Leseprobe
Gliederung
Vorwort
EINLEITUNG
Teil A: Klärung einiger terminologischer Vorfragen
1. Mögliche Missverständnisse in der Terminologie
2. Verschiedene Bedeutungen von „teleologisch“
Teil B: Diskussion der wichtigsten Einwände gegen eine teleologische Ethik
1. Zur Frage der Beweislast in ethischer Argumentation
2. Fünf Einwände Spaemanns gegen eine teleologische Ethik
2.1. Vorwurf der Inkohärenz
2.2. Vorwurf der Undurchführbarkeit
2.3. Vorwurf der Reduktion in Technizismus
2.4. Vorwurf der Unvollständigkeit
2.5. Vorwurf der gleichzeitigen Unter- und Überforderung
3. Die Berufung auf den Regelutilitarismus
4. Die Ausdruckshandlung im Rahmen einer teleologischen Ethik
5. Das Problem des Unterschiedes von Handeln und Unterlassen
Literaturverzeichnis
Vorwort
Diese Arbeit geht auf ein Referat zurück, das ich im Rahmen des Seminars „Einführung in die Moraltheologie: Ethische Normierungstheorien“ im WS 1984/85 gehalten habe.
Sie orientiert sich in der Hauptsache an einigen Aufsätzen R. Spaemanns zur Utilitarismus-Diskussion. Gelegentlich sind einzelne eigene Überlegungen eingestreut, auch solche, die ich im Referat nicht angestellt habe. Ich möchte damit meinem Verständnis der Thesen Spaemanns einen deutlicheren Ausdruck verleihen und glaube, dass ich mich damit nicht vom Standpunkt Spaemanns entferne.
Leider ist dies Arbeit etwas zu umfangreich geraten; bei aller Bemühung um Straffung und Präzisierung konnte ich die große Stofffülle nicht auf engerem Raum zur Darstellung bringen, ohne die notwenige Wissenschaftlichkeit vermissen zu lassen.
Die Knappheit mancher Ausführungen und das weitgehende Fehlen von erläuternden Beispielen tragen leider nicht gerade zur Verständlichkeit bei. Ich hoffe aber dennoch, einen einigermaßen annehmbaren Kompromiss gefunden zu haben.
EINLEITUNG:
Die Fragestellung dieser Arbeit ist, was die Formulierung betrifft, verhältnismäßig neu in der ethischen Diskussion, da die Begriffe „teleologisch“ und „deontologisch“ erst seit einigen Jahren im Sprachgebrauch etabliert sind.
Das sachliche Problem hingegen ist eigentlich schon immer bekannt, wenn auch wohl vorher nie so recht ans Licht des Bewußtseins gehoben worden. Es geht um die Frage, ob die ethische Beurteilung von Handlungen sich allein an deren Folgen zu orientieren hat oder nicht. Ist zum Beispiel eine Falschaussage nur dann eine Lüge (d.h. ungerechtfertigt), wenn ihre Folge der Täuschung die einzig ethisch relevante ist, nicht aber, wenn eine ihrer Folgen z.B. die Verhinderung eines großen Ärgernisses oder gar die Rettung eines Menschenlebens ist?
Ethische Theorien sind so etwas wie die wissenschaftliche Rekonstruktion des sittlichen Bewußtseins (vgl. B, 1).
Zur Präzisierung der Fragestellung trägt die sinnvolle Einteilung ethischer Theorien in Klassen bei. Eine solche Klasseneinteilung nimmt die Zuweisung ethischer Theorien zum deontologischen oder teleologischen Typus vor: aufgrund stipulativer Definition gewinnt man so ein kontradiktorisches Gegensatzpaar, so dass „deontologisch“ nichts anderes heißt als „nicht-teleologisch“ (vgl. unten Anm. 2).
Eine Kritik teleologischer Ethik ist somit zugleich eine prima-facie-Begründung deontologischer Ethik. Gleichwohl kann es sein, dass beide Typen normativer Ethik ihre Schwierigkeiten haben, die bisher noch nicht gelöst sind. Es soll darum in dieser Arbeit nicht die doppelte Aufgabe der Kritik der Teleologie und positiven Rechtfertigung der Deontologie geleistet werden. Obwohl definitionsgemäß nur eine der beiden Spielarten normativer Ethik richtig sein kann – sofern man überhaupt davon ausgeht, dass ethische Sätze wahrheitsfähig sind –, muss doch davon abgesehen werden, ein endgültiges Urteil über wahr und falsch zu fällen, solange man noch sinnvoll annehmen kann, gewisse Schwierigkeiten ließen sich mit der Zeit noch lösen.
