"Weißt Du noch?"

Zur Geschichte der Familie Klein. Wolhynien, Sibirien, Ostpreußen


Fachbuch, 2013

203 Seiten


Leseprobe


Inhaltsübersicht

Zum Autor

Vorwort

Verzeichnis der Bilder und Karten

1. Das Entstehen einer Idee

2. Die Vorfahren
2.1. Ostpreußen, Kreis Soldau
2.2. Die Familie väterlicherseits - die Kleins
2.2.1. Wolhynien - Anmerkungen zu seiner Geschichte
2.2.2. Wolhynien - das Land
2.2.3. Einwanderungen nach Wolhynien
2.2.4. Großvater Georg Klein in Wolhynien
2.2.5. Familie Georg Klein in Ostpreußen
2.2.6. Die alte Streitfrage: Wem gehört das Land?
2.2.7. Kurzer Überblick über die Geschichte Przellenks
2.2.8. Im Ersten Weltkrieg
2.3. Die Familie unserer Mutter - die Edemanns
2.3.1. Die Einwanderung der Edemanns nach Wolhynien
2.3.2. Unsere Mutter in Wolhynien
2.3.3. Die Deportation nach Sibirien
2.3.4. Die Rückkehr nach Wolhynien
2.3.5. Unsere Mutter in Ostpreußen
2.3.6. Ostpreußen /Soldau - die Lage nach dem Ersten Weltkrieg
2.3.7. Unser Vater in Ostpreußen

3. Das Ehepaar Klein - unsere Eltern
3.1. Zwischen den Kriegen Einschub: Opa Edemann
3.2. Im Zweiten Weltkrieg
3.3. Das Verhältnis unserer Eltern zum Hitler-Regime
3.4. Unser Vater als Volkssturmmann

4. Die Flucht
4.1. Planung und Vorbereitung
4.2. Ostpreußen bei Kriegsende
4.3. Der lange Treck

5. Der Tod unseres Vaters

Zum Autor

Horst (Kai) Klein wurde am 14. August 1941 in dem kleinen Dorf Groß Lensk im Süden Ostpreußens, im deutsch-polnischen Grenzland, geboren. Der Bezirk Soldau, in dem der Ort liegt, war 1920 durch den Versailler Vertrag den Polen übergeben worden, 1939 hatte Hitler ihn gleich zu Beginn seines Eroberungskrieges wieder dem Deutschen Reich eingegliedert. Horst erblickte also - anders als seine älteren Geschwister - in „Deutsch- land“ das Licht der Welt.

Im Januar 1945 ging die Familie auf die Flucht, im März 1945 kamen sie mit ihrem Pferdewagen in Harpstedt, Kreis Grafschaft Hoya, an. Sieben Jahre lebten sie in der großen Baracke am Ortsrand, zogen dann in das benachbarte Dörfchen Dünsen in ein kleines Holzhaus, von da nach Bremen, wo er sein Abitur machte.

Nach einem Studium der Geschichte und der Germanistik in Kiel wurde er dort Gymnasial-Lehrer, heiratete Hella Feder und bekam mit ihr zwei Töchter, Katja und Anja.

1982 ging die kleine Familie nach Spanien, wo die Eltern in Valencia an der Deutschen Schule als Lehrer arbeiteten und die Töchter ihre Schulausbildung abschlossen.

Ein zweiter Auslandsaufenthalt führte sie in den Süden Spaniens, nach Marbella, ein dritter in den Norden Mexikos, wo sie an der Einführung des Deutschen Sprachdiploms bei den Mennoniten mitarbeiteten.

Nach schwerer Erkrankung (erst Hella mit einem Schlaganfall, dann Horst mit einer Herzoperation) mussten sie den Schuldienst vorzeitig beenden. Sie zogen zurück nach Marbella, wo sie nun in einer Urbanisation draußen vor der Stadt ein Haus mit Garten bewohnen.

Mail-Adresse: kaiklein@telefonica.net

Ich nehme gerne Korrekturen, Ergänzungen und Kritik jeder Art entgegen.

Horst Kai Klein

Vorwort

Erzählt wird hier ein kleiner Ausschnitt aus der jahrhundertealten konfliktreichen Geschichte des Grenzbereiches zwischen Deutschen und Polen und Ukrainern und Russen - genauer: ein Stück der Geschichte der Familien Klein und Edemann im Rahmen der großen Geschichte des Ostens, in Wolhynien, in Polen, in Russland / Sibirien und vor allem in Masuren / Ostpreußen.

Auf die allgemeine Geschichte, vor allem die der beiden Weltkriege, kann ich in meinem Bericht natürlich nicht verzichten. Der Fokus liegt dabei aber ganz auf denjenigen Ereignissen, die konkrete Auswirkungen für unsere Familien hatten.

Wenn ich Informationen von anderen Personen oder aus der Literatur übernehme, kündige ich das deutlich an.

Wenn ich zitiere, geschieht das in diesem Kursivdruck mit Angabe der Quelle direkt vor Ort, allerdings ohne einen kompletten wissenschaftlichen Apparat.

Ich habe in Vorbereitung dieser Familiengeschichte viele Gespräche geführt, viele Zeitschriftenartikel und viele Bücher gelesen, im Internet und anderswo recherchiert. Ich bitte um Nachsicht, wenn mir trotz aller Mühe Fehler unterlaufen sind - man teile sie mir mit, man kann schließlich alles korrigieren - zumindest in einer zweiten Aufla- ge des Buches.

Ich bitte ebenfalls um Nachsicht, wenn ich dem einen oder anderen nahe oder gar zu nahe getreten sein sollte - das lag nicht in meiner Absicht.

Ich bitte nicht um Nachsicht, wenn ich mit meinen Ansichten über Geschichte, Politik, Gott und die Welt nicht jedermanns Überzeugungen getroffen habe - ich hatte und habe meine eigene Meinung und stehe dazu, jeder möge die seine haben und behalten - es sei denn, ich habe ihn durch meine Darstellung in dem einen oder anderen Detail umgestimmt oder gar vom Gegenteil überzeugt.

Die Ausführungen in diesem Buch waren Teil einer bis in die Gegenwart reichenden Familienchronik, die ich 2005 für meine inzwischen sehr umfangreiche Verwandtschaft geschrieben habe. Ich lege hier den ersten Teil dieser Chronik der Öffentlichkeit vor; er wurde überarbeitet und erheblich ergänzt.

Der zweite Teil der Chronik liegt bereits seit 2012 unter dem Titel „Als Flüchtlingskind in Harpstedt“ als Erlebnisbericht vor - im Internet, als E-book und als gedrucktes Buch.

Verzeichnis der Bilder und Karten

1. Die Schmiede in Przellenk; Deckblatt
2. Ein See in Masuren
3. Das Haus am Gym-See
4. Karte der Kreise Ostpreußens; Kreis Soldau
5. Die Soldau - Grenzfluß zu Kongresspolen
6. Karte Wolhyniens; das Siedlungsgebiet der Deutschen
7. Skizze: Die deutschen Sprachinseln
8. Skizze: Einwanderung der Wolhyniendeutschen im 19. Jahrhundert 9. Notunterkunft in Wolhynien
10. Ein deutsches Siedler-Haus
11. Ein Backofen im Freien
12. Skizze des Dorfes Anuschin / Hanuszyn
13. Ortsschild Przellenk
14. Google-Earth-Bild: Das Straßendorf Przellenk; Einwohner (Abkürzung GEB)
15. Das Haus unseres Großvaters Georg Klein, erbaut 1913
16. Die Hofanlage
17. Skizze: Die Siedlerstellen in Przellenk
18. Skizze: Die Schlacht bei Tannenberg, Lensk
19. Neidenburg: Der Einmarsch der Russen
20. Georg Klein in hohem Alter
21. Neidenburg: Zerstörungen
22. Skizze: Orszynie / Oreschima
23. Skizze Kowel - Tahazyn
24. Skizze: Der Ort Tahazyn /Taratschin
25. GEB: Der Ort Tahazyn heute
26. GEB: Tahazyn und Umgebung heute
27. Zeitungsausschnitt: Wolhynische Gouvernements-Nachrichten
28. In den Pripjetsümpfen
29. GEB: Der Fluss Goryn mit dem Ort David Haradok
30. Ein Transportschiff
31. GEB: Die Stadt Masyr am Djepr
32. GEB: Der Djepr bis Kiew
33. GEB: Die Stadt Sysran an der Wolga
34. GEB: Die Stadt Balakowo an der Wolga
35. GEB: von Saratov nach Samara
36. Skizze: Der Weg in die Verbannung und zurück
37. Landkarte: von Samara mit dem Transturan nach Taschkent
38. Ofen mit Schlafstelle
39. Dromedare als Zugtiere
40. Ein pockenkrankes Kind
41. Das Büchlein Wasserquelle
42. Unsere Mutter bei Witzkes
43. Karte: Die neue Grenze Ostpreußens, die Eisenbahnlinien
44. Der Gutshof Klein Tauersee
45. Die Einsegnung unseres Vaters
46. Die Schmiede des Julius Schmidt
47. Unser Vater als Jugendlicher
48. Unser Vater als junger Mann
49. Unsere Schmiede in Przellenk
50. Die Heiratsurkunde unserer Eltern
51. Liederabschriften unseres Vaters
52. Ein Brief unserer Mutter
53. Die junge Familie Klein 1934
54. Großvater Edemann in Argentinien - mit Familie, 1928
55. Dieselbe Familie 1935
56. Ottilie, die Halbschwester unserer Mutter
57. Großvater Edemann, aufgebahrt
58. Das neue großdeutsche Reich
59. Die Aufnahme unserer Mutter in die deutsche Volksliste
60. Das Ortsschild Groß Lensk
61. Die Landstraße von Przellenk nach Groß Lensk; Irmgard
62. GEB Groß Lensk
63. Mein Geburtshaus in Groß Lensk
64. Der Giebel dieses Hauses
65. Skizze: Die Einwohner von Groß Lensk
66. Eine Abrechnung der Schmiedearbeiten
67. Groß Lensk: Unser Haus an der Hauptstraße
68. Die Straßenfront mit einem Neubau nebenan
69. Unser Haus von der Hofseite
70. Unser Haus mit dem Ziehbrunnen; „Onkel Paul“
71. Landmaschinen zum Mähen und zum Kartoffelanbau
72. Der Witzke-Hof
73. Erna vor ihrer alten Schule in Przellenk
74. Erich mit Spielkameraden
75. Groß Lensk, die Dorfschule neben der Kirche
76. Treffen vor der Schule; Erna und Bekannte
77. Familienfoto Klein: 1943
78. Familienfoto Onkel Ferdinand
79. Das Orgelpfeifenbild: Die Klein-Kinder
80. Besuch bei Frau Savatzke
81. Einberufung zu einem Volkssturm-Lehrgang
82. Die Dienstverpflichtung zum Volkssturm
83. Unser Vater als Volkssturmmann
84. Frauenleichen in Nemmersdorf
85. Die Familie des Bürgermeisters Radtke
86. GEB: Die beiden Dörfer Przellenk und Groß Lensk
87. Olla und ihr Mann Benno Janz
88. Fluchtwagen
89. Festung Graudenz; Speicher an der Weichsel
90. Die Weichsel südlich von Graudenz
91. Unsere Fluchtroute
92. Heiligenbeil - Pillau
93. Heiligenbeil; der Marktplatz
94. Die Todesnachricht
95. Die Sterbeurkunde
96. Der Soldatenfriedhof in Pillau
97. Der Friedhof; Kreuze
98.-100. Erich am Grab unseres Vaters

