Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Theoretische Fundierung
2.1 Nachrichtenwert und Nachrichtenauswahl
2.2 Informationsverarbeitung und Nachrichtenproduktion
2.3 Generic Framing
2.4 Zwischenfazit
3. Vom Nachrichtenwert zum Frame
3.1 Nachrichtenfaktoren und Medienframes
3.2 Implikationen
4. Fazit und Ausblick
5. Quellenverzeichnis
1. Einführung
Medien konstruieren Realität. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich Generationen von Forschern mit den Systematiken und Rahmenbedingungen journalistischer Arbeitsweisen auseinandergesetzt, denn Journalisten bilden die Schnittstelle zwischen realem Umweltgeschehen und dessen Darstellung in den Medien. Sowohl bei Untersuchungen zur Nachrichtenselektion, bei Studien zur redaktionellen Informationsverarbeitung als auch bei der Analyse der finalen Berichterstattung geht es primär um die Ergründung und den Nachvollzug journalistischer Entscheidungsprozesse: Welche Ereignisse schaffen es aus welchem Grund, auf welchem Weg und auf welche Weise in die Berichterstattung, und wie werden sie dargestellt?
Eines der meistzitierten, aber auch in hohem Maße kritisch hinterfragten Theoriegebäude der Journalismusforschung ist die Nachrichtenwerttheorie. Im Kern besagt diese, dass sich der Nachrichtenwert eines Ereignisses anhand bestimmter Nachrichtenfaktoren bemessen lässt. In der zeitgenössischen Framing- Forschung existiert mit dem ‚Generic Framing‘ ein Konzept, dessen empirische Ausprägungen stark an die aus der Nachrichtenwerttheorie bekannten Nachrichtenfaktoren erinnern. Bei ‚generischen Frames‘ handelt es sich um wiederkehrende Muster in der journalistischen Berichterstattung, welche nachweislich unabhängig von Ereignisund Beitragstyp aufzufinden sind.
Zwar sind Nachrichtenwerttheorie und ‚Generic Framing‘-Konzept auf gänzlich verschiedenen Analyseebenen zu verorten – erstgenanntes bezieht sich auf die journalistische Nachrichtenselektion und zweites auf den Darstellungsmodus auf Textebene. Dennoch rekurrieren beide Konzepte auf zwei aufeinander aufbauende journalistische Auswahlprozesse, die schwerlich ohneeinander zu denken sind: Was wird warum ausgewählt? Und wie wird es anschließend aufbereitet? So stellt sich aufgrund dieser Folgelogik und der auffallenden Ähnlichkeit von Nachrichtenfaktoren und generischen Frames an dieser Stelle die Frage, ob es sich bei letztgenannten möglicherweise um die textuelle Umsetzung von Nachrichtenwert in journalistische Beiträge handelt. Und zudem, ob der Nachrichtenwert eines Ereignisses möglicherweise grundsätzlich dessen Framing in der Berichterstattung determiniert.
Im Rahmen dieser Arbeit soll auf der Basis der einschlägigen Theorieliteratur diskutiert werden, ob, warum (bzw. warum nicht) und inwiefern das Konzept des ‚Generic Framing‘ möglicherweise als Weiterführung der Nachrichtenwerttheorie auf der Ebene konkreter journalistischer Inhalte zu sehen ist. Es soll die
Anschlussfähigkeit des ‚Generic Framing‘-Konzepts an die Erkenntnisse der Nachrichtenwertforschung geprüft sowie aufgezeigt werden, an welcher Stelle eine tiefergehende empirische Auseinandersetzung zur Verknüpfung beider Konzepte sinnvoll erscheint.
2. Theoretische Fundierung
Der Weg einer Meldung von der Ereignisauswahl über die redaktionelle Verarbeitung bis hin zur finalen Präsentation in Form von (Text-)Beiträgen ist komplex und durchläuft mehrere Phasen, welche wiederum jeweils im Fokus verschiedener kommunikationswissenschaftlicher Forschungsinteressen stehen. Um eine fundierte, nachvollziehbare Verknüpfung und Diskussion der dahinterstehenden Theoriegebäude leisten zu können, werden diese im Folgenden zunächst überblicksartig dargestellt und erläutert.
2.1 Nachrichtenwert und Nachrichtenauswahl
Bei der kommunikationswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit journalistischen Arbeitsprozessen kommt Theorien der Nachrichtenauswahl eine große Bedeutung zu. Bereits 1922 legte Walter Lippmann dar, dass Nachrichten nicht die Realität widerspiegelten, sondern das Ergebnis von auf journalistischen Konventionen beruhenden Selektionsentscheidungen seien (vgl. Lippmann 1922: 338ff). Lippmann stellt erstmals die Frage nach den Kriterien, welche den publizistischen Wert (news value) einer Nachricht bestimmen, und identifiziert zunächst folgende: Nähe , Prominenz , Überraschung und Konflikt .