Der Blick wird hier also ganz auf die Schwierigkeiten teleologischer Ethik gelenkt. Dabei wird sich herausstellen, dass die nominal definitorische Festlegung der Bedeutung von „teleologisch“ ihre Schwierigkeiten hat. Es ist darum die (vorsichtige) These dieser Arbeit, dass Unklarheiten über den Begriff von „Teleologie“ ihre Abgrenzung von Deontologie zum Teil verwischen (A,2; B,4). Aber auch diese Frage kann nicht vollständig erörtert werden; insbesondere das Problem einer folgen-unabhängigen sittlichen Bewertung von Handlungen (in der sog. „harten“ Deontologie) kann nur andeutungsweise aufgegriffen werden. Wenn unter einer solchen Bewertung die Erhebung einer Sollensforderung ohne Fundierung in einem vorausliegenden Wert verstanden wird, scheint sie fehlschlüssig zu sein; aber diese Frage muss – wie gesagt – offenbleiben.
Die Gliederung dieser Arbeit versucht eine Systematisierung der verschiedenen Aspekte des Fragenkomplexes.
Im Teil A werden wichtige terminologische Vorfragen verhandelt, welche teilweise (A, 2) für den zweiten Teil B von wegweisender Bedeutung sind.
Der weitaus umfangreichere Teil B ist streng an der Sache orientiert und folgt im wesentlichen den Ausführungen R. Spaemanns.
Zuerst (B, 1) soll die Frage geklärt werden, wer die Beweislast in ethischer Argumentation trägt.
Dann (B, 2) folgen einzelne Argumente, die Spaemann gegen eine teleologische Ethik vorbringt.
Die Gegenargumente, soweit sie sich auf den Regelutilitarismus berufen, werden anschließend (B, 3) nachgetragen.
Ein eigenes Problem stellt die Bedeutung der Ausdruckshandlung dar; dieser Frage gilt der umfangreiche Abschnitt B, 4. Schließlich wird noch das Problem kurz angeschnitten, wie der Unterschied von Tun und Unterlassen in einer ethischen Theorie begründet werden kann (B, 5).
Ein eigener Schlussteil (C) war noch geplant, um die Argumente zusammenzufassen und kritisch zu würdigen. Aus Raumgründen ist er ganz weggefallen, was aber wohl insofern kein allzu bedauerlicher Mangel ist, als der Verfasser sich bemüht hat, schon in den einzelnen Abschnitten Für und Wider unparteiisch abzuwägen, wie es ja sowohl teleologische wie auch deontologische Ethik zur Pflicht machen.
Am Schluss ist die benutzte Literatur, alphabethisch geordnet, aufgeführt.
In den Anmerkungen werden die Quellen nur einmal ausführlich nachgewiesen; im Folgenden werden dann nur der Verfassername und gegebenenfalls ein Kurztitel angegeben.
Teil A: Klärung einiger terminologischer Vorfragen
1. Mögliche Missverständnisse in der Terminologie
Bevor man sich um die schwierige Frage nach der Rechtfertigung oder Zurückweisung einer Theorie bemüht, ist es erforderlich, diese in ihrem Sinngehalt genau zu erfassen. Je weniger nun diese Theorie mittels alltagssprachlicher Wendungen ausdrückbar ist, um so größer wird die Gefahr eines rein sprachlichen Missverständnisses.
Es sei hier der Kürze halber nur auf drei Quellen sprachlicher Missverständnisse im Rahmen des Streits um Teleologie oder Deontologie aufmerksam gemacht.
(1) Man könnte sich versucht fühlen, die Bedeutung der Ausdrücke „Teleologie“ und „Deontologie“ aus ihrer Etymologie zu erschließen, also aus den griechischen Wörtern to! de1on (Pflicht) bzw. to! te1loß (Ziel).
Aber diese durchaus zutreffende Ableitung[1] besagt noch nichts über den genauen Sinn der beiden (Fach)Ausdrücke; sie kann sogar in die Irre führen, insofern sie ein ausreichendes Verständnis des Gemeinten suggeriert, welches indes erst durch Kenntnis der nominalen Definition möglich ist.[2]
(2) Ein damit zusammenhängendes Missverständnis entsteht, wenn man nicht berücksichtigt, dass Wörter je nach Kontext eine verschiedene Bedeutung haben können, so vor allem auch, wenn – wie in diesem Fall – zwei Wörter, die sonst auch isoliert gebraucht werden, zu einem Paar verbunden werden.