1. Das Entstehen einer Idee

Wir standen auf dem Badesteg der Feriengemeinschaft „Klubad“ am Gym-See in Nowa Kaletka in Polen: in Masuren, dem südlichen ehemaligen Ostpreußen. „Wir“, das waren meine Geschwister Erna, Erich und seine Frau Natalie, Artur und seine Frau Traute, Irmgard und ich. Wir hatten uns dort ein Ferienhaus gemietet, um noch einmal die Orte unserer Kindheit zu besuchen. Die meisten Menschen sprechen von „Heimat“, wenn sie diese Orte meinen, aber ich meide dieses Wort: Zu oft ist es von Vertriebenenverbänden, Flüchtlingsverbänden und eben „Heimat“-Verbänden politisch funktionalisiert und dadurch missbraucht worden.

Wir hatten schnell die Zimmer verteilt, die Sachen verstaut und waren dann an den See hinuntergegangen und auf den Badeanleger hinaus, obgleich ein Schild nach Ernas Auskunft diesen Steg für die Gäste der Genossenschaft reservierte und für Nichtbefugte verbot. Aber falls sich jemand beschweren sollte, verstand eben niemand von uns Polnisch - also auch nicht das Verbotsschild.

Wir standen da und schauten in die untergehende Sonne, die den Himmel und den See neben dem Mischwald aus Birken und Kiefern rot färbte.

Es war still, im Wasser versuchten kleine Kinder mit einer Blechdose Fische zu fangen: Drei schwammen schon in einem Marmeladenglas.

Erna begann, einen Text zu rezitieren:

„ Sie sagen all, du bist nicht schön, Mein trautes Heimatland,

Du trägst nicht stolze Bergeshöhn Nicht Reben grün Gewand. In deinen Lüften rauscht kein Aar, Es grüß t kein Palmenbaum. Doch glänzt der Vorzeit Träne klar An deiner Küste Saum. “

Wir schauten sie an. Erna schaute uns an: „Kennt ihr das nicht?" Irmgard: „Doch, aber nicht auswendig. Das musst du mir unbedingt aufschreiben!" Natalie: „Das ist nicht nötig. Ich habe das in einem Buch zuhause. Ich kann dir das fotokopieren." Irmgard: „O ja. Denk bitte dran!"

Erna fuhr fort:

„ Und wenn ich träumend dann durchgeh ’ Die düstre Tannennacht

Und hoch die mächtgen Eichen seh ’ In königlicher Pracht,

Dannüberkommt mich solche Lust, Dass ich's nicht sagen kann. “

Alle schauten aufs Wasser, als Erna fortsetzte:

„ Ich sing' ein Lied aus voller Brust,

Schlag froh die Saiten an.

Und trägst du auch nur schlicht Gewand Und keine stolzen Höhn,

Ostpreu ß en hoch, mein Heimatland,

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie bist du doch so schön! “

2. See in Masuren

Alle brauchten eine Weile, um wieder ein Gespräch anfangen zu können.

Erna hatte dieses Lied noch in der Schule gelernt, sie hatte von uns allen am längsten hier in Ostpreußen gelebt, hatte hier ihre Kindheit und Teile der Jugend verbracht, Erna liebte - und man kann ohne Übertreibung das Präsens benutzen - Erna liebt dieses Land, für Erna war und ist Masuren wirklich Heimat, sie konnte und kann das Ostpreußenlied ohne falsches Pathos vortragen, sie steht dahinter.

Als ich am nächsten Morgen nach einem Bad im Gymsee und einem anschließenden Waldlauf, barfuß über den weichen, federnden Boden, zurückkam zu dem Ferienhaus und zu Erna und Irmgard hochstieg auf die Terrasse, war man sich einig, hier noch einmal ein Stück Ostpreußen erleben zu können, wie man es von früher her kannte: „Ist es nicht schön, nach dem verregneten Juli und August in Norddeutschland jetzt einen richtigen Sommer zu haben? Ja, und so war es hier immer. Weißt du noch...?" Da war sie wieder, die Zauberformel zur Beschwörung der Vergangenheit! Nein, ich wusste nicht, ich war zu jung gewesen, um mich zu erinnern - und Erna begann zu erzählen...

Und ich formulierte den Entschluss, den ich beim Waldlauf gefasst hatte, in Form einer Frage:

„Wie wäre es, wenn ich mich an die Arbeit machte und aus all den Erzählungen und Informationen einen Bericht zusammenstellte, eine Familiengeschichte, historisch möglichst genau, aber immer eng an dem Schicksal unserer Familien orientiert?“ Ich stieß auf ungeteilte Zustimmung - und begann gleich mit den ersten Notizen. Schnell waren fünf Seiten in meinem Reisetagebuch mit Daten, Namen, Details ge- füllt, der Fluchtwagen entstand wieder, Maße wurden durch Abschreiten auf der Ter rasse ermittelt, die klirrende Kälte in der Nacht des Aufbruchs wurde in Erinnerung gerufen...

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3. Unser Haus am Gym-See

2. Die Vorfahren

2.1. Ostpreußen - Kreis Soldau

Im Herbst 1918 musste auch dem letzten Deutschen klar geworden sein, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war - eine Chance dazu hatte spätestens seit dem 6. April 1917, dem Kriegseintritt der USA gegen Deutschland, nicht mehr bestanden - wenn es sie denn jemals gegeben hatte.

Der Kaiser war abgesetzt worden und hatte sich der Verantwortung für sein Land und der Mitverantwortung für den Kriegsausbruch dadurch entzogen, dass er nach Holland ins Exil gegangen war. Der erste demokratische deutsche Staat konnte entstehen, die Weimarer Republik.

In Versailles trafen sich die Siegermächte, um über das Schicksal Deutschlands zu beraten. Die Deutschen waren nicht geladen worden - sie waren Gegenstand der Be- ratungen, nicht Partner. Sie waren enttäuscht, zum Teil sogar entsetzt, hatten sie doch den Waffenstillstand auf der Basis der 14 Punkte des amerikanischen Präsiden- ten Wilson abgeschlossen, und in diesen 14 Punkten war viel vom Selbstbestim- mungsrecht der Völker die Rede gewesen. Die Deutschen sollten bald merken, dass die absolute Mehrheit der Sieger dieses Recht nicht für Deutschland gelten lassen wollte, hatte man ihnen doch im Paragraphen 231 die alleinige Schuld am Ausbruch des Krieges zugeschoben und - als Konsequenz aus diesem Urteil - auferlegt, die durch den Krieg entstandenen Schäden wieder gutzumachen und die Kosten dafür zu tragen.

Polen, so beschloss man in Versailles, sollte endlich nach vielen Leiden als souveräner Staat wiedererstehen; und um ihm gute Start-Chancen zu sichern, sollte der junge Staat Zugang zur Ostsee erhalten und diejenigen Gebiete zugesprochen bekommen, die mehrheitlich von Polen bewohnt waren. Das waren nach den Landkarten, die die Polen im März 1919 erstellt hatten, u.a. das ganze „Weichselland“ (also Westpreußen), Masuren (also die Südhälfte Ostpreußens) und das Memelland. Als die Deutschen das hörten, waren sie so verbittert, dass sie den Waffenstillstand kündigen und die Kriegshandlungen im Osten wieder aufnehmen wollten.

In dieser Situation setzte der englische Verhandlungsführer Lloyd George durch, dass in Westpreußen rechts der Weichsel und in Masuren denn doch das Prinzip der Selbstbestimmung angewendet werden solle: Die dort Wohnenden sollten per Volks- abstimmung selbst entscheiden, ob sie deutsche oder polnische Staatsbürger werden wollten.

Bei den zähen Verhandlungen über die Abstimmungsgebiete bestanden die Polen allerdings erfolgreich auf einer kleinen Einschränkung; ich zitiere aus einem Geschichtsbuch über Ostpreußen:

„ Einen Zipfel des südlichen Masuren, nämlich Teile des Kreises Neidenburg mit der Stadt SOLDAU - nach der Volkszählung von 1910 betrug hier der Anteil der polnisch sprechenden Bevölkerung 21% - durfte Polen ohne Volksabstimmungübernehmen. Die Stadt war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4. Karte der Kreise Ostpreu ß ens. Ganz im Süden liegt der „ Kreis “ Soldau, der abgetrennt wird.

