohagheghi 2006: 159). Alleine in Deutschland wird die Zahl der Muslime auf ca. 1,5 bis 3,3 Millionen geschätzt. Darunter sind fast 2,1 Millionen Muslime türkischer Staatsangehörigkeit; also zwei Drittel der Gesamtzahl (vgl. Abdullah 1993: 7).
Muslimische Zuwanderer stellen heute eine bedeutende Minderheit dar. Wenn die Mehrheit sie heute immer stärker und immer besorgter wahrnimmt, hat das im Wesentlichen drei Gründe: Erstens das Coming-Out der Muslime; also die schlichte Tatsache, dass Muslime zunehmend als Muslime erkennbar, sichtbar und hörbar in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten, vom alltäglichen Kopftuch bis hin zur Forderung nach dem Bau einer Moschee. Es liegt zum Zweiten an der gegenwärtigen Renaissance des Glaubens in der islamischen Welt und damit auch in der Diaspora. Und schließlich ist es ganz besonders der radikale Islamismus, der den Bürgern säkularer Staaten Sorgen bereitet: ein politischer Islam, der nach der Macht greift, und dies womöglich mit Gewalt, wie es etwa von der Islamischen Revolution im Iran 1979 bis hin zum globalen Terror des Dschihad-Islam ist (vgl. Ammann 2006: 53).
In dieser Arbeit sollen die Grundlagen des Islam in Deutschland beschrieben werden. Besonderes Augenmerk soll hierbei auf die Identitätsfrage der Muslime in der Diaspora gerichtet werden. Persönliche Erfahrungen aus der Begegnung mit Muslimen im Geschäftsleben und im privaten Bereich, sowie die Lektüre von Fachliteratur lassen die folgenden Hypothesen der Arbeit zu: erstens: Islamische Einstellung, dass der Islam nicht in Frage gestellt werden kann, trifft zu, was wiederum bedeutet, dass es noch zu ‚früh’ ist vom Euro-Islam zu sprechen. Zweitens: Islamisch-fundamentalistische Orientierungen existieren aufgrund mangelnder Angebote der Mehrheitsgesellschaft zur Identitätsbildung der Migranten innerhalb der Gesellschaft.
Die dieser Arbeit zugrunde liegende Vorstellung der Diaspora-Situation der Muslime umfasst mehrere Aspekte. Zunächst geht um die Merkmale der muslimischen Diaspora. Dazu werden Fragen zu den religiösen Praktiken zur deren identitätssichernden Bedeutung in der alltäglichen, gemeinschaftlichen Lebensgestaltung untersucht. Im Weiteren konzentriere ich mich auf die Probleme der muslimischen Diaspora, die zu einer Identitätskrise führen. Dementsprechend sind Fragen nach dem radikalen Islamismus zu behandeln. Zum Schluss versuche ich Lösungsvorschläge zur Identitätskrise der Muslime in der Diaspora vorzustellen.
2. Muslimische Diaspora
2.1. Zum Begriff ‚Diaspora’
Hettlage (1993: 77) versucht eine Kurzdefinition der Diaspora-Situation wie folgt:
Mit Diaspora im politisch-soziologischen Sinne wird die geographische Zerstreuung von ethnischen Gruppen bezeichnet, die von ihren Zugehörigkeitsgruppen getrennt leben (müssen), als Minderheit in einer andersartigen Gesellschaft (eine wie immer geartete) Aufnahme gefunden haben und unter den Bedingungen zweier Zugehörigkeiten gravierenden Problemen der Interessenerklärung und Identitätsfindung ausgesetzt sind.
Es ist ohne weiteres erkennbar, dass eine solche Definition von Diaspora für viele gesellschaftliche Phänomene zutrifft, die üblicherweise unter anderen Stichworten erfasst werden, wie beispielsweise: Migration, Minderheits- und Ethnizitätsphänomene, Beziehungen von Zentrum und Peripherie, Majorität und Minorität; Fremdheit und Vertrautheit; Akkulturation und Assimilation, Identitätsverlust und Identitätsgewinn, Geschichtslosigkeit und Geschichtsperspektive (vgl. Hettlage 1993: 78). Um eine ‚unproduktive’ Diskussion des Diaspora-Begriffs zu vermeiden, orientiert sich Moosmüller (2002: 13) an den wichtigen Merkmalen von Diaspora, die im Folgenden am Beispiel der muslimischen Diaspora untersucht werden.
2.2. Merkmale der muslimischen Diaspora
In der heutigen Zeit werden Muslime über die ganze Welt verstreut. Sie verlassen ihr Heimatland, nicht nur wegen einer Kriegssituation, sondern auch weil sie auf der Suche nach besseren Lebenschancen sind.[1]
Die Muslime in der Diaspora sind auf Selbstorganisation angewiesen, da es eine islamische ‚Kirche’ nicht gibt, welche etwa mit der Errichtung von Moscheen und der Ausbildung von Religionslehrern für eine weltweite religiöse Struktur sorgen könnte. Es besteht die Anbindung an das Herkunftsland, an die dort praktizierte Form des Islams; sowie die damit verbundenen religiösen und organisatorischen Strukturen.
