Die Literarisierung des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert am Beispiel Th. Fontanes "Der Stechlin"


Bachelorarbeit, 2012

41 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Kontext
2.1 Die politischen Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich
2.2 Die Gesellschaft im Deutschen Kaiserreich

3. Der Adel im Roman
3.1 Niederadel
3.1.1 Dubslav von Stechlin
3.1.2 Domina Adelheid von Stechlin
3.1.3 Rittmeister Woldemar von Stechlin
3.1.4 Sägemühlenbesitzer Gundermann
3.2 Hochadel
3.2.1 Graf Barby
3.2.2 Gräfin Melusine Barby
3.2.3 Comtesse Armgard Barby

4. Der Adel und die Politik
4.1 Die Wahl in Rheinsberg-Wutz
4.2 Die Rolle der Sozialdemokratie
4.3 Die Thematik der Revolution

5. Fontanes Einstellungen zum Adel

6. Abschließende Betrachtung

A Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts. – Einerseits auf einem altmodischen märkischen Gut, andrerseits [sic] in einem neumodischen gräflichen Hause (Berlin) treffen sich verschiedene Personen und sprechen da Gott und die Welt durch. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, mit und in ihnen die Geschichte. Natürlich halte ich dies nicht nur für die richtige, sondern sogar die gebotene Art einen Zeitroman zu schreiben, bin mir aber gleichzeitig zu sehr bewußt, daß das große Publikum sehr anders darüber denkt und die Redaktionen (durch das Publikum erzwungen) auch.[1] (Brief an Adolf Hofmann vom Mai/Juni 1897)

Dieser Brief Fontanes an den Verleger der Zeitung Über Land und Meer, Adolf Hoffmann, bezüglich seines letzten Romans Der Stechlin macht deutlich, dass der Roman von einer gewissen Handlungsarmut geprägt ist. Interessant ist dennoch, dass Der Stechlin trotz dieser geringen Handlung keineswegs als ennuyant deklariert werden darf; die zahlreichen Dialoge, die hauptsächlich den Konflikt zwischen dem Alten und dem Neuen, der Tradition und der Moderne behandeln, verleihen dem Roman seine Einzigartigkeit und die Möglichkeit der vielseitigen Deutung. Die Thematisierung des gesellschaftlichen Lebens der Mark Brandenburg und Berlins sowie die politischen Gegebenheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert machen den Stechlin zu einem „politischen Roman“[2], der die „Gegenüberstellung von Adel, wie er […] sein sollte und wie er ist“[3] beinhaltet. Fontane erkennt die Defizite seiner Zeit und berücksichtigt diese in der literarischen Darstellung des Stechlin. Diese wirklichkeitsgetreue Präsentation, im Besonderen die Darlegung der Schwächen des Adels, ist zweifelsohne im Sinne des Realismus.[4]

Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwiefern der Adel im ausgehenden 19. Jahrhundert dargestellt wird. Unterliegt er der permanenten Kritik des Autors oder erfolgt ebenso eine Hervorhebung der Kompetenzen desselben? Ist der Stechlin ein Roman, der das Ende des Adels beschreibt und diesem faktisch im 20. Jahrhundert keine bedeutende Position mehr zuteilt? Ebenso ist von Interesse, in welcher Weise die etwaige zukünftige Rolle des Adels in der Gesellschaft und Politik im 20. Jahrhundert seitens des Autors realisiert würde. Beginnend soll der historische Kontext dargelegt werden, um anschließend die Präsentation des Adels im Roman sowie die Funktion desselben in der Politik und der Gesellschaft analysieren zu können.

2. Historischer Kontext

Die Darlegung und Beachtung des historischen Kontextes des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vornehmlich die politischen und gesellschaftlichen Strukturen im Deutschen Kaiserreich, ist für eine detaillierte Analyse des Romans Der Stechlin unbedingt notwendig. Es sei darauf hingewiesen, dass vor allem Wissen zur Stellung und Einflussnahme des Adels in der wilhelminischen Zeit für das Verständnis des Romans von großer Wichtigkeit ist.