Da die Abstimmung im restlichen Südostpreußen für Deutschland ausfiel, Masuren also bei Deutschland verblieb, gab es in diesem Bereich eine neue Grenzziehung. Hatten bisher Soldau und die Wohnorte der Kleins, also Przellenk und Groß Lensk, auf deutscher Seite ganz dicht an der Grenze zu Polen gelegen, so lagen diese Orte jetzt auf polnischem Gebiet - relativ dicht an der neuen Grenze zu Deutschland, zum „Reich“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5. Die Soldau; ehemaliger Grenzfluss zu Kongre ß polen; im Hintergrund der Ort Przellenk

Genau in diesem Bereich, der mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 auch rechtlich abgesichert polnisch wurde, wohnten damals unsere Vorfahren, die damit zu Untertanen des polnischen Staates wurden.

Besagte Vorfahren - väterlicherseits logischerweise die Kleins und mütterlicherseits die Edemanns - waren nicht von alters her in Ostpreußen ansässig gewesen, beide hatten lange Zeit in Wolhynien gelebt und waren dann in den Kreis Soldau gezogen. Großvater Georg Klein kam aus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, seine Familie stammte aus dem Schwabenland, Großvater Karl Edemann kam ir- gendwo aus Pommern. Beide hatten aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen die Heimat verlassen und sich in Wolhynien eine neue Existenz geschaffen. Beide hatten auf Dauer nicht in Wolhynien bleiben können, waren aber auf ganz unterschiedliche Art und Weise und aus sehr unterschiedlichen Anlässen von dort weggegangen.

2.2. Die Familie väterlicherseits - die Kleins

Georg Klein war am 10. Mai 1863 in Kamin im Kreis Nisko geboren worden, eine Woche später, am 17. Mai wurde er getauft. Dieses Gebiet in Galizien gehörte zu der Zeit zu Österreich, ist heute aber wieder polnisches Staatsgebiet. Von seinen schwäbischen Vorfahren sind mir nur wenige Namen bekannt; der Vater hieß Johann Michael Klein (unser Urgroßvater) und dessen Eltern (also unsere Ur-urgroßeltern) Jakob Klein und Margarethe, geborene Maifort.

Aus dem Schwabenland brachte er den sprichwörtlichen Fleiß und das Bemühen um wirtschaftlichen Erfolg mit - wenn man sich denn solchen Klischees anschließen mag. Als Soldat diente er unter Kaiser Franz Joseph in einem Wachbataillon, und er pflegte stolz zu erzählen, dass es zu seinen Aufgaben gehört habe, bei Ausfahrten hinter der Prinzessin auf der Kutsche zu stehen und sie zu beschützen. Seine Stellung war of- fenbar so hoch angesiedelt, dass er aus dieser Zeit den Anspruch mitbrachte, von allen mit „Ihr“ angesprochen zu werden: „Opa, wollt Ihr jetzt frühstücken?“

Er heiratete eine Katharina Klein, die am 16.2.1861 in Jerowod zur Welt gekommen war.

Nach der Dienstzeit wanderte er mit seiner Familie in das nördlich benachbarte Wolhynien aus.

2.2.1. Wolhynien - Anmerkungen zu seiner Geschichte

Dieses Wolhynien ist ein schwer zu beschreibender Bereich, weil es zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Gebiete umfasste, die zum Teil zu Österreich, zu Polen, zur Ukraine, zu Russland gehörten - die Besitzer und die Grenzen wechselten im Verlauf der Geschichte sehr. Erst im 19. Jahrhundert meint dieser Landschaftsbegriff ein genau definiertes Gouvernement im Süden des russischen Zarenreiches.

Ich beginne mit einem knappen Überblick über das höchst wechselhafte Schicksal dieses Gebietes - jedes Herrschervolk hat dort seine Spuren hinterlassen und ein hochinteressantes buntes, aber zum Teil auch explosives Gemisch geschaffen. Im 9. Jh. gründeten die „Rus“ hier ihr erstes Reich, indem sie verschiedene slawische Stämme vereinigten; Kiew wurde der Mittelpunkt dieses „Russland“. Im 13. Jh. zerfiel das Reich in zahlreiche Fürstentümer, darunter das Fürstentum Ha- lytsch/ Wolhynien, das als erster selbständiger Staat auf dem Gebiet des Bereiches gilt, den wir heute als Ukraine kennen. Zeitweise herrschten hier die Mongolen unter der bekannten Goldenen Horde.

Seit 1654 wurde das östliche Gebiet der Ukraine schrittweise der Oberherrschaft des Zaren einverleibt, den Westen übernahm Österreich/Ungarn.

1772, bei der ersten Teilung Polens, fiel dieser Westen unter der Bezeichnung „Galizien“ und „Bokuwina“ offiziell an Österreich. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden unter Kaiser Josef II. in Ostgalizien 5000 deutsche Protestanten aus der Pfalz angesiedelt - mag sein, dass unser Großvater Georg Klein dazugehörte. Als 1793 die zweite Teilung Polens vollzogen wurde, kamen weitere wolhynische Gebiete der Ukraine westlich des Dnjepr an Russland.

1915 wurde Wolhynien Aufmarschgebiet der Österreicher und Deutschen im Krieg gegen Russland, die Edemanns wurden in diese Auseinandersetzungen aufs Schlimmste mit hineingezogen, wie fast alle anderen Wolhyniendeutschen auch.

1917 kam es in Kiew im Rahmen der bolschewistischen Revolution unter Lenin zur Gründung der „Freien Ukrainischen Sowjetrepublik“, die das wolhynische Gebiet mit umfasste, im Frieden von Riga 1921 wurde das Gebiet geteilt, die Ukraine wurde Mitbegründer der ‚Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken’. Das Ostgebiet um Lwiw / Lemberg blieb bei Polen.

1939 wurde auch dieser Bereich West-Wolhyniens in die Ukraine eingegliedert, den Polen also weggenommen.

1941 besetzen deutsche Truppen die Ukraine, rotteten die Juden aus und deportieren eine Millionen Ukrainer als Zwangsarbeiter nach Deutschland. 1943 wurde das Gebiet von der Roten Armee zurückerobert und wieder der Sowjetunion eingegliedert.

Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums bekam Polen einen kleinen Teil Wolhyniens, das größte Stück gehört seit dem 16. Juli 1990 zur heutigen souveränen Ukraine auch der Teil, in dem unsere Vorfahren gelebt haben.

2.2.2. Wolhynien - das Land

Da ich von meinen Großeltern praktisch nichts Konkretes über dieses Gebiet erfahren habe, versuche ich hier in einem zweiten Schritt, Informationen aus verschiedenen Büchern, auch Erinnerungsbüchern von Deutschen, zusammenzutragen, so dass zumindest eine ungefähre Vorstellung von dem Land und dem Leben unserer Vorfahren entstehen mag. Bei unserer Mutter kann ich auf Erzählungen zurückgreifen, die das Bild dann noch ein bisschen abrunden.

Ich zitiere hier zuerst aus einem Buch von Bernhard Schwarz, in dem er seinen Le- sern Wolhynien vorstellt. (Bernhard Schwarz. Wolhyniendeutsches Schicksal. Mün- chen 1942)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

6. Gelb: Wolhynien, das Siedlungsgebiet der Deutschen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

7. Deutsche Orte in Wolhynien

„ Das Land ist weit. Stundenlang kann der Reiherüber Wälder fliegen, nichts als Wäl- der, ein grünes, wogendes Meer bis an den Horizont. Das helle Grün der Laubbäume wechselt mit dem dunklen Grün der Tannen, die im hei ß en Sommerwind, der aus der ukrainischen Weizenebene herüberweht, schwanken. Wenige Stra ß en nur ziehen durch das Land, oft kaum Stra ß en zu nennen: breite, ausgemahlene, von Wind und Regen zerfurchte Sandwege, die die wenigen Lichtungen, auf denen armselige Sied- lungen stehen, miteinander verbinden. Die Häuser sind aus Holz, gedeckt mit filzigem, bemoostem Stroh, die kleinen Felder schlie ß en sich direkt an die Häuser an - das Ganze ist eingeschlossen vom Wald, der hier alles umfasst und die Lichtungen in we- nigen Jahren zurückerobert, wenn die Bewohner fortziehen - und die wenigen Deut- schen, die hier gewohnt haben, sind oft gezwungen gewesen, ihre armseligen „ Höfe “ zu verlassen und sich eine neue Heimat zu suchen.

„ Weiter nördlich schimmert das Land graugrün von den unzähligen Sümpfen und Tei- chen, die vom Stochod, Styr, Pripjet und Hunderten weiteren kleinen Flüssen und Bä- chen versorgt werden. Dieüppigen Sumpfwälder sind undurchdringlich, es gibt keinen festen Weg, nur mit flachen Booten kann man sich hier bewegen - wenn sich hier je- mand her verirrt. Wer weiter im Süden - etwa von Pinsk nach Kolki - tagelang durch die Wälder gelaufen oder geritten ist, gelangt plötzlich in ein Heideland mit Sand, dür- rem Gras und Birken. Hier, im Schutze des Waldes, der den eisigen Nordwind abhält, haben sich deutsche Siedler aus Schlesien … ihre einfachen Blockhütten gebaut und Felder angelegt - sie gehören zu denen, die schon vor Jahrhunderten dem Ruf des polnischen Königs gefolgt waren.

„ Noch weiter südlich ragt der Wald in langen Zungen in fruchtbares Ackerland hinein. Auch hier gibt es deutsche Siedlungen; wo immer zwischen den Ukrainern und Mu- schiken Platz war, haben die Deutschen ihre Siedlungen gebaut, und hier sind es nicht einfache Holzhäuser, sondern stattliche Höfe mit Ställen und Scheunen und Obstgärten ums Haus. Hunderte von deutschen Siedlungen gibt es hier um Luzk und Roschyschtschte, um Kostopol und Tutschyn, um WLADYMIR-WOLYNSK und Kisie- lyn. “

Hier, nördlich dieses Ortes Wladymir-Wolynsk, ist unsere Mutter geboren.