Mit der Entwicklung der Medien hat sich die Ausgangssituation für Muslime in Deutschland grundlegend verändert. So hat der Muslim die Chance, hier zu arbeiten und zu leben, und muss trotzdem keineswegs die Herausforderung empfinden, sich zu integrieren. Ein ‚Hintertürchen’, über das man aus der deutschen Gesellschaft aussteigen kann, deren christlich-abendländische Kulturgrundlagen und laizistische Verfasstheit man nicht akzeptiert, ist offen. Wenn Muslime unter Druck geraten, sich zwischen ihrem Selbstgefühl und ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Stellung ein Widerspruch auftut, oder sie sich wirtschaftlich an den Rand gedrängt fühlen, können sie durch dieses ‚Türchen’ in ihre eigene Welt entweichen. Es wird ihnen von einigen islamischen Vereinen und Medien hierzulande offen gehalten (vgl. Steinbach 1998: 133f.).
Eine Mehrheitsgesellschaft ist diejenige, die der Minderheit die Identität aufzwängt, sei es, dass sie diese durchweg als andersartig betrachtet oder dadurch, dass sie die Auflösung des kulturellen und sozialen Sonderstatus der Minderheitsgruppe verlangt. In jedem Fall haben sich die Angehörigen einer Minderheitsgesellschaft für ihre Sonderstellung, ja ganz einfach für ihr Dasein, zu rechtfertigen (vgl. Schulze 1990: 32).
Öffentliche Beleidigungen gegen muslimische Frauen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln ein Kopftuch tragen, versteckte oder offene Diskriminierung erwecken bei Muslimen das Gefühl, im Residenzland nicht wirklich akzeptiert zu sein (vgl. Köppl: 2006: 54).
2.3. Nicht streng religiöse Muslime
Hier möchte ich entgegen dem von Aktivisten geprägten Image der Muslime aufzeigen, wie groß die Unterschiede zwischen Religiosität und Wirklichkeit oft sind. Anhand einer repräsentativen Befragung des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) unter 2000 erwachsenen türkischstämmigen Migranten[2] in Deutschland vom Oktober 2000 kann auf die unterschiedlichen Facetten des religiösen Alltagslebens der türkischen Migranten, den Grad zu Religiosität und auf die religiösen Orientierungen und Organisationsstrukturen der Muslime in Deutschland geschlossen werden. Dabei stehen mögliche Differenzen zwischen den Generationen im Vordergrund der Analyse, denn diese Differenzen indizieren religiös-kulturellen Wandel (Abb. 1).
Die empirischen Daten zur Glaubenspraxis am Beispiel der religiösen Grundpflichten sind in der Tabelle 1 vorgestellt.[3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: ZfT (2004: 28)
Abbildung 1: Grad der Religiosität[4] (in %)
Tabelle 1: Häufig ausgeführte religiöse Handlungen nach Altersgruppen (in %)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: ZfT (2004: 30)
Damit scheint es, dass wir es mit der Identitätsfrage einer kleinen Minderheit zu tun haben und die der mehrheitlichen Muslime von der Diskussion ausgeschlossen sind. Wir gehen aber davon aus, dass es sich bei dieser Minderheit um die tragende Kräfte des Islam in der Diaspora handelt und ihre Rolle bei der Identitätsbildung und -findung der übrigen Muslime von entscheidender Bedeutung ist.
3. In Deutschland ‚außerhalb Deutschlands’ leben: Der Islam in der Fremde
Der Islam in der Fremde unterscheidet sich deutlich vom Islam in der Ursprungsgesellschaft. Damit ist nicht der Islam als Glaube, sondern als Lebensform gemeint. Die muslimische Diaspora sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, als Minderheit in einer nichtislamischen und zudem säkularisierten Gesellschaft leben zu müssen. Deswegen erhöht sich für Immigranten die Bedeutung der Religion. In der Fremde bietet sie auch Identitätssicherheit, Geborgenheit und Trost. Religion wird in der Fremde zum Ersatz für die Heimat und in manchen Fällen auch für die Familie. Das Festhalten an der Religion bringt Respekt und Ansehen innerhalb von konservativen Kreisen der Diaspora und bietet gleichzeitig eine Möglichkeit zur ‚symbolischen Rückkehr’ zu Sippe und Heimat (vgl. Abdel-Samad 2006: 181f.).