2.1 Die politischen Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich

Das ausgehende 19. Jahrhundert ist geprägt vom Deutschen Kaiserreich, das 1871 mit der Proklamation des Königs Wilhelm I. gegründet wurde und als erste Einheit Deutschlands gesehen werden kann; als Reichskanzler fungierte Otto von Bismarck. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg, aus dem Deutschland als Sieger hervorging, kam es aufgrund von Reparationszahlungen Frankreichs zu vielzähligen Neugründungen von Firmen, Kapitalgesellschaften und Großbanken. Neben dieser raschen Genese der Wirtschaft und Industrie ist zudem ein permanenter Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu verzeichnen. In dieser Zeit entwickelte sich das Deutsche Kaiserreich von einem Agrar- zu einem Industriestaat. Mit den technischen Veränderungen gingen zusätzlich zahlreiche gesetzgebende Modifikation einher. Otto von Bismarck formierte das Deutsche Kaiserreich im „Rahmen des monarchischen Obrigkeitsstaates“[5] zu einem Sozialstaat; es folgten Eingriffe in die Wirtschaft durch Gesetze des Arbeitsschutzes und der „Sozialgesetzgebung“[6]. Im Deutschen Kaiserreich herrschten nun Presse- und Meinungsfreiheit sowie das Wahlrecht für Männer vor. Es muss jedoch angebracht werden, dass die Macht allein bei der Krone und der Regierung lag, sodass auch die Mehrheit im Reichstag keine eigene Politik durchsetzen konnte. Außer diesen Fortentwicklungen der Gesetzgebung muss man gleichermaßen negative Aspekte des Regierens Ottos von Bismarck konstatieren. Es kam seitens der Regierung zu Konflikten mit den liberalen Parteien, den Sozialdemokraten und Juden sowie mit der katholischen Kirche. Infolgedessen verabschiedete man 1878 das Sozialistengesetz[7], das sozialistisches Gedankengut verbot. Trotz dieses Verbotes wählten immer mehr Arbeiter sozialistisch, sodass die Stimmenzahl von 437.000 (Reichstagswahl 1878) auf 1.427.000 (Reichstagswahl 1890) anstieg.[8]

Im Jahre 1890 wurde Bismarck von Kaiser Wilhelm II. entlassen, es folgte die wilhelminische Ära. Die nun folgende Politik war geprägt von Selbstdarstellung und Größenwahn des Kaisers sowie einer Militarisierung der Gesellschaft und des alltäglichen Lebens. Das Ziel Wilhelms II. war es, Rückhalt für das monarchische System in der Bevölkerung zu erlangen, was aber nur partiell gelang. Abgesehen von dieser Entwicklung ist die „Umsturzvorlage“ im Jahr 1894 von immenser Bedeutung. Dieses Gesetz sollte als Verschärfung des Straf- und Presserechts fungieren, primär jedoch der sich weiter stark entwickelnde Sozialdemokratie entgegenwirken. Das Gesetz wurde allerdings vom Reichstag als inakzeptabel abgelehnt.[9] Weiterhin sei an dieser Stelle der sich entwickelnde preußisch-deutsche Nationalismus erwähnt, der als Identifikationssymbol für die Gesellschaft dienen sollte. Die Außenpolitik Kaiser Wilhelms II. kann durch Aufrüstung und eine ausgeprägte Kolonialpolitik beschrieben werden.[10]