2.2.3. Einwanderungen nach Wolhynien

Dieses Gebiet gehörte (wie oben dargelegt) seit der zweiten polnischen Teilung 1793 weitgehend zu Russland und bot neu siedelnden Einwanderern oft gute Bedingun- gen, zumal es dort bereits seit langem eine deutsche Volksgruppe gab: 1340 hatte der letzte selbständige Fürst von Wolhynien, Boleslav Georg, den polnischen König Kasi- mir III. zu seinem Nachfolger bestimmt. Dieser polnische König hatte das Land dem Westen geöffnet und die Kolonisierung stark gefördert, indem er deutsche Siedler ins Land rief und ihren neu gegründeten Städten und Dörfer sogar deutsches Recht ver- lieh.

Später - in der Mitte des 19. Jahrhunderts - kamen neue deutsche Siedler, die aus der Rheinpfalz, aus dem Badischen und aus Schwaben stammten. Sie hatten sich zuerst südlich von Wolhynien in Galizien, das bei den polnischen Teilungen an das Kaiser- reich Österreich-Ungarn gekommen war, niedergelassen. Diese aufblühende Provinz hatten bereits Bauern aus dem Böhmerwald und Mähren unter Kaiser Josef II. „zu einem Garten Eden“ gemacht (wie es der Buchautor Schwarz national-stolz formu- liert). Dort in Galizien waren sie dann aber tyrannisiert worden, hatten ihren Glauben ablegen sollen und in der Armee dienen müssen, hatten gegen alle Gesetze hohe Steuern zahlen müssen - und hatten daher Hab und Gut verkauft und waren nach Norden, ins russische Wolhynien ausgewandert und dort bei neuen Herren in bäuerli- che Dienste getreten. Diese neuen Herren waren zum Teil Russen, zum Teil aber auch Polen, denen die Russen als neue Herrscher das Land nicht weggenommen hatten. Die hiesigen Bauern behandelten die neu ankommenden Deutschen recht un- terschiedlich und die soziale Stellung der Deutschen war deshalb - und auch auf Grund unterschiedlichen Fleißes und unterschiedlich hoher Eigeninitiative - sehr un- einheitlich. Mancher blieb sein Leben lang als Knecht in der Abhängigkeit des Groß- bauern, mancher wurde Pächter mit gewisser Selbständigkeit, andere arbeiteten sich zu freien Bauern auf eigenem Grund und Boden empor, wobei es stets sehr nützlich war, viele Kinder zu haben, die auf dem Hof die Arbeit verrichten konnten.

Zu dieser späten Gruppe von Umsiedlern wird auch die Familie meines Großvaters Georg Klein gehört haben, wenn ich den wenigen Angaben, die ich von ihm und über ihn habe, Glauben schenken darf. Alle Aussagen passen da- zu.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

8. Skizze: Einwanderung der Wolhynien-Deutschen im 19. Jahrhundert

Die Gesamtbevölkerung dieses seit 1797 südrussischen Gouvernements, das an die Gouvernements Grodny, Minsk, Kiev, Podolin, Sjedletr, Lublin und Österreichisch- Gallizien grenzte und 71.852 km² umfasste, betrug am Ende des 19. Jahrhunderts, also in der Zeit, als unsere beiden Großväter dort wohnten, 2,9 Millionen; 73% davon waren Russen unterschiedlichster Ausprägung, 13% Juden, 6,2% Polen und 5,7% Deutsche. Die Religionszugehörigkeit war ziemlich genau parallel verteilt: griechisch- orthodox die russische Mehrheit, jüdisch natürlich die Juden, römisch-katholisch die Polen und die Mehrheit der Deutschen evangelisch-lutherisch oder freikirchlich- baptistisch.

Etwa ein Drittel war Ackerland, eben so viel blieb von Wald bedeckt, etwa 20% konnte als Weide und Wiese genutzt werden, der Rest (10%) war Ödland. Zur Zeit unserer Großväter fühlten sich die Deutschen in Wolhynien nach Aussagen unterschiedlichster Historiker als normale und treue Untertanen des Zaren, wenn sie auch ihre Herkunft und Sprache und Religion nicht vergessen hatten und meistens in eigenen Dörfern unter sich wohnten. Etwa 30.000 Russland-Deutsche kämpften denn auch im Ersten Weltkrieg auf der Seite Russlands.

Wer sich auf eigene Füße stellen wollte, bekam üblicherweise erst einmal ein Stück von den unendlichen Wäldern, das er zu roden hatte. Um bis zur Fertigstellung eines Hauses irgendwo „wohnen“ zu können, baute man sich eine Hütte, meistens in der Weise, dass man Erde aushob und das Loch dann mit Balken und Laub abdeckte. In diesen Erdhöhlen brachte man auch die Pferde und die anderen Tiere unter.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

9. Notunterkunft; aus Längin, Die Ru ß landdeutschen, S. 110

Wer heute im Fernsehen die Bilder sieht, mit welcher Leichtigkeit in Brasilien und an- derswo der Urwald beseitigt wird, wie ein, zwei Männer mit großen Motorsägen die Baumriesen zu Fall bringen, wie dann Spezialmaschienen die Stämme zuschneiden, verladen, wie Bulldozer die Stubben beseitigen, wie der „Abfall“ verbrannt und die frei gewordenen Flächen in kürzester Zeit in Ackerland verwandelt werden, auf denen Mais- oder Ölpalmen-Kulturen entstehen, der kann sich kaum vorstellen, welche Mühe es damals gemacht haben muss, die Bäume mit langen Sägen per Hand zu fällen, die Äste abzuhacken, die Stubben freizugraben und mit den Pferden herauszureißen, das Material dann zu Baumaterial und zu Brennholz weiterzuverarbeiten.

Auf der gerodeten Fläche konnte der Pächter dann Ackerbau und Viehzucht betreiben und einen kleinen „Hof“ bauen. Ich setze das Wort ‚Hof’ in Anführungsstriche, weil nach den Schilderungen vieler Deutscher aus der Gegend die Häuser meistens ziemlich klein und bescheiden waren.

In Linstow, in Mecklenburg, hat man in einem Museumsdorf ein typisches Bauernhaus einer solchen Umsiedlerfamilie, wie es unser Großvater war, aufgebaut: Das erforderliche Baumaterial hatte man zum großen Teil schon aus der Rodung des Waldes. Die Stämme wurden zu Balken und Bohlen zersägt und zu Blockhäusern verarbeitet. Es gab zu der Zeit bereits gute Gattersägen, von Flüssen und Bächen über Wasserräder angetrieben wie die vielen Wassermühlen, aber es blieb doch eine Knochenarbeit, die rohen Stämme zusammenzufügen, die Innenseiten der entstehen- den Wände einigermaßen zu glätten, mit Axt und Dexel. Die Fugen wurden mit Moos und Lehm abgedichtet. So machte man das seit Jahrhunderten - und solche Häuser stehen noch heute, im 21. Jahrhundert, in Hülle und Fülle in Polen und Russland und anderen Staaten des Ostens. Das Dach wurde meistens mit Schilf oder Reth gedeckt, die vielen Sümpfe lieferten hinreichend Rohmaterial.

Die Grundkonzeption war so, wie wir sie auch aus Ostfriesland oder Niedersachsen und auch aus Bayern kennen: Das Haus bot Mensch und Vieh und Ernte Raum unter einem Dach. Eine große Küche gab es, in der sich das tägliche Leben abspielte, einen Wohnraum und einen Schlafraum für alle Familienmitglieder - vielleicht hatten die Häuser bei so vielen Kindern, wie unser Großvater sie hatte, auch mal ein zweites Schlafzimmer - aber das galt dann schon als Luxus. Daran schloss sich der Stall-Teil an, mit Unterstellmöglichkeiten für zwei, drei Pferde, ein paar Schweine und Kühe und Schafe, einem Verschlag für die Kaninchen und für Hühner, Enten und Gänse. Die Erntevorräte wurden auf dem großen Dach-Boden gelagert, die Pfeiler und Balken der Häuser waren möglichst aus solider Eiche gefertigt und konnten daher große Lasten tragen. In einigen Dörfern baute man nach einer gewissen Zeit auch Scheunen und Ställe, so dass das Wohnhaus nun ganz den Menschen vorbehalten war.

Das Mobiliar war einfach bis primitiv, niemand stellte große Ansprüche. Elektrisches Licht und fließendes Wasser hatte selbstverständlich niemand, der Fußboden bestand üblicherweise aus gestampftem Lehm, nur selten aus Holzbohlen. Allerdings liest man häufig, dass auf den deutschen Lattenzaun rings um das Haus und den obligatorischen Obstgarten ungern verzichtet wurde. In manchen Dörfern gab es richtige Wettbewerbe, wer das schönste Haus hatte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

10. Ein typisches deutsches Siedlerhaus aus Bohlen gebaut; der Giebel ist senkrecht mit Brettern ver schalt, das Dach mit Stroh gedeckt. (Aus: Längin, Die Ru ß landdeutschen S. 105)

Draußen gab es einen großen Backofen, in dem die Brote für die ganze Woche gebacken wurden - jeder Bauer war weitgehend Selbstversorger.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

11. Die Ö fen im Freien wurden oft von ein paar benachbarten Häusern gemeinsam benutzt. Man erkennt wartende Frauen, man achte auf die F üß e der Frau vorne links - sie ist barfu ß . (Aus Längin, S. 76)

Man hatte Milch und Käse (auch von den zahlreichen Ziegen und Schafen), man hatte durch große Roggenfelder genügend Mehl für das Brot, baute auch Weizen an, um Feingebäck und Kuchen für die guten Tage zu haben. Klee, Gras, Gerste, Hafer, Fut- terrüben, Kartoffeln, Zuckerrüben waren die Basis der weiteren Nahrungsmittel für Mensch und Tier. Natürlich wurde alles Ackerland per Hand-Pflug mit Pferden oder Ochsen davor umgepflügt und geeggt, per Hand gesät und auch per Hand geerntet, Sichel und Sense kamen bei Roggen, Weizen, Gerste, Hafer zum Einsatz. Fast über- all gab es Windmühlen, die Mehl und auch Öl aus Leinsamen herstellen konnten, fast jeder Haushalt hatte ein Spinnrad, um die Wolle zu spinnen, die meisten Frauen konn- ten auch Flachs verarbeiten und auch weben, in jedem Dorf hatte jemand einen Web- stuhl. Holzschuhe und Lederpantoffeln wurden ebenfalls vor Ort hergestellt, einen Schmied und einen Tischler gab es fast überall - nur selten fuhr man in die Stadt, um Kleidung und Gerätschaften zu kaufen.