Aufgegriffen und weiterentwickelt wurde das Konzept Lippmanns in der europäischen Nachrichtenwertforschung von Östgaard (vgl. Östgaard 1965), Galtung und Ruge (vgl. Galtung/Ruge 1965). Östgaard sieht Nachrichtenfaktoren als spezifische Merkmale von Ereignissen, die deren Nachrichtenwert bestimmen, und identifiziert drei zentrale Tendenzen journalistischer Berichterstattung:
Die Chance einer Meldung, von den Massenmedien berichtet zu werden, sei um so größer, je einfacher die Meldung strukturiert sei, je mehr Identifikationsmöglichkeiten sie den Rezipienten biete und je sensationalistischere Momente sie enthalte. (Staab 1990: 57)
Galtung und Ruge differenzieren bereits zwischen acht kulturunabhängigen und vier kulturabhängigen Faktoren (vgl. Galtung/Ruge 1965: 64-91). Wie Lippmann und Östgaard sehen auch Galtung und Ruge Nachrichtenfaktoren als ereignisimmanente Eigenschaften an. Diese seien sowohl additiv (je mehr Faktoren zutreffen, desto publikationswürdiger ist ein Ereignis) als auch komplementär (ein Faktor kann das Fehlen eines anderen kompensieren) zu verstehen.
Eine theoretische Neuorientierung liefert Schulz (vgl. Schulz 1976: 25ff). Dieser sieht die Nachrichtenfaktoren nicht mehr als feststehende Merkmale von Ereignissen an, sondern als „journalistische Hypothesen von Realität“ (ebd.: 30). In Abkehr von den bisherigen Annahmen der Nachrichtenwerttheorie weist Schulz erstmals Journalisten eine aktive und daher entscheidende Rolle bei der Nachrichtenauswahl zu:
Je mehr eine Meldung dem entspricht, was Journalisten für wichtige und mithin berichtenswerte Eigenschaften der Realität halten, desto größer ist ihr Nachrichtenwert. (ebd.)
Schulz aktualisiert und erweitert die vorhandenen Faktorenkataloge auf der Basis eigener Forschungen schließlich auf insgesamt 20 Nachrichtenfaktoren in sechs Dimensionen (vgl. Schulz 1977, Darstellung in Anlehnung an Staab 1990: 86ff):
Status: Beteiligung von Elite-Nationen, Beteiligung von Elite-Personen, institutio- neller Einfluss
Die Faktorendimension Status umfasst die politische und wirtschaftliche Macht der an einem Ereignis beteiligten Nationen, Personen und Institutionen.
Relevanz: Nähe, Ethnozentrismus, Tragweite, Betroffenheit
Die Faktorendimension Relevanz beinhaltet die Entfernung (geografisch, politisch, kulturell) eines Ereignisorts zum Redaktionssitz, den Bezug eines Ereignisses zur Landeskultur, die Bedeutsamkeit eines Ereignisses sowie seine Konsequenzen für die Rezipienten.
Dynamik: Frequenz, Vorhersehbarkeit, Ungewissheit, Überraschung
Die Faktorendimension Dynamik umfasst den Tagesbezug eines Ereignisses, seine Erwartbarkeit, die Unklarheit über Konsequenzen und Verlauf sowie eine mögliche Erwartungswidrigkeit des Verlaufs.
Konsonanz: Kontinuität, Thematisierung, Stereotypie
Die Faktorendimension Konsonanz benennt die Beobachtungsdauer eines Ereignisses in der Medienberichterstattung, seinen Bezug zu einem übergeordneten, kohärenten Ereignisrahmen sowie die Entsprechung des Verlaufs mit etablierten Ereignismustern.
Valenz: Aggression, Kontroverse, Erfolg, Werte
Zur Faktorendimension Valenz gehören die Gewaltsamkeit eines Ereignisses, die Intensität von Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen, das Ausmaß hervorgerufener positiver Veränderungen sowie ein möglicher Verstoß gegen gesellschaftliche Werte und Normen.
Human Interest: Personalisierung, Emotionalisierung
Die Faktorendimension Human Interest umfasst die Beteiligung von Personen an einem Ereignis sowie die Intensität ihrer emotionalen Äußerungen und Erfahrungen.
Seit den Veröffentlichungen von Schulz wurden die Konzepte von Nachrichtenwert und Nachrichtenfaktoren stetig weiter kritisch hinterfragt und diskutiert. So weist u.a. Kepplinger (vgl. Kepplinger 1998: 31ff) auf den ‚Zwei-Komponenten- Charakter‘ der Nachrichtenwerttheorie hin, demzufolge Nachrichtenfaktoren allein nicht die komplexen Prozesse erklären können, welche hinter der redaktionellen Ereignisauswahl stehen. Eine ähnliche Sichtweise formulierte auch Staab (vgl. Staab 1990: 93ff), welcher die mehrdimensionale Anwendbarkeit von Nachrichtenfaktoren in journalistischen Auswahlprozessen betont. So stellt Staab dem etablierten Verständnis von Nachrichtenfaktoren als unabhängigen Auswahlkriterien (Kausalmodell) ihre Rolle als Instrumente zur Realisation einer vorgegebenen redaktionellen Linie durch gezielte Ereignisauswahl sowie ihre Bedeutung bei der nachträglichen Legitimation bereits getroffener Auswahlentscheidungen gegenüber (Finalmodell).
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