2.2 Die Gesellschaft im Deutschen Kaiserreich

Die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches unterlag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreichen Einflüssen und Entwicklungen. Infolge der fortschreitenden Industrialisierung kam es zur Herausbildung des vierten Standes, dem hauptsächlich Fabrikarbeiter und einfache Leute angehörten. Zusätzlich zum vierten Stand entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung das Bürgertum weiter, wobei es dabei einer Differenzierung zwischen dem Bildungs- und Besitzbürgertum bedarf. Das Besitzbürgertum nahm zahlenmäßig durch die hohen Reparationszahlungen Frankreichs und der daraus folgenden Entstehung von Fabriken in den Gründerjahren rasant zu, allerdings besaß dieses weder Tradition noch historische Vergangenheit. Das Besitzbürgertum war stark monetär orientiert und versuchte, den Adel bezüglich der Verhaltensformen und Einstellungen zu imitieren.[11] Das Bildungsbürgertum bestand vorwiegend aus Professoren, Doktoren und Lehrern. Es gilt zu erwähnen, dass das Bildungsbürgertum häufig der Kritik unterlag, da politische Machtlosigkeit und Lethargie dessen weitreichende Merkmale waren. Das Bildungsbürgertum hätte zweifelsohne die Möglichkeit gehabt, zahlreiche Dinge im sozialen und politischen Bereich zu transformieren, aber es gelang aufgrund des geringen Einsatzes nicht.[12]

Die Funktion und Stellung des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert unterlag einem starken Wandel; konnte dieser zu Beginn desselben seine sozialen und gesellschaftlichen Privilegien behaupten, kam es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu prägnanten Änderungen. Repräsentierte der Adel im Deutschen Reich hauptsächlich mittels des Militärs und der Politik, verlor er seine politische Vormachtstellung[13] zugunsten des Bürgertums und konnte sich auch wirtschaftlich nicht den Tendenzen der Zukunft anpassen.[14] Wenn vom Adel gesprochen wird, muss hinsichtlich „historisch-geographischen, soziologischen und historischen Merkmalen“[15] differenziert werden. Vorzugsweise findet eine Einteilung in Hochadel und Niederadel statt. Die Anzahl der zum Hochadel gehörenden Personen nahm im 19. Jahrhundert stark ab, der niedere Adel dahingegen hatte nicht mit einem immensen zahlenmäßigen Schwund zu kämpfen. Der Niederadel hatte aber, im Vergleich zum Hochadel, häufig finanzielle Probleme, sodass teilweise sogar von einer „Verarmung des Adels“[16] gesprochen werden kann. Im Zuge der Industrialisierung entstand aufgrund des zunehmenden Reichtums und den zahlreichen Nobilitierungen der Neuadel. Der „Neuadel aus Industriekreisen“[17] weist nicht nur ein beachtliches Vermögen auf, vielmehr nimmt überdies sein politisches Interesse im ausgehenden 19. Jahrhundert spürbar zu. Diese finanzielle Unabhängigkeit und Absicherung hebt ihn deutlich vom niederen Adel ab, der infolge der monetären Probleme an Bedeutung verliert.[18]

3. Der Adel im Roman

Im Roman Der Stechlin wird der Adel im 19. Jahrhundert anhand von zahlreichen Charakteren figuriert. Die Einteilung des Adels in den Hoch- und Niederadel erweist sich für die Adelsdarstellung im Roman als sinnvoll.

3.1 Niederadel

Der niedere Adel ist im Stechlin durch das Adelsgeschlecht der Stechlins, den Sägemühlenbesitzer Gundermann sowie die den Regierungsadel charakterisierenden Ministerialassesssor Rex[19] und Hauptmann Czako[20] dargestellt. Es sei jedoch gesagt, dass im Folgenden, aufgrund der differenzierten Wichtigkeit der Protagonisten und Antagonisten, lediglich Analyse der Familie der Stechlins sowie des Sägemühlenbesitzers Gundermann erfolgt.