Allgemein lässt sich aber feststellen, dass die muslimische Diaspora tendenziell eher wertkonservativ ist. Zu beachten ist auch, dass die in der Fremde Lebenden emotional verletzbarer als die Daheimgebliebenen sind, wie schon ein arabisches Sprichwort sagt: „In einem fremden Land kann sogar der Hase dein Kind beleidigen.“
3.1. Säkularismus
Der Islam kennt keinen Säkularismus, Er ist dem Islam sogar derart fremd, dass die meisten Muslime ‚säkular’ irrtümlicherweise mit ‚atheistisch’ gleichsetzen (Twardella 2004: 155). Im Bewusstsein aller Muslime ist der Säkularisierungsdruck verbunden mit fremden Einflüssen und mit dem Verlust der Fähigkeit zur Entscheidung in eigenen Angelegenheiten. Der Muslim kann, wenn er seine Religion in ihrer spirituellen wie gesellschaftlichen Dimension wirklich ernst nimmt, seinen Glauben von der politischen Erscheinungsform seiner Gemeinde nicht trennen. Das bedeutet, dass ein Muslim die Säkularität so ohne weiteres nicht akzeptieren kann (vgl. Steinbach 2000: 130).
3.2. Das neue Heimatverständnis
Die Identität des Menschen bedeutet nicht nur, dass er sich seine Vergangenheit und Zukunft denken kann oder sich in einer sozialen Dimension verwirklicht, sondern auch, dass er sich aktiv einen Raum aneignet, den er gestaltet und einrichtet. Er macht ihn zur Heimat. Heimat ist nicht gegeben und nicht verordnet, man muss sie sich vielmehr schaffen. Dass der Mensch sich grundsätzlich eine neue Lebensumwelt schaffen kann, dürfte außer Frage stehen. Ob er aber dazu in der Lage ist, sich ein Umfeld aufzubauen, das seiner eigentlichen, seiner angestammten Heimat entspricht, ist zu bezweifeln. Es darf nicht vergessen werden, dass Heimat eine Geschichte hat, und dass man selbst gleichzeitig ein Teil dieser Geschichte ist. Heimat verlangt eine Eigenschaft – die Traditionsfähigkeit, weil eine Identität, beziehungsweise das ‚wir selbst’ ohne Geschichte inhaltslos und deshalb nicht denkbar ist. Heimat gibt Identität, indem sie die Geschichte der Identität als Tradition erzählt und bewahrt. Zerstörte Traditionen zerstören die Identität und damit die Heimatfähigkeit. Der Mensch ist also kein beliebig frei verfügbares Wesen, das man ständig von einem Ort an den anderen verpflanzen kann (vgl. Dürrmann 1994: 95-96).
Es ist wohl so, dass derjenige, der einmal seine Heimat verloren hat, nie wieder ganz heimisch werden kann und dass der Fremde nie völlig aus seiner Fremdheit entlassen wird. Er kann und muss sich in einer ‚Zwischenwelt’ einrichten. Es ist das Diaspora-Problem innerhalb der triparistischen Konstellation, diese Zwischenwelt aus der Phase der nur abgrenzenden Kategorisierung in einer Phase der relativ entspannten Neudefinition zu überführen (Hettlage 1993: 102).
Muslimische Migranten haben fast alle ihre Heimatländer wegen Arbeitslosigkeit und Armut verlassen. Ihre Zukunftsaussichten liegen entweder ausschließlich in den Händen des Gastlandes, in dem sie nichts mitentscheiden dürfen oder in den Machtbefugnissen ihrer Heimatstaaten, die sie aus der Ferne nicht mit beeinflussen können (vgl. El-Aouni 1983: 231).
[...]
[1] Seit Beginn des Islam ist das Reisen ein zentrales Element. Von Anfang an sind diasporische Elemente vorhanden: Mohammed lebt in Mekka (im Stamm der Quraisch) zu der Zeit, als er seine ersten Offenbarungen empfängt. Mit der Zeit fühlen sich die Mekkaner von ihm gestört und vertreiben ihn aus der Stadt. Er ist gezwungen zu fliehen.
[2] Der Islam in Deutschland ist stark türkisch geprägt. Rund zwei Millionen Muslime sind Türken. Deswegen finde ich die Untersuchungen mit türkischen Migranten für alle muslimische Migranten als durchaus repräsentativ.
[3] Religiöse Handlungen werden von der Mehrzahl, auch der jüngeren Muslime praktiziert, selbst wenn sie sich nicht als ausgesprochen religiös definieren. Dies zeigt, dass die Bedeutung der religiösen Riten und Gebräuche auch eine kultur-gesellschaftliche und nicht nur eine religiöse Ebene berühren. Auch die jüngere Generation wird, obwohl sie sich weniger religiös definiert, sich eng mit Deutschland verbunden fühlt und kaum mehr an eine Rückkehr denkt, an bestimmten Regeln und Handlungen als Teil der kulturellen Identität festhalten. Insbesondere das Fasten, das Spenden von Almosen, die Beteiligung am Opferfest und die Einhaltung der Speisevorschriften werden relativ unabhängig von der Eigendefinition als religiös oder nichtreligiös praktiziert. Regelmäßiges Beten, der häufige Moscheebesuch und die Absicht zur Wallfahrt sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägtere Religiosität.
[4] Die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten, die zu 93% dem Islam angehören, definiert sich selbst als religiös. Zwei Drittel sehen sich dabei als eher religiös und 3% empfinden sich als gar nicht religiös. Mit zunehmendem Alter steigt die religiöse Bindung: Die jüngeren Befragten sind weniger religiös.