Gemäß der (rein künstlich geschaffenen) nominaldefinitorischen Klasseneinteilung normativer Ethik in teleologische und deontologische Spielarten[3] besitzt das Begriffspaar „teleologisch/deontologisch“ nur noch eine klassen-zuweisende Bedeutung, hat aber nicht mehr unmittelbar etwas mit der den isolierten Wörtern ursprünglich anhaftenden Bedeutung zu tun.
(3) Ein sehr verbreitetes Missverständnis schließlich ergibt sich aus der Äquivozität mancher Wörter. So ist Utilitarismus einmal Synonym für teleologische Ethik, andererseits eine Bezeichnung für den Standpunkt reiner Zweckmäßigkeit, womit deutlich eine negative Wertung impliziert ist, nämlich die Gleichsetzung mit dem „Machiavellismus“, d.h. der Einstellung, dass der Zweck auch das (sittlich) schlechte Mittel heilige.
Die Konfusion beider Bedeutungen von Utilitarismus führt dann dazu, dass man die Synonyme für Utilitarismus (im ersten Sinne), also etwa „teleologische Ethik“, „Konsequentialismus“, „Güterabwägungsmoral“ usw. als Synonyme von Utilitarismus im zweiten Sinn nimmt und so von vornherein die gemeinte Sache missversteht. Dann erscheint allein eine deontologische Ethik als vertretbar, ohne dass man merkt, einem sprachlichen Missverständnis unterlegen zu sein.[4]
2. Verschiedene Bedeutungen von „teleologisch“
Bruno Schüller unterscheidet in seinem Buch „Die Begründung sittlicher Urteile“ drei Kennzeichnungen teleologischer Ethik:
1. Die ausschließliche Relevanz der Folgen bei der Bestimmung der sittlichen Richtigkeit einer Handlung;
2. Die Rolle der Liebe (i.S. von Röm 13,8-10) als letzter Bestimmungsgrund für die sittliche Richtigkeit;
3. Die Priorität des Begriffs des Guten (Wert) vor dem Begriff des Sollens.[5]
Erinnert man sich an die vorher gegebene eindeutige Nominaldefinition teleologischer Ethik (s.o. Anm. 2), fällt auf, dass nur und genau die erste Kennzeichnung zur Absetzung von einer deontologischen Ethik dient.
Für die beiden anderen „Kennzeichnungen einer teleologischen Ethik“ bleiben dann, logisch gesehen, zwei Möglichkeiten:
- entweder sie sind inhaltlich der ersten Kennzeichnung äquivalent,
- oder sie weichen inhaltlich von der ersten Kennzeichnung ab. Im zweiten Fall können die beiden Kennzeichnungen untereinander äquivalent oder inhaltsverschieden sein.
Es ist nun von vornherein als wahrscheinlich anzunehmen, dass alle drei aufgeführten Kennzeichnungen einen je verschiedenen Inhalt haben, was sich auch aus den folgenden Ausführungen Schüllers ergibt, der stichhaltige Einwände gegen eine allein durch die erste[6] Kennzeichnung charakterisierte „teleologische Ethik“ für möglich hält, nicht aber Einwände, die auch die beiden anderen Kennzeichnungen berücksichtigen.[7]
Interessant in verschiedener Hinsicht (s.u. B, 4) ist v.a. der folgende Satz: „Er (scil. der Vertreter einer teleologischen Ethik) ist davon überzeugt, dass eine teleologische Ethik vor allem aufgrund ihrer zweiten und dritten Kennzeichnung richtig sein muss. Und angesichts der Komplexität des menschlichen Lebens wird er von vornherein damit rechnen, dass er nicht allemal explizit aufzeigen kann, wie ein bestimmter sich spontan aufdrängender sittlicher Imperativ letztlich nur eine Konkretion der sittlich geforderten Liebe ist.“[8]
Diese Ausführung ist sinnvoll und schlüssig nur dann, wenn einerseits die drei aufgeführten Kennzeichnungen nicht wechselseitig auseinander ableitbar sind und wenn andererseits nur einer teleologischen Ethik (gemäß der ersten Kennzeichnung, nämlich gemäß der stipu1ativen Definition) die zweite und dritte Kennzeichnung zukommt, d.h., wenn, anders gesagt, aus der zweiten und dritten Kennzeichnung die erste folgt.
Dies scheint aber falsch zu sein, denn es ist durchaus eine nicht-teleologische Ethik denkbar, die gleichwohl dem Begriff des Guten vor dem Begriff des Sollens die Priorität einräumt sowie die Liebe als letzten Bestimmungsgrund für die sittliche Richtigkeit annimmt.
Der Übersichtlichkeit halber soll im folgenden die zweite Kennzeichnung beiseitegelassen werden.[9]
Es drängt sich die starke Vermutung auf, dass die erste und dritte Kennzeichnung in genau umgekehrtem Verhältnis stehen, wie oben angenommen: es impliziert die dritte Kennzeichnung nicht die erste, sondern umgekehrt die erste die dritte.