3.1.1 Dubslav von Stechlin

Der Ritterschaftsrat Dubslav von Stechlin ist der Protagonist des Romans Der Stechlin; er ist der „Typus eines Märkischen von Adel“ (8)[21], obwohl er einen „pommerschen Namen“ (9) trägt. Über diese Namensgebung äußert Dubslav seinen Unmut, denn „Was ein Märkischer ist, der muß Joachim heißen oder Woldemar“ (10). Es wird ersichtlich, dass die Hervorhebung der märkischen Abstammung für Dubslav von großer Relevanz ist. Trotz seiner Zugehörigkeit zum Adel besitzt er „manche Eigenschaften, die dem landläufigen Bild des preußischen Adeligen auf den ersten Blick zu widersprechen scheint“[22]. Dubslav von Stechlin war „von jung an lieber im Sattel als bei den Büchern“ (8), sodass ein typisch adeliges Desinteresse an der Bildung diagnostiziert werden kann. Überdies kann er „eigentlich Fremdwörter nicht leiden“ (73). Für Dubslav ist Bildung „fester Besitz, nicht lebenslanger Prozess“ (16). Er gibt klar zu verstehen, dass man sich Bildung einmal im Leben anzueignen habe und diese dann lebenslang besitze. Dies spiegelt Dubslavs Auffassung der Gesellschaft wider; wird man als Adeliger geboren, bleibt man zeitlebens in diesem Stand der Gesellschaft und kann dessen Vorteile nutzen. Das geringe Interesse an der Bildung korreliert mit der Einstellung des Adels gegenüber der Bildung. Dieser war nicht dazu geneigt, sich ein erhöhtes Bildungsniveau anzueignen, was aufgrund der gesellschaftlichen Stellung auch zu keiner Zeit vonnöten war.[23]

Die Beschreibung der Residenz des alten Stechlin drückt den Zustand des ostelbischen Junkertums aus, dessen Existenz im ausgehenden 19. Jahrhundert spürbar infrage gestellt wird. An dem Schloss gibt es zahlreiche „schadhafte Stellen“ (14); man kann sogar sagen, dass der Zustand des alten Schlosses katastrophal ist. Die Inneneinrichtung ist veraltet, sodass die „Rokoko-Uhr“ (19) symbolisch für die Verdrängung des Adels beziehungsweise des Alten gesehen werden kann. Die Verwendung von Gegenständen des Rokoko kann des Weiteren als Rückbesinnung in die friderizianische Zeit Preußens betrachtet werden. Erwähnenswert ist jedoch, dass sich Dubslav mit der Residenz in einem derartigen Gebäude gegen das Repräsentationsbedürfnis der damaligen Zeit wendet. Ihn zeichnet eine gewisse Bescheidenheit aus, die sonst nicht zu den Attributen des Adels gehörte.

Einzugehen sei an dieser Stelle noch auf den Familienstand Dubslavs. Nach kurzer Ehe verstarb seine Frau, woraufhin er einer erneuten Vermählung kritisch gegenüberstand. Der in jener Zeit übliche Akt der Wiederverheiratung aus wirtschaftlichen Gründen war für Dubslav keine Option.[24] Deshalb ist Dubslav ein sehr vereinsamter Mensch; mit den benachbarten Junkern gelingen keine Freundschaften, „denn der alte Dubslav war nicht sehr für Freundschaften“ (218) und „war immer froh, wenn sich ihm Gelegenheit bot, sich mal auszuplaudern“ (266).