Die Kinder besuchten die Schule höchstens in zwei oder drei Winterperioden. Der Pastor unterrichtete. Es gab auch keine (deutsche) Polizei oder Ärzte - man regelte alles unter sich in der deutschen Kolonie. Jede Hausfrau hatte ihre Hausmittel, bei denen Kräuter eine große Rolle spielten. Beliebtes Heilmittel bei schwerer Erkrankung war das Schröpfen mit Blutegeln oder einer kleinen erhitzten Glasglocke.

Industrie und Handel steckten in diesem Gebiet zu jener Zeit noch in den Kinder- schuhen, obwohl man in manchen Büchern über Wolhynien liest, nach der Einwande- rung so vieler Deutscher in dieses Gebiet ab 1860 habe es eine wahre Blütezeit ge- geben: Die Wirtschaft habe floriert, zumindest in den größeren Orten habe es Hand- werks- und auch erste Industriebetriebe und natürlich Geschäfte gegeben, in denen es fast alles zu kaufen gab, was man brauchte, während in vielen Gegenden des Russischen Reiches bittere Armut herrschte. - Das wird wohl so stimmen, aber sicher- lich spielt bei Aussagen dieser Art der deutsche Nationalstolz eine nicht unwesentli- che Rolle.

2.2.4. Großvater Georg Klein in Wolhynien

Georg Klein war nicht in der Abhängigkeit von irgendeinem Adligen stecken geblieben, er hatte sich in Hanuszyn/Anuschin/Anusin einen kleinen Bauernhof erarbeitet und Katharina Klein, geborene Klein (man sieht, das klingt nach Inzucht innerhalb der deutschen Kolonien!) geheiratet, mit der er insgesamt neun Kinder hatte: Michael (16.8.1892), Ferdinand (30.6.1895), Pauline (11. 11. 1902), Auguste, genannt Justa (27.12.1903), Rudolf, (unser Vater, der am 7./20 April 1905 in Hanuszyn/ Anu- schin/Anusin geboren wurde), Jakob (18.8. 1909), Georg (1.5.1912), Anna (6.11.1914) und schließlich Else/Ella, eine Nachzüglerin, die erst am 28.11.1920 in Ostpreußen zur Welt kam. Mit diesen Tanten und Onkel wohnten wir viele Jahre in enger Nachbarschaft in Przellenk. D.h. „wir“ ist nicht ganz zutreffend, da ich erst nach dem Umzug unserer Familie in das direkt benachbarte Groß Lensk auf die Welt kam.

Den Ort Hanuszyn/Anusin habe ich im Internet mit Hilfe von Gerhard König (04.12. 2012, 17:38) gefunden: Aus dem russ. Ortsverzeichnis von 1906: Kolonie Anusin-Dubnikskij (Nachbarort von Dubniki) im Wolost Werba, Ujesd Wladi- mir-Wolynsk mit 22 Höfen und 139 Einwohnern - 10 Werst bis Werba Zu finden auf der polnischen Karte P45-S38 WLODZIMIERZ, direkt nördlich von Wla- dimir-Wolynsk. Historischer Verein Wolhynien e.V., Forschungsstelle Wolhynien in der AGoFF

Das Messtischblatt aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende zeigt eine der sehr einfachen Kolonien, ein Straßendorf, an einem Weg gelegen, der südwärts nach Wladimir Wolynsk führt. An der - sicherlich unbefestigten - Dorfstraße und an dem vorbeiführenden Weg liegen die 22 Höfe, wobei offenbar nur diejenigen zum Dorf zählten, die südlich des Weges liegen, der hinüberführt zum Friedhof der Nachbarkolonie Dubniki. Gerodet ist offenbar nur der Bereich in der Nähe der Ansiedlungen, ansonsten ist der Wald noch stehengeblieben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

12. Skizze des Ortes Hanuszyn / Anusin

Die Deutschen hatten in ihren Dörfern eine weitgehende Selbstverwaltung, wählten in öffentlicher Abstimmung ihren Bürgermeister, der natürlich der russischen Kreisver- waltung unterstand und ihr rechenschaftspflichtig war und bei ihr die Steuern abzulie- fern hatte. Wenn es etwas Wichtiges zu entscheiden gab, wanderte ein Zettel mit Da- tum und Uhrzeit von Hof zu Hof und man traf sich dann in der Dorfversammlung zu Debatte und Abstimmung.

Sie hatten ihre eigenen Schulen, in denen - wie auch in ihren Kirchen - Deutsch gesprochen wurde. Im Dorf unseres Großvaters gab es allerdings weder eine Schule noch einen Pastor. Es ist davon auszugehen, dass die Kinder in der Zeit, in der sie nicht in den Landwirtschaft gebraucht wurden, in einem der größeren Nachbardörfer unterrichtet worden sind, zumindest die vier älteren: Michael, Ferdinand, Pauline und Auguste. Sicher ist das aber nicht. Viele Kinder wuchsen dort ohne jede Schulbildung auf, blieben Analphabeten. Die jüngeren haben dann weitgehend regulären Unterricht nach der Umsiedlung in Ostpreußen erhalten.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts gewannen in der russischen Politik am Hofe des Za- ren die so genannten ‚Slawophilen’, die „Slawenfreunde“, zunehmend an Einfluss. Sie hatten den Eindruck, dass die vielen Deutschen in den verschiedenen Gebieten des Reiches (man kann in Gesamtrußland von etwa 2,5 Millionen Deutschen ausgehen), vor allem in den Grenzbereichen, die gewünschte Russifizierung behindern könnten, dass die vielen deutschen Bauern im Gegenteil einer Germanisierung Vorschub lei- sten könnten. Sie forderten deshalb, das deutsche Bauerntum müsse zurückgedrängt werden - und sie hatten Erfolg. Im Laufe der Jahre wurden immer wieder neue Ge- setze erlassen, um den Deutschen das Leben zu erschweren. So mussten sie ab 1867 Steuern zahlen, 1874 hob man ihre Befreiung vom Wehrdienst auf (das war z.B. für die meisten Mennoniten der Anlass, nach Kanada auszuwandern), 1887 wurde das erste Fremdengesetz erlassen: Ausländern war es nun verboten, Land zu kaufen oder auch nur neu zu pachten, auslaufende Pachtverträge durften nicht verlängert werden. Die Reaktion darauf war unterschiedlich: Viele nahmen die russische Staats- bürgerschaft an, mehrere Zehntausend wanderten aus, zu diesem Zeitpunkt zum größten Teil nach Amerika. 1892 entzog man potentiellen Bauern noch weiter ihre notwendige Existenzgrundlage: Ausländer durften sich nur noch in Städten niederlas- sen.

Die deutschfeindliche Stimmung breitete sich aus und führte u.a. dazu, dass in den Schulen Russisch als Unterrichtssprache eingeführt wurde. In allen Dörfern, in allen Familien sorgten diese Veränderungen für Unruhe. Auch im Hause unseres Großva- ters Georg Klein wurde diskutiert: Wo sollte das alles hinführen? Würde man den Deutschen eines Tages ihr Land wegnehmen, sie ausweisen? Sollte man der Ge- fahr nicht zuvorkommen, Hof und Land verkaufen und auswandern, wie es Zehntau- sende taten? Aber nach dem Neubeginn in Galizien und dann hier in Wolhynien schon wieder alles stehen und liegen lassen, um wieder irgendwo in einem fremden Gebiet alles neu aufbauen zu müssen, das war hart, das war keine leichte Entscheidung. Dennoch rangen sich die Kleins zu genau dieser Entscheidung durch. Auslöser waren dramatische Veränderungen in der europäischen Politik, die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Großmächten Frankreich, England, Russland einerseits und Österreich und Deutschlands und der Türkei andererseits. Alle Zeichen standen schon bald nach der Jahrhundertwende auf Sturm, genauer gesagt: auf Krieg.

Georg Klein und viele andere erkannten die daraus resultierenden Gefahren für die Wolhynien-Deutschen und zog die Konsequenzen - ein paar Jahre bevor dann 1915 die Liquidationsgesetze erlassen wurden, die 240.000 bis 250.000 (die Zahlen variieren in der Literatur) Deutsche aus Wolhynien vertrieben.

Davon wird beim Schicksal unserer Mutter Genaueres zu berichten sein.

2.2.5. Großvater Georg Klein in Ostpreußen

1911 bereits ging unser Großvater zusammen mit seinen zwei ältesten Söhnen Michael und Ferdinand nach Ostpreußen. Den Hof in Wolhynien hatte er verkauft, (seine Familie behielt aber für zwei Jahre Wohnrecht), weil er die Zeichen der Zeit erkannt hatte und mit Recht davon ausging, dass es bald Krieg zwischen Deutschland und Russland geben würde, und weil er ahnte, welche Konsequenzen ein solcher Krieg für die in russischem Gebiet lebenden Deutschen haben könnte.

In den Jahren 1905 bis 1913 wanderten viele Wolhynien-Deutsche nach Ostpreußen aus. Da vor rund hundert Jahren zahlreiche Bauern aus diesem Bereich nach Wol- hynien gekommen waren, kannte man in den Dörfern dieses Gebiet zumindest vom Hörensagen - und möglicherweise ist die Reklame der Alldeutschen (einem Verband wie die Slawophilen), mit den Informationen über Ansiedlungsmöglichkeiten auf ost- preußischem Gutsland bis nach Wolhynien gedrungen - erste Zeitungen gab es dort bereits.