Das heißt: eine teleologische Ethik im Sinne der ersten Kennzeichnung ist immer auch eine Ethik, die von der Fundierung des Sollens im Wert (Guten) ausgeht (Wertethik), nicht aber bestimmt jede Wertethik die sittliche Richtigkeit einer Handlung ausschließlich an den Folgen.
Die Verwirrung tritt dadurch ein, dass man beide Kennzeichnungen „teleologisch“ nennt. Es wäre daher angebracht, für die dritte Kennzeichnung nach einem neuen Ausdruck zu suchen. R. Spaemann hat diese Doppeldeutigkeit gesehen, allerdings in etwas anderem Kontext. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass die von ihm durchgeführte Unterscheidung eine andere Trennungslinie zieht als die soeben gewonnene Begriffsdifferenzierung. Im folgenden soll die Terminologie Spaemanns dargestellt und meist beibehalten werden, obwohl sie den Nachteil hat, dass sie vom mittlerweile üblich gewordenen Sprachgebrauch abweicht.
Spaemann nennt „teleologisch“ jede Ethik, die das Sollen von den Handlungsfolgen bestimmt. Nach ihm ist „alle philosophische Ethik – insofern sie argumentiert und nicht bloß Geltungen behauptet – „teleologisch“[10] ), denn ein Absehen von den Handlungsfolgen sei für den Ethiker gar nicht möglich, da man Handlungen gar nicht anders als durch Bezugnahme auf bestimmte Wirkungen definieren könne. Bei dem Streit zwischen deontologischer und teleologischer Ethik komme es also gar nicht auf die Frage an, ob zur sittlichen Bewertung gewisser Handlungen der eine Ethiktyp von den Folgen absehen könne, der andere aber nicht, sondern darauf, welcher Folgenkontext zu wählen sei. Es sehe nämlich eine deontologische Ethik zwar nicht gänzlich von den Folgen ab, aber sie schreibe im Unterschied zu einer teleologischen Ethik nicht deren Optimierung vor, wobei im Begriff der Optimierung aller Folgen die Universalität des Folgenkontextes mitgegeben ist. Deshalb unterscheide sich eine deontologische Ethik von einer (wie Spaemann sie nennt) „universalteleologischen“ Ethik genau durch den nicht-universalen Kontext der (ethisch zu beurteilenden) Handlung.
[...]
[1] Es sei hier nur kurz hingewiesen auf die irrige Ableitung des Wortes „deontologisch“ von „ontologisch“. Vielfach hält man – aufgrund dieser falschen Ableitung? – eine deontologische Ethik eo ipso für „ontologisch fundiert“, womit sich der Schluss nahelegt, dass das ontologische Fundament dann einer teleologischen Ethik fehlen müsse, so dass diese schon gleichsam a priori disqualifiziert erscheint.
[2] Eine solche gibt B. Schüller im Anschluss an C.D. Broad (Five Types of Ethical Theory, London 1967, 206f). Dann wird teleologisch jene Ethik genannt, die die sittliche Richtigkeit oder Falschheit einer Handlungsweise ausschließlich an ihren Folgen bemisst; jede anders urteilende Ethik heißt deontologisch. Damit wird innerhalb der normativen Ethik eine vollständige Disjunktion vorgenommen. Vgl. B. Schüller, Typen der Begründung sittlicher Normen: Conc 12 (1976) 648-654 hier 648
[3] Vgl. oben Anm. 2.
[4] Zum Ganzen vgl. B. Schüller, Der menschliche Mensch, Düsseldorf 1982, 158-166.
[5] B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, Düsseldorf 21980, 289.
[6] Ebd. 290; im Text befindet sich wohl ein Druckfehler; dort ist die Rede von der „dritten“ Kennzeichnung, es kann aber nur die erste gemeint sein; so in Zeile 7 und Zeile 17.
[7] Ebd. 290-293.
[8] Ebd. 292f.
[9] Es wäre eine eigene Untersuchung wert, inwieweit eine Ethik der Liebe deontologisch gefasst werden könnte und ob sich in deontologischen Normen wirklich „ein gesetzliches Mißverständnis“ aussprechen muss. Vgl. B. Schüller, Conc 12 (1976) 648. Falls eine deontologische Ethik der Liebe möglich sein sollte, verlöre die teleologische Ethik ihre vielleicht wichtigste argumentative Stütze. Vgl. unten B, 4.
[10] R. Spaemann, Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik: PhJ 89 (1981)78-89, hier 71.