Dubslavs politische Gesinnung kann als konservativ konstatiert werden. Er liest die „Kreuzzeitung“ (399) und lässt sich außerdem von „den Konservativen“ (24) bei der Reichstagsersatzwahl als Wahlkandidat aufstellen. Diese wollen Dubslav „haben und keinen andern“ (24). Auffallend ist, dass Dubslav nicht aus eigener Antriebskraft als Kandidat antritt; vielmehr bedarf es einiger Überzeugungsarbeit der Partei. Vermutlich tritt er als Kandidat an, um dem beschaulichen und ruhigen Leben des Schlosses Stechlin temporär zu entfliehen. Neben dieser konservativen Einstellung lässt sich indes eine liberale Haltung Dubslavs feststellen. Dubslav lacht „über nichts so sehr wie über Liberalismus“ (136) und doch gebe es keinen, „der innerlich so frei wäre“ (136) wie er. Zudem höre er „gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser“ (8). Seiner preußischen Gesinnung widerstrebt es, das Liberale offenzulegen. Zusätzlich kann dargelegt werden, dass Dubslav gegen die Sozialdemokratie ist. Dies scheint nicht zuletzt wegen der politischen Rivalität sowie der aufstrebenden Mitglieder sozialdemokratischer Parteien begründet. Infolge der preußischen Gesinnung ist bei Dubslav auch eine Sympathie für Russland und dessen Zaren festzustellen.[25] Er differenziert in seiner preußischen Gesinnung jedoch deutlich zwischen Defiziten und Kompetenzen Preußens. Es wird im Laufe des Romans schnell erkenntlich, dass Dubslav eine Begeisterung für Friedrich II. hegt. Ähnlich klingt seine Begeisterung für den gesellschaftlichen Umgang im 18. Jahrhundert, da die Menschen seiner Zeit „jetzt so schrecklich unpoliert und geradezu unmanierlich“ (211) seien. Er zieht es vor, aufgrund des Umgangs der Menschen untereinander, an den „Verbindlichkeiten des achtzehnten Jahrhunderts festzuhalten“[26]. Das Insistieren und Zurückdenken an vergangene Zeiten ist bezeichnend für Dubslav. Seinerseits erfahren die Befreiungskriege des Jahres 1813 große Huldigung und Ehre. Er gibt zu verstehen, dass diese Zeit „Größer als die jetzt große“ (51) sei. Durch diese Rückbesinnung wird die konservative Einstellung Dubslavs abermals verdeutlicht. Weiterhin ist sein Verhältnis zum Militär von großer Signifikanz; er steht seiner militärischen Vergangenheit durchaus ironisch gegenüber.[27] Diese Auffassung verstärkt die Sympathie seinerseits für Friedrich II. erneut.

Dubslavs Standpunkt zur Politik und dessen Ausführung wird in seiner Niederlage bei der Reichstagsersatzwahl erneut veranschaulicht. Es wird ersichtlich, dass Dubslav kein Politiker ist und damit kennzeichnend für den Adel steht. Er erfüllt das Profil eines Politikers keineswegs und nimmt die Wahl nicht in dem Maße ernst, als dass ein Sieg abzusehen wäre.[28] Die politischen und gesellschaftlichen Obliegenheiten im 19. Jahrhundert wurden durch den Adel unzureichend erfüllt; folglich verlor der Adel an Zukunftsbedeutung. Zu dieser wachsenden politischen Bedeutungslosigkeit des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert fügten sich ökonomische Probleme desselben an. Angesichts der Agrarkrise in den 1890er Jahren kam es zu Konjunktur- und Preisschwankungen in der Landwirtschaft, denen die Landjunker nicht adäquat gewachsen waren. Zudem gab es Probleme bei der Umstellung der landwirtschaftlichen Produktions- und Arbeitsweisen, was schließlich die Existenz des ostelbischen Adels bedrohte.[29] Aber nicht ausschließlich der Druck des Weltagrarmarktes war bedrohlich, auch die zunehmende Bedeutungslosigkeit des primären Wirtschaftssektors[30] zugunsten des sekundären Wirtschaftssektors war von Bedeutung. Dass sich aus diesen Problemen der Produktion ferner monetäre ergaben, macht die finanzielle Situation Dubslavs deutlich (11); er kann als ökonomisch schlecht agierender Adeliger gesehen werden, wodurch die monetäre Situation des Adels im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dargelegt wird.[31]

Abschließend sei an dieser Stelle Dubslavs Ableben am Ende des Romans gedeutet. Er stirbt, ähnlich wie Friedrich II., an der Wassersucht, die ihn schon über einen langen Zeitraum belastete.[32] Nach Heiko Strech sei der Tod Dubslavs nicht „der Untergang der Adelswelt, sondern der Übergang in eine neue“[33] Form. Diese Modifikation des Adels wird in den Charakteren seines Sohnes Woldemar und dessen späterer Gemahlin Armgard sichtbar.