Man kann sich vorstellen, welche heftigen Diskussionen es in allen deutschen Dörfern über diese Frage gegeben haben wird. Auf der einen Seite standen die Skeptiker, die behaupteten, dass auch die Deutschen vor Ort in einem Krieg als Feinde angesehen würden, die man dann vielleicht in ferne Gebiete des Riesen-Zaren-Reiches ver- schleppen würde, auf der anderen Seite standen diejenigen, die darauf verwiesen, dass man hier doch schon seit vielen Jahrzehnten zusammenlebte, dass die Deutschen treue Untertanen des Zaren waren, ihre Steuern bezahlten und in großer Zahl sogar im russischen Heer dienten. Was sollte ihnen schon passieren? Man hatte hier doch sein gutes Auskommen! Anderswo müsste man sicher wieder ganz von vorne anfangen. Wer wüsste schon, was dran war an dem Gerede über die neuen Siedlungsstellen, die es in Ostpreußen geben sollte?

Georg Klein gehörte zu den Skeptikern, was die Behandlung der Deutschen hier in Wolhynien anging - und zu den Optimisten, was die versprochenen Siedlungsstellen in Ostpreußen betraf - mit Pferd und Wagen machte er sich auf den etwa 700 km weiten Weg und fand im südlichsten Zipfel Ostpreußens, in Przellenk, eine neue Heimat. Der Name „Przellenk“ ist unschwer als slawischen Ursprungs zu erkennen; im Gegensatz zu tausend anderen Ortsbezeichnungen ist er durch die Jahrhunderte beibehalten worden, selbst in ‚großdeutscher’ Zeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

13. Ortsschild Przellenk

Bevor ich unseren Großvater und seine Familie hier „heimisch“ werden lasse, möchte ich kurz auf die heißumstrittene Frage eingehen, wem denn nun eigentlich dieses Land gehör(te), wer historisch-legitimen Anspruch darauf hat: Deutsche oder Polen? Die Frage ist nicht nur von akademischer Bedeutung, sie spielte bei den Verhandlun- gen über die neue Staatswerdung des polnischen Reiches und speziell über das Staatsgebiet, das man den Polen zugestehen wollte/sollte, eine ganz wesentliche Rol- le.

In diesem Bereich Südostpreußens hatte der Deutsche Ritterorden seit dem 13. Jahr- hundert systematisch Burgen angelegt, hatte Land an Adlige verteilt, auf dem sie Gü- ter errichteten, und hatte um die Burgen herum deutsche Bauern angesiedelt, so dass abhängige „Zinsdörfer“ entstanden. Waren die ehemeligen Kreuzritter in ein leeres wildes unkultiviertes Land gekommen, das sie einfach in Besitz nehmen konnten, um dann aus Ödland Kulturland zu machen? Oder hatten sie dort schon lange ansässige Polen (bzw. deren Vorfahren) gewaltsam aus ihren Besitzungen vertrieben?

In einer Unzahl von deutschen und polnischen Schriften und Büchern und Debatten in Rundfunk und Fernsehen ist darüber gestritten worden. Bis heute sind die Differenzen nicht ausgeräumt, auch wenn man sich durch die Arbeit verschiedener Kommissionen auf manchen Kompromiss (auch in Bezug auf die neueste Geschichte der beiden Länder) hat einigen können: Sie haben Eingang in die Geschichtsbücher gefunden, was meines Erachtens erfreulich ist, weil es verhindern hilft, dass in den Kindern auf beiden Seiten die alten unsäglichen Vorurteile gegen das andere Land weitergetragen werden und mit historischen Pseudo-Argumenten und -beweisen alte Ansprüche am Leben erhalten werden, die jederzeit wieder in gefährliche politische Forderungen umgemünzt werden können.

Die deutsche Haltung fand ich sehr klar und mit viel Wissenschaft untermauert unter anderem in dem Buch von Fritz Gause, Geschichte des Amtes und der Stadt Soldau, Marburg 1958. Gause geht hier auf über 400 Seiten den Anfängen und der Geschich- te unseres Heimatbereiches nach - bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Es hätte wenig Sinn, hier alles auszubreiten, was er untersucht und herausgefunden hat, aber seine Zusammenfassung zu dem eben angesprochenen Punkt (die er in einem Vortrag 1959 in Bochum formulierte und vorn in seinem genannten Buch abgedruckt hat) will ich hier zitieren:

„ Das Land Sassen, in dem Neidenburg und Soldau gegründet wurden, war ein pru ß i- scher Gau (die „Prußen / Pruzzen“ sind ein slawischer Stamm und nicht mit den deut- schen „Preußen“ zu verwechseln!) und hat nie zu Polen gehört, auch nicht, bevor die Ordensritter nach Preu ß en kamen. (1257 verzichtete der polnische Herzog Kasimir von Kujawien auf alle Ansprüche auf dieses Land und gab es dem Deutschen Ritter- orden zur Besetzung frei.)

„ Das Land war, als der Orden es in Besitz nahm, Wildnis, die nur von Jägern und Fi- schern durchstreift wurde. Erst der Orden hat in ihm von der Komturei Christ- burg … aus zwei Pflegeämter, Soldau und Neidenburg, geschaffen und die Wildnis vom Jahre 1321 an, im Westen beginnend, kolonisiert, d.h. mit Burgen und Städten, Zins- dörfern und Gütern, Mühlen und Krügen besetzt. Eine Kette von Burgen sperrte die Flussübergänge, an denen dann Städte gegründet wurden … Im Jahre 1410 brach das gro ß e polnisch-litauische Heer von Süden her in Preu ß en ein, zerstörte Gilgenburg und marschierte auf das Schlachtfeld von Tannenberg (wo der Deutsche Ritterorden eine schlimme Niederlage erlebte) . Die Grenze blieb noch lange unruhig ( … )

„ Von Kämpfen der Ritter zur Besitznahme Sassens ist nichtsüberliefert - (so schreibt jetzt Fritz Gause in seiner eigentlichen Untersuchung) - Wahrscheinlich waren sie auch nicht erheblich, denn das Land war Wildnis, als der Orden von ihm Besitz ergriff. Von den meisten Gütern und Dörfern, die später das Land bedeckten, sind Handfe- sten [das sind Urkunden, in denen der Orden einem Adligen das Recht gibt, eine Burg/ ein Gut/ einen Ort/ eine Stadt zu gründen] erhalten oder bezeugt. Da in ihnen ausnahmslos Freijahre [das sind Jahre , in denen der Adlige bzw. der Ort keine Zinsen an den Orden zu zahlen braucht] gegeben sind, sind die Ortschaften auf unbesiedel- tem Land, das erst durch Rodung kultiviert werden musste und nicht durch Umlegung etwa bereits vorhandener prussischer Siedlungen entstanden … . Andererseits ist kein Zweifel, dass Sassen früher von einem prussischen Stamm bewohnt gewesen ist. Wo dieser geblieben sein und was zur Entvölkerung des Landes geführt haben mag, dar-über fehlen leider alle Nachrichten. Wir können nur vermuten, dass die Bevölkerung in den heftigen Kämpfen zwischen Prussen und Polen, bevor der Orden ins Land kam, teils zu Grunde gegangen, teils nach Norden ins Innere des Preussenlandes ausge wichen ist. Jedenfalls besteht hier ebenso wenig wie für die anderen Teile der Wildnis Grund zu der Annahme, dass der Orden die Bevölkerung ausgerottet und die Wildnis absichtlich als Grenzschutz angelegt hat.

„ Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts war also das spätere Amt Soldau eine von Wäldern bedeckte und von sumpfigen Flusstälern durchzogene Landschaft … Erst die deutschen Ritter haben dieses Land besiedelt und in den deutschen Herrschafts- und Kulturbereich einbezogen …“

Na bitte, das Land war also mehr oder weniger leer, als die Deutschen es mit Erlaub- nis des polnischen Herzogs in Besitz nahmen, und wo es Prußen/ Pruzzen gegeben hatte, waren sie bereits durch die Hand der Polen umgekommen oder nach Norden geflüchtet.

(Man schaue z.B. auch in das „Werk“ von Hans Schoeneich, Tausend Jahre Kampf im Osten, Leipzig 1933)

Die polnische Position ist die folgende:

Das Gebiet war seit je her durch slawische, genauer: durch prußische Völkerschaften bewohnt. Es war also keineswegs leer und wartete keinesfalls darauf, aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst zu werden.

Am Anfang der deutschen Besiedlung stand nach polnischer Meinung dann auch die Eroberung durch den Deutschen Ritterorden und das heißt, dort wurden bereits exi- stierende Bewohner mit Schwert und Feuer vertrieben, um Platz für eigene, deutsche Landsleute zu schaffen. Und das Erobern und Vertreiben gelte doch wohl - so die einsichtige Argumentation der Polen - zu allen Zeiten und an jedem Ort der Welt als UNrecht, auch wenn geschickte Propagandisten es immer wieder verstanden hätten, Gründe zu erfinden, dieses Unrecht zu einem „guten Recht“ umzudefinieren. So hat- ten die Kreuzritter damals argumentiert, sie hätten die Pflicht, den christlichen Glau- ben und ihre höhere Kultur gegen die heidnischen und privimiten Pruzzen durchzuset- zen, natürlich auch mit Gewalt.

(Und mit exakt denselben Argumenten haben bekanntlich später die Europäer in Nord- und Südamerika die Indianer weitgehend ausgerottet und die Schwarzen in Afrika versklavt - als Träger des wahren Glaubens und der höheren Kultur.)

Wie man sieht, beschreiben und bewerten beide Völker die Geschichte der Frühzeit sehr unterschiedlich. Ich will nun nicht die müßigen und dennoch immer wieder aus- gebreiteten Argumentationen weiterverfolgen, ob die deutschen Bauern durch die Kul- tivierungsarbeit einen dauerhaften und moralisch einwandfreien Anspruch auf dieses Land erworben haben oder ob man den Deutschen im 20. Jahrhundert vorwerfen kann, dass ihre Vorfahren im 13. und 14. Jahrhundert eventuell Gewalt eingesetzt ha- ben oder ob andererseits die Polen im 20. Jahrhundert im rechtlichen Sinne Nachfah- ren und Erben der slawischen Pruzzen in eben dieser Zeit waren und damit das ältere Anrecht auf das Land besitzen…

Ich weiß, ich habe die Frage, wem denn nun das Land eigentlich gehört, nicht wirklich beantwortet. Ich denke, das kann man auch nicht seriös tun - und man braucht es auch nicht. Wann wird man endlich einsehen, wie wenig sinnvoll und zielführend sol- che Debatten sind? Es wäre doch in all den Jahrhunderten Platz für beide Völker vor- handen gewesen. „Europa“ ist da endlich ein hoffnungsvoller Ansatz zur Überwindung dieser nationalistischen Denkansätze, die stets nur Hass und Mord und Totschlag zur Folge hatten - wir werden leider mehrfach davon zu hören bekommen…

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

14. Google-Earth-Bild: Das Stra ß endorf Przellenk

Ich liefere nun einen kurzen Überblick über die Geschichte „unseres“ Dorfes, damit der Leser weiß, in welch einem Gemeinwesen die Kleins gelebt haben.