3.1.2 Domina Adelheid von Stechlin

Adelheid von Stechlin verkörpert im Roman, wie ihr Bruder Dubslav, das ostelbische Junkertum, jedoch sind in ihr keine liberalen Züge zu erkennen. In ihrer Funktion als Stiftsdame im Kloster Wutz nimmt sie die kennzeichnende Rolle nichtverheirateter Adelstöchter im 19. Jahrhundert ein. Signifikant ist darüber hinaus die Wahl eines religiösen Berufes, da den Adeligen etwaige bürgerliche Berufe weitestgehend verschlossen blieben.[34] Adelheids Zugehörigkeit zum orthodoxen Luthertum lässt sie auch eine Antipathie gegenüber der römisch-katholischen Kirche repräsentieren. Das Wort „beichten“ (96) habe für sie einen „katholischen Beigeschmack“ (96), sodass Woldemar ihr doch besser „Erzählen“ (95) solle. Ferner verdeutlicht sie, dass ihr „ein fester Protestant […] jedes Mal eine Herzstärkung“ (96) sei, was nicht zuletzt aufgrund des wachsenden Katholizismus ihrerseits begründet scheint. Außerdem steht fest, dass sich in Adelheid die Angst der herrschenden Schicht vor einer erneuten bürgerlichen Revolution widerspiegelt. Sie stellt das Alte und Konservative wie keine andere Person im Roman dar.[35] Dies wird bereits bei der Beschreibung ihres Klosters deutlich: „Das meiste, was sie sahen, waren wirr durcheinander geworfene, von Baum und Strauch überwachsene Trümmermassen“ (91). Diese Schilderung des Klosters veranschaulicht, dass der Adel, wie Adelheid ihn figuriert, keine Zukunftsperspektive mehr hat beziehungsweise ein erneuter Aufbau desselben nicht erstrebenswert erscheint. Zusätzlich „passt [Adelheid] nicht mehr in die Zeit, in der sie lebt“[36], sodass ihre Angst vor einem „gesellschaftlichen Funktionsverlust des Adels“[37] berechtigt ist. Überdies wird veranschaulicht, dass der Adel durch den Erhalt dieser „Trümmermassen“ (91) im Kloster Wutz an der Wahrung des Zustandes stark interessiert und fokussiert ist. Das Interesse besteht vorwiegend am Erhalt der Rangordnung und den Privilegien in der Gesellschaft sowie der gesellschaftlichen und politischen Funktion des Adels.

Die erzkonservative Gesinnung Adelheids wird in dem Insistieren auf ihre Abstammung ersichtlich. Sie führt an, dass sie „eine Märkische von Adel“ (417) sei und ihre „Mutter […] eine Radegast“ (417) gewesen sei. Diesen „Standesstolz“[38], lediglich auf den „märkischen und pommerschen Adel“[39] bezogen, nutzt sie auch zur Beeinflussung Woldemars bei der Wahl seiner zukünftigen Gemahlin (188-190). In ihrer ausgiebigen Darstellung der verschiedenen Adelsgeschlechter selektiert sie nach Bedeutung und Rang, aber allein der „Adel […] in unserer Mark“ (188) sei der Richtige. Diese „Aufzählung spiegelt die Friktionen des deutschen Adels im 19. Jahrhundert“[40] wider. Ihre an Woldemar gerichtete Bitte, „Heirate heimisch und heirate lutherisch“ (191), klingt wie das Betteln einer Frau, die um ihre nicht zukunftsfähige gesellschaftliche Stellung weiß und nun die einzig bestehende Möglichkeit des Familienerhaltes zu greifen versucht.