1232 entstand der Ort Kulm, und der Hochmeister des Deutschen Ritterordens gab im folgenden Jahr bereits die „Kulmer Handfeste“ heraus, ein Dokument, das ein Stadt- recht nach dem Vorbild Braunschweigs und gleichzeitig sehr günstige Rechte für Adli- ge und Siedler, Bauern und Bürger, enthielt und ein einheitliches Münz- und Maß- Recht festschrieb. Dieses Kulmer Recht wurde maßgeblich für das ganze Ordensland - auch für unser kleines Przellenk.

Die ersten Informationen über unser Dorf stammen aus einem Vertrag vom 3. April 1328, in dem der Komtur Christburg Luther von Braunschweig, also der Verwalter der Provinz für den Deutschen Ritterorden, den beiden Adligen Claus von Seelen und Walter von Faulenbruch 80 Hufen für zwei Dienstgüter übergab: Daraus entstanden die Güter Grodtken und Przellenk. [Eine „Hufe“ ist eine Siedlerstelle mit dem dazuge- hörigen Land. Sie umfasst ca. 17 ha, also etwa 34 Fußballfelder, ist aber je nach Qua- lität des Bodens etwas unterschiedlich bemessen, aber stets so, dass ein normaler Bauer davon gut leben kann. 40 Hufen sind also ein schönes Stück Land für ein Gut.]

Im Zinsbuch des Jahres 1437 werden die Güter Klein Przellenk, Groß Przellenk und Grodtken als Güter nach Kulmer Recht genannt. Aus dem Jahre 1583 liegen Informa- tionen über die Aufteilung der Ländereien vor, die Güter Klein und Groß Przellenk ha- ben Ländereien an vier Junker weiter vergeben, 16 freie Bauer wohnen dort und 31 Hufen sind mit abhängigen Bauern besetzt. Aus dem Jahre 1755 sind Teil-Verkäufe aus beiden Gütern an die Adligen von Kleist und von Sternberg bekannt. Das Jahr 1820 bringt eine neuerliche Änderung: 38 Hufen aus Groß Przellenk und 19 Hufen aus Klein Przellenk werden zu einem Gut zusammengelegt und kommen in den Be- sitz der Familie Küchmeister von Sternberg, einem fränkischen Grafengeschlecht; der Rest von Klein Przellenk wird ein unabhängiges Dorf mit 19 Hufen, die sich zehn (gut gestellte) Bauern teilen.

In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam das Gut Groß Przellenk dann mit dem Vorwerk Arthushof und dem Nachbargut Grodtken durch Erbfolge an die Adlige Gottliebe von Boddin, geborene von Wulffen. Sie bewirtschaftete die Güter bis 1913. Der Wald wurde von einem Gutsförster betreut, die evangelischen Gemeindemitglie- der gehörten zur Kirche in Heinrichsdorf (wo unser Vater denn auch konfirmiert wur- de), für die Katholiken bestand eine Filialkirche in Groß Przellenk. Hier gab es auch eine einklassige Volksschule.

1913 teilte Frau Boddin das Gut Groß Przellenk auf und verkaufte es weitgehend an die Ostpreußische Landgesellschaft. Sie selbst behielt das Restgut mit 1200 Morgen Ackerland und 250 Morgen Wiesen. [Ein Morgen entspricht in Preußen 2550 m², also etwa einem halben Fußballfeld; sie hatte demnach eine Fläche von gut 700 Fußball- feldern - ausreichend, aber für preußische Verhältnisse nicht riesig.] Am 1. Juli 1917 erwarb Friedrich Riemer dieses Gut und behielt es bis zum Ende des Zweiten Welt- krieges…

Die ostpreußische Landgesellschaft machte aus dem erworbenen Land 37 Siedlerstellen in den Gemarkungen Klein und Groß Przellenk. Das war in ganz Ostpreußen ab 1910 üblich. Die Ländereien mussten käuflich erworben werden und hatten eine einheitliche Größe von etwa 20 ha - also etwa 40 Fußballfeldern. In Przellenk war nur der Arthushof [also das ehemalige Vorwerk des Gutes] deutlich größer.

Zu den Neusiedlern, die hier in Przellenk ein Grundstück von der Ostpreußischen Landgesellschaft erwarben, gehörte unser Großvater Georg Klein.

Offensichtlich, so hatte ich auf Grund meiner bisherigen Geschichtskenntnisse immer gedacht, handelte es sich bei diesen Güteraufteilungen um Aktionen, die in der Nach- folge der großen Landreformen und Bauernbefreiungen des 19. Jahrhunderts stan- den. Man wollte mit diesen Aktionen auch der zunehmenden Auswanderung nach Amerika entgegenwirken, so hatte ich gedacht - bis ich dann durch die Lektüre einer Quellensammlung für den Geschichtsunterricht an Schulen mit dem Thema „Deutsch- land und Polen von der ersten polnischen Teilung (1772) bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs (1914) ein ganz anderes, weit weniger erfreuliches und sehr nationali- stisch geprägtes Bild gewann:

Schon 1752 hatte der Preußenkönig Friedrich „der Große“ geschrieben, man müsse sich beim Tod des jeweiligen polnischen Königs die Zerrissenheit des Landes durch Parteikämpfe bei der Vorbereitung einer Neuwahl des nächsten Königs [ Polen besa ß ein Wahlkönigtum ] „ zunutze machen und … bald eine Stadt, bald ein anderes Gebiet erwerben , bis man alles geschluckt hat “ .

Seine Nachfolger hielten an dem Ziel, möglichst alles zu schlucken, fest, waren aber in der Wahl der Mittel nicht so zimperlich, zumal die beiden anderen Nachbarn Polens - Österreich und Russland - auch ihren Teil der polnischen Beute haben wollten und sich dann auch in verschiedenen Kriegen holten: In drei Teilungen, 1772, 1793 und 1795, wurde der polnische Staat von diesen drei Mächten annektiert, verschwand von der Landkarte - aber nicht aus den Köpfen und Herzen der polnischen Menschen, und das war lästig für die drei Herrscher, den russischen Zaren, den österreichischen Kaiser, den preußischen König.

Als im 19. Jahrhundert der Nationalismus in ganz Europa stark wurde, gab es auch in Polen Aufstände gegen die Fremdherrschaft der Deutschen und Österreicher und Russen - man wollte wieder einen polnischen Staat unter eigener, polnischer Herr- schaft.

Hier soll nun nicht die ganze bittere Leidensgeschichte der Polen ausgebreitet werden. Nur der kleine deutsch-polnische Ausschnitt, der letztendlich unserem Großvater zu seiner Parzelle in Przellenk verhalf, wird hier dargelegt.

In den neu erworbenen polnischen Gebieten und auch in den deutsch-polnischen Mischgebieten und ebenso in den alten Reichsteilen mit polnischen Minderheiten (also auch in Ostpreußen) war gegen Ende des Jahrhunderts die erklärte Politik Preußens und des ganzen Deutschen Reiches, das deutsche Element zu stärken und das polni- sche entsprechend zurückzudrängen, eingedenk des polnischen Spruches, den ich in den Memoiren Bismarcks, des Kanzler des neu geschmiedeten deutschen Kaiserrei- ches, zitiert fand: „ Jak swiat swiatem … .. “ zu Deutsch: „ Solange die Welt Welt sein wird, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein “ . Sprüche gleichen unversöhnli- chen Inhaltes kann man allerdings auch in deutschen Reden und Veröffentlichungen finden.

In zwei Bereichen vor allem wurden man aktiv, um das deutsche Element zu stärken, weil man sich hier eine besonders intensive Wirkung versprach: in der Schulpolitik und im Bereich des Landbesitzes.

Bereits zwei Jahre nach der Reichsgründung, am 27. 10. 1873, kam ein Erlass des preußischen Oberpräsidenten zur Abschaffung der polnischen Unterrichtssprache in der ehemals polnischen Provinz Posen heraus (in den anderen Provinzen war es ähn- lich oder zeitverschoben identisch). „ In allen Lehrgegenständen, mit Ausnahme der Religion und des Kirchengesanges, ist die Unterrichtsprache deutsch “ , hieß es da im ersten Paragraphen.

Als man dann um die Jahrhundertwende auch noch versuchte, den polnischsprachigen Religionsunterricht abzuschaffen, kam es zu jahrelangen Schulstreikaktionen, gegen die die preußischen Behörden mit aller Härte vorgingen.

In Sachen Grundbesitz förderte man die Ansiedlung deutscher Bauern. Zu diesem Zweck drängte man die polnischen Großgrundbesitzer dazu, ihre Güter zu verkaufen; der preußische Staat kaufte sie auf, parzellierte sie und verkaufte sie an Deutsche. In den ersten Jahrzehnten ging das alles nach Recht und Gesetz vor sich. Da die preußische Verfassung von einsichtigen Leuten formuliert worden war und daher allen Staatsbürgern, Polen wie Deutschen, dieselben Rechte und Pflichten einräumte und die Unantastbarkeit des Privateigentums garantierte, konnten die Polen relativ frei entscheiden, ob sie verkaufen wollten oder nicht. Man half hier nur von deutscher Sei- te ein wenig nach, indem man am 26. 4. 1886 ein „ Gesetz betr. die Beförderung deutscher Ansiedlungen “ herausgab, auf Grund dessen der Staat 100. 000. 000 Mark bereitstellte (die Summe wurde dann verdoppelt und 1902 sogar auf 350.000.000 er- höht), um möglichst vielen kleinen Leuten den Land-Kauf zu ermöglichen.