Die Weltfremdheit Adelheids wird zudem in ihrem Urteil bezüglich technischer Innovationen, beispielsweise zu neuen Verkehrsmitteln, erkenntlich. Adelheid ist nur mit den Pferdebahnen in Berlin vertraut, jedoch nicht mit den elektrifizierten Strecken der Straßenbahn.[41] Weiterhin äußert sie sich negativ gegenüber dem Fahrrad, das „jetzt überall Mode“ (93) sei. Des Weiteren bereitet ihr die Aussprache desselben Schwierigkeiten, sodass das unzureichende Bildungsniveau Adelheids dargelegt wird. Darüber hinaus entgegnet sie in einem Gespräch mit Dubslav, der sie als „petrefakt“ (336) bezeichnet, dass sie dieses Wort nicht kenne (336). Nicht nur Fremdwörter der klassischen Philologie bereiten ihr Probleme des Verständnisses und der Pronunziation, es lassen sich außerdem Defizite des „Französischen“ (116) und „Englische[n]“ (116) feststellen. Die Mängel der englischen Sprache gehen einher mit der Antipathie und Geringschätzung Englands. Sie gibt zu verstehen, dass ihr „dieses Volk [was] rundum von Wasser umgeben ist“ (302) keineswegs zusage, nicht zuletzt wegen des nicht vorhandenen „Einwohner-Meldeamt[es]“[42] (302). Zudem gerät die englische Küche in Adelheids Kritik: „Und wie sie kochen und braten! Alles noch fast blutig, besonders da, was wir hier ‚englische Beefsteaks‘ nennen“ (302). Es lässt sich aus dieser umfangreichen Kritik Adelheids nicht nur ihre Weltfremdheit und Geringschätzung des Fremden konstatieren, sondern auch ihre Unsicherheit gegenüber allem Unbekannten und Neuen. Aus dieser Unsicherheit entsteht folglich wiederum die Furcht vor dem Eindringen desselben in die Gesellschaft und dem damit einhergehenden Verfall und Funktionsverlust des Adels. Das Neue lehnt sie restriktiv ab und sieht dies als „Traditionsbruch und Auflehnung gegen die gottgewollte Ordnung“[43]. Dass Adelheid der Transformation des Deutschen Kaiserreiches von einem Agrarstaat in einen Industriestaat ebenfalls kritisch gegenübersteht, wird in ihrer Vorliebe für den „Gemüsebau“ (305) sichtbar; jene Form der Landwirtschaft bereitet der Domina große Freude. Die Feldwirtschaft steht an dieser Stelle für das Alte in der Grafschaft Ruppin. Diese sollte allerdings im Kontrast zur Globsower Glasindustrie betrachtet werden, um ein exhaustives Bild des Alten und Neuen innerhalb der dargelegten Grafschaft Ruppin zu erhalten.

[...]


[1] Theodor Fontane: Briefe in zwei Bänden, hrsg. von Gotthard Erler. Berlin und Weimar: 1968, S. 389.

[2] Theodor Fontane: Briefe. Vierter Band, hrsg. von Otto Drude und Helmut Nürnberger. Darmstadt: 1982, S. 562.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Claudio Mende: „Realismus. 1848 bis 1890“, http://www.literaturwelt.com/epochen/real.html (08.09.2012).

[5] Christoph Butterwege: Krise und Zukunft des Sozialstaates. Wiesbaden: 2011, S. 41.

[6] Ebd., S. 42.

[7] Nach der Entlassung Bismarcks wurde das Sozialistengesetz am 30. September seitens Kaiser Wilhelm II. nicht verlängert. Mit der nicht getätigten Verlängerung des Gesetzes geht die Neugründung der verbotenen Sozialistischen Partei Deutschlands (SAP) zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) einher. (Vgl. Hans-Peter Ullmann: Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918. München: 2005, S. 26)

[8] Vgl. Hans-Peter Ullmann: Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918. München: 2005, S. 26.

[9] Vgl. Ebd., S. 34.

[10] Vgl. Jürgen Osterhammel: „1880 bis 1914“, in: Information zur politischen Bildung (2012) 2, S. 58.

[11] Vgl. Ulrike Haß: Theodor Fontane. Bürgerlicher Realismus am Beispiel seiner Berliner Gesellschaftsromane. Bonn: 1979, S. 31.

[12] Vgl. Christian Grawe: Fontane Handbuch. Stuttgart: 2000, S. 623.

[13] Der Adel vertrat vorwiegend den Konservatismus, musste jedoch aufgrund der zunehmenden Präsenz des Liberalismus und der Sozialdemokratie zahlreiche Stimmverluste hinnehmen. ( Vgl. Heinz Reif: Adel im 19.und 20. Jahrhundert. München: 1999, S. 102)

[14] Vgl. Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München: 1999, S. 99f.

[15] Eda Sagarra: Theodor Fontane: ‚Der Stechlin‘. München: 1986, S. 19f.

[16] Thilo Nowack: „Adel im 19. und 20. Jahrhundert“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=49 (06.09.2012).

[17] Sagarra, ‚Der Stechlin‘ 1986, S. 23.

[18] Vgl. ebd., S. 25.

[19] Für eine detaillierte Analyse und Deutung Rex‘ und Czakos siehe Sagarra 1986, S. 22-26.

[20] Für weiterführende Informationen zu Czako siehe Wolpert 2007.

[21] Im Folgenden wird zitiert nach: Theodor Fontane, Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe, hrsg. von Klaus-Peter Möller, GBA 17. Berlin: 2011.

[22] Monika Wienfort: „Fontane und der Adel. Beobachtungen zum ‚Stechlin‘“, in: Fontane-Blätter (2003) 76, S. 126-133, hier S. 128.

[23] Vgl. Rolf Zuberbühler: Theodor Fontanes „Stechlin“. Fontanes politischer Altersroman im Lichte der „Vossischen Zeitung“ und weiterer zeitgenössischer Publizistik. Berlin: 2012, S. 441f.

[24] Vgl. Wienfort, Fontane und der Adel 2003, S. 128.

[25] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 365-367.

[26] Ebd., S. 346.

[27] Vgl. Sagarra, ‚ Der Stechlin ‘ 1986, S. 24.

[28] Vgl. Hans Dieter Zimmermann: „Was der Erzähler verschweigt. Zur politischen Konzeption von ‚Der Stechlin‘“, in: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen. Würzburg 2000, S. 129-141, hier S. 133.

[29] Vgl. Magnus Schlette: „Fontanes Adelstypologie im ‚Stechlin‘. Eine Untersuchung ihres sozialgeschichtlichen Gehalts“, in: Literatur für Leser (1999) 3, S. 127-143, hier S. 130.

[30] Die Einteilung der Wirtschaftssektoren erfolgt nach dem Prinzip der Tätigkeiten. Der Wirtschaftssektor I (primärer Sektor) umfasst die Land-, Forstwirtschaft und die Fischerei; der sekundäre Sektor beinhaltet das produzierende Gewerbe und der tertiäre Sektor den Bereich der Dienstleistungen. (Vgl. Elmar Kulke: Wirtschaftsgeographie. Paderborn: 2006, S. 27.)

[31] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 12-15.

[32] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 380f.

[33] Heiko Strech: Theodor Fontane: Die Synthese von Alt und Neu. „Der Stechlin“ als Summe des Gesamtwerks. Berlin 1970, S. 59.

[34] Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert 1999, S. 27-30.

[35] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 59.

[36] Schlette, Adelstypologie im ‚Stechlin‘ 1999, S. 134.

[37] Ebd.

[38] Wienfort, Fontane und der Adel 2003, S. 129.

[39] Ebd.

[40] Ebd.

[41] Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 140f.

[42] In der preußischen Verwaltung galt ein streng geordnetes Aktensystem, sodass etwas, was nicht in den Akten stand, nicht existierte. Dass dies nun in England in dieser Form nicht existierte und somit der Kritik Adelheids unterliegt, verdeutlicht nochmals ihre preußische Gesinnung. (Vgl. Zuberbühler, Fontanes „Stechlin“ 2012, S. 83)

[43] Schlette, Adelstypologie im ‚Stechlin‘ 1999, S. 134.

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Details

Titel
Die Literarisierung des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert am Beispiel Th. Fontanes "Der Stechlin"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
41
Katalognummer
V211904
ISBN (eBook)
9783656405313
ISBN (Buch)
9783656406174
Dateigröße
601 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fontane, Adel, Theodor, Dubslav, Adelheid, Woldemar, Melusine, 19. Jahrhundert, Gesellschaft, Besitzbürgertum, Bildungsbürgertum, Hochadel, Niederadel
Arbeit zitieren
Johannes Mücke (Autor:in), 2012, Die Literarisierung des Adels im ausgehenden 19. Jahrhundert am Beispiel Th. Fontanes "Der Stechlin", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211904

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