Um die Jahrhundertwende gewannen der „Alldeutsche Verband“ und der „Deutsche Ostmarkenverein“ zunehmend an Einfluss auf die deutsche öffentliche Meinung und auch auf die Politik: Sie forderten und erreichten eine Verschärfung der nationalisti- schen antipolnischen Politik - und hier findet man bereits in den Aktionen und Argu mentationen Vorstellungen, die eine Generation später unter Adolf Hitler ihre konsequente und schreckliche Vollendung erfahren.

Eine Ansiedlungskommission wurde gegründet, die 1911 in ihrem Bericht davon sprach, man müsse darauf verzichten, Deutsche einzeln verstreut wohnen zu lassen, weil das „ zu einer Verpolung oder Inzucht “ geführt habe. Man müsse die neuen An- siedler in „ gro ß en leistungsfähigen Gemeinwesen “ zusammenfassen, damit sich „ das deutsche Leben um so kräftiger entwickelt und das Eindringen des polnischen Einflus- ses unterbleibe “. Auch müsse „ die richtige Blutmischung in Rechnung gezogen wer- den. Durch Kreuzung der verschiedenen Landsmannschaften wird allmählich ein ganz neuer deutscher Bauernschlag entstehen, der hoffentlich wie alle ver- nünftigen Kreuzungen eine wetterfeste Rasse hervorbringt …“

Bis 1910 hatte der Verein 343 000 ha aufgeteilt und Hunderte von neuen deutschen Dörfern gegründet, 19 000 Familien waren angesiedelt worden.

Wenn man neue deutsche Siedlungen förderte, so war es nur konsequent, dass man umgekehrt die polnischen Gemeinden behinderte oder - wenn möglich - gar nicht erst entstehen ließ. Da viele Polen nach Deutschland in das Ruhrgebiet umgezogen waren (noch heute gibt es dort bekanntlich zahlreiche Jablonskis und Jaruselskis), dort in jahrelanger Arbeit ein kleines Vermögen zusammengebracht hatten, nun mit dem Geld in ihre Heimat zurückgingen, um dort ein Grundstück zu kauften und einen Hausstand und Hof zu gründen, schuf man am 10. 8. 1904 das sogenannte „Feuer- stättengesetz“, das es den Polen verbot, außerhalb schon bestehender Ortschaften neue Ansiedlungen zu gründen. Die „ feindliche Konkurrenz “, so formulierte man in Preußen ungeniert, sollte „ gelähmt “ werden.

Die Polen reagierten darauf mit solidarischen Gegenaktionen: Sie weigerten sich nach diesem Gesetz, ihr Land zu verkaufen, und die deutsche Ansiedlungskommission hat- te immer mehr Probleme, polnische Güter aufzukaufen und für die deutschen Neu- siedler zu parzellieren. Und so ging der Staat dazu über, deutsche Gutsbesitzer zur Parzellisierung eines Teils ihres Grundbesitzes zu bewegen, um auf diesen Territorien möglichst viele deutsche Familien anzusiedeln und so das Deutschtum zu stärken:

In diesem ideologisch-nationalistischen und antipolnischen Zusammenhang ist die Aktion in Przellenk zu sehen, die meinem Großvater und einer großen Zahl weiterer Deutscher - auch vieler Verwandter der Kleins - den Grundstückserwerb und den Auf- bau eines Bauernhofes ermöglichte. Man muss fairerweise hinzufügen, dass dem ein- zelnen Deutschen, der dort die Chance ergriff, sich eine Existenz aufzubauen, wohl kein Vorwurf zu machen ist.

Da die deutschen und natürlich auch die polnischen Gutsbesitzer nicht auf den Kopf gefallen waren und sahen, dass die staatlichen Kommissionen fast jeden Preis für große landwirtschaftliche Areale zahlten, stiegen die Grundstückspreise in schwin- delnde Höhen. Das brachte die radikalen Nationalisten auf die Idee - Verfassung hin, Verfassung her! - eine Ausnahmeregelung für (oder besser: gegen) die Polen zu schaffen, sprich: ein Enteignungsgesetz für polnischen Grundbesitz einzuführen. Die vielen dagegen protestierenden Abgeordneten wurden damit beruhigt, man wolle ja den kleinen polnischen Grundbesitz nicht antasten, es gehe nur um die großen Güter, man wolle auch niemanden drangsalieren. So manch einer war aber nicht zu über- zeugen, hatte seine Bedenken, ob denn jeder Enteignete „ gutwillig und ohne Polizei- hilfe aus seinem Gute an die Luft zu befördern sein würde “, wie es ein Abgeordneter formulierte. Schließlich setzten sich die Befürworter mit der Argumentation durch, das neue Gesetz stehe „ nicht im Widerspruch mit der Reichsgesetzgebung und ebenso wenig mit der preu ß ischen Verfassung. Nach Artikel 9 ist das Eigentum unverletzlich und darf nur genommen werden gegen Entschädigung im Interesse desöffentlichen Wohls. Die Vorlage steht nun aber auf dem Boden, dass dasöffentliche Wohl diese Ma ß nahme erfordert …“ Das war doch logisch schlüssig, oder? So wurde das Enteig- nungsgesetz am 20. März 1908 beschlossen. In einer Graudenzer Zeitung erschien

als Reaktion darauf der folgende polnische Kommentar:

Die Deutschen morden unsere Seele,

impfen den Kindern preu ß ischen Geist ein, germanisieren sie mit der Knute. Und jetzt rauben sie uns den Boden. Diesen Raub nennen sie Enteignung Und nennen die Vergiftung der Seele ‚ Verbreitung der Kultur ’ . “

Georg Klein erhielt ein Stück Land am Ortsausgang, nahe der Grenze zu „Kongress- polen“, wie man das Polen zu nennen pflegte, das 1815 auf dem Wiener Kongress entstanden war und vom russischen Zaren verwaltet wurde. Dort richtete er sich mit seinen Söhnen ein, dort hatte er wieder Pionierarbeit zu leisten, fast so wie einst in Wolhynien. Er entwässerte Teile des nassen Landes, er rodete Teile des Waldes und half beim Hofbau mit, der zentral von großen Firmen der Ansiedlungskommission durchgeführt wurde: Ein Wohnhaus entstand zur Straße hin, an der linken Seite ein Wagenschuppen, gegenüber ein Stall, davor kam später die Schmiede und nach hin- ten hin, wo das Land lag, eine Scheune. Der Giebel zeigt heute noch die Jahreszahl der Fertigstellung: 1913.

Hier waren allerdings die Rahmenbedingungen wesentlich besser gewesen als da- mals in Wolhynien: Man konnte in den Scheunen des Gutes nächtigen, brauchte sich keine Erdwohnungen zu schaffen und hier standen bessere Maschinen Verfügung.

Als die Gebäude bezugsfertig waren, holten sie die restliche Familie aus Wolhynien nach.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

15. Das Foto zeigt das Haus unseres Gro ß vaters. Die Zahl „1913“ oben im Giebel ist leider nicht zu erkennen. In diesem Haus haben jahrelang unsere Eltern mit gewohnt, hier sind auch die ersten fünf Kinder geboren worden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

16. Das Bild zeigt die ganze Hofanlage unseres Gro ß vaters. Vorn im Garten - hinter dem Baum in der Bildmitte, also rechts neben Erna, Erich, Irmgard - stand die Schmiede, von der nichts mehr übrig ist. Es ist die Schmiede, die die Titelseite dieses Buches ziert.

2.2.6. Im Ersten Weltkrieg

Über die Zeit im Ersten Weltkrieg gibt es wieder nur wenige Informationen. So weiß ich nichts darüber, wie die auf der folgenden Kopie abgebildete Verteilung der Höfe zustande kam, offensichtlich sind die drei Kleins meine Onkel. Wann haben sie diese Häuser erworben?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

17. Übersichtüber die Verteilung der Siedlerstellen im Stra ß endorf Przellenk. Unten rechts im Bild ist der alte Rest-Gutshof Gr. Przellenk zu sehen, links Klein Przellenk .

Aus den Memoiren des Erich von Ludendorff, der zusammen mit Generalfeldmar- schall von Hindenburg die Kämpfe in Ostpreußen leitete, weiß ich, dass der Bereich, in dem Georg Klein und seine Familie wohnten, im Zusammenhang mit den Kämpfen gegen die Russen eine zentrale Rolle spielte. Hier fanden die Auseinandersetzungen statt, die unter dem Namen „Schlacht bei Tannenberg“ ins Bewusstsein der Deut- schen und in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Wie man weiß, gelang es den Deutschen hier, den Russen eine vernichtende Niederlage beizubringen und erst ein- mal aus Ostpreußen hinauszudrängen. (Die Deutschen dankten es Hindenburg, in- dem sie ihn nach dem Krieg zum Reichspräsidenten wählten, der dann als Politiker versagte und einen Teil der Schuld daran trug, dass Hitler zum Kanzler der Deutschen aufsteigen konnte.) Die Russen kamen allerdings wieder, viermal insgesamt standen sie auf dem Boden des Soldauer Gebietes und viele Bewohner sind jedes Mal vor ih- nen geflohen, um dann wieder auf ihre Höfe zurückzukehren, wenn die deutschen Truppen den Feind wieder vertrieben hatten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

18. Karte:Tannenberg - Lensk

[...]

Ende der Leseprobe aus 203 Seiten

Details

Titel
"Weißt Du noch?"
Untertitel
Zur Geschichte der Familie Klein. Wolhynien, Sibirien, Ostpreußen
Autor
Jahr
2013
Seiten
203
Katalognummer
V213416
ISBN (eBook)
9783656416005
ISBN (Buch)
9783656416579
Dateigröße
16714 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
weißt, geschichte, familie, klein, wolhynien, sibirien, ostpreußen
Arbeit zitieren
Horst Klein (Autor:in), 2013, "Weißt Du noch?", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/213416

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: "Weißt Du noch?"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden