Überfordert, erschöpft und unaufmerksam?

Der Diskurs um den Zusammenhang zwischen den Neuen Medien und dem körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden.


Magisterarbeit, 2012

100 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Hintergründe der Arbeit und Erläuterung des Titels
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Medienwandel und Gesellschaftswandel: Das Mediatisierungskonzept nach Friedrich Krotz
2.1 Kommunikation, Medien und Neue Medien
2.1.1 Kommunikation
2.1.2 Medien
2.1.3 Neue Medien
2.2 Grundannahmen des Mediatisierungskonzepts
2.3 Fokus: Entgrenzung
2.3.1 Räumliche Entgrenzung - Allgegenwart und Mobilisierung
2.3.2 Zeitliche Entgrenzung - Beschleunigung und Flexibilisierung
2.3.3 Soziale Entgrenzung - Anytime, anywhere, everything
2.4 Die Mediatisierung im Kontext anderer Metaprozesse
2.5 Zusammenfassung

3 Diskurse um den Medienwandel
3.1 Das Diskursverständnis dieser Arbeit
3.2 Die Bedeutung von Mediendiskursen
3.3 Mediendiskursgeschichte
3.3.1 Nostalgie und die Dämonisierung des Neuen
3.3.2 Kontrollverlust
3.3.3 Informationsüberflutung, Reizüberflutung und gesundheitliche Auswirkungen
3.4 Zusammenfassung

4 Zwischenresümee

5 Gegenstand, Methodik und Vorgehensweise
5.1 Gegenstand und Materialgrundlage
5.2 Diskursforschung
5.3 Methodische Orientierung
5.4 Vorgehensweise
5.4.1 Strukturanalyse
5.4.2 Feinanalyse

6 Analyseergebnisse
6.1 Ergebnisse der Strukturanalyse
6.1.1 Strukturanalyse Miriam Meckel
6.1.2 Strukturanalyse Frank Schirrmacher
6.1.3 Strukturanalyse Christoph Koch
6.1.4 Strukturanalyse Alex Rühle
6.1.5 Übergreifende Strukturanalyse
6.2 Ergebnisse der Phänomenstrukturanalyse
6.2.1 Phänomenstruktur Miriam Meckel
6.2.2 Phänomenstruktur Frank Schirrmacher
6.2.3 Phänomenstruktur Christoph Koch
6.2.4 Phänomenstruktur Alex Rühle
6.3 Ergebnisse der Deutungsmusteranalyse
6.3.1 Deutungsmuster bei Miriam Meckel
6.3.2 Deutungsmuster bei Frank Schirrmacher: Die Neuen Medien als Bedrohung ...
6.3.3 Deutungsmuster bei Christoph Koch
6.3.4 Deutungsmuster bei Alex Rühle
6.3.5 Zusammenfassende Interpretation der Ergebnisse

7 Resümee und Ausblick

8 Anhang
8.1 Kategorientabelle Meckel
8.2 Kategorientabelle Schirrmacher
8.3 Kategorientabelle Koch
8.4 Kategorientabelle Rühle
8.5 Übergreifende Kategorientabelle

9 Quellenverzeichnis

Einleitung

1.1 Hintergründe der Arbeit und Erläuterung des Titels

Seit einigen Jahren scheint eine neue Epidemie die Industrieländer heimzusuchen: Stress, Erschöpfung und Depressionen - meist zusammengefasst unter dem Namen Burnout-Syndrom. Die Zahlen erscheinen eindeutig und zugleich mehr als besorgniser- regend: So ergab beispielsweise eine Studie der Krankenkasse AOK, dass jeder zehnte Fehltag am Arbeitsplatz 2010 mit akuter Erschöpfung und Depression begründet wor- den sei, was im Vergleich zu 1999 einen Anstieg von 80 Prozent bedeute (vgl. Bor- chardt 2011). Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress inzwischen sogar zu „einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts“ erklärt (vgl. z. B. Ruess/Mai 2007). Auf der Suche nach Gründen für diese Erschöpfungswelle sind die Hypothesen vielfältig, ein Verweis auf die Neuen Medien und die Folgen der Digitalisierung fehlt darunter jedoch nur selten.

So wird beispielsweise in einem Beitrag einer Ausgabe von Spiegel Wissen zum Thema Burnout erklärt: „Nach Ansichten vieler Experten aber hat das Leben in der digitalen, beschleunigten Gesellschaft seinen Preis. Der Stresslevel hat sich anscheinend bei den meisten Menschen erhöht.“ (Gatterburg 2011: 13 f.). Auf Taz.de ist zu lesen, das Burn- out-Syndrom habe „mit den neuen sozialen Medien (…) ein neues Gesicht bekommen. Ein Überangebot von Möglichkeiten führt bei manchen zu Reizüberflutung, sinkender Aufmerksamkeit und Frustration.“ (Zucker 2012). Die Stuttgarter Zeitung verweist mit einem Artikel unter dem Titel „Im digitalen Dauerfeuer“ auf die mit den Neuen Techno- logien einhergehende Informationsüberflutung und es wird konstatiert, dass „das Inter- net und seine unendlichen Kommunikationskanäle“ (Breithut 2010) uns schlichtweg überforderten. In einem FAZ -Artikel zur Stress-Problematik am Arbeitsplatz ist es die ständige Erreichbarkeit, ermöglicht durch die neuen Kommunikationsmittel, die den wachsenden Stress erzeuge (vgl. Astheimer 2012: 1). Auf Süddeutsche.de wird in einem Beitrag über das Burnout-Syndrom erklärt, dass vor allem die zunehmende Grenzauflö- sung zwischen Arbeit und Freizeit, die wiederum der ständigen Erreichbarkeit geschul- det sei, ein zentrales Problem darstelle (vgl. Borchardt 2011). Eine ähnliche Diagnose stellt auch ein Artikel im Spiegel mit Bezug auf eine Langzeitstudie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Die Ergebnisse deuteten darauf hin, „dass die Einführung von E-Mail und BlackBerry, die ständige Erreichbarkeit sowie die seit Jah- ren steigende Arbeitsverdichtung den Menschen aufs Gemüt geschlagen haben.“ (Blech 2012: 124).

Obwohl ein Zusammenhang zwischen der Erschöpfungsproblematik und den Neuen Medien also fest angenommen zu werden scheint, findet in den auf den Krankheitsas- pekt fokussierten Beiträgen jedoch kaum eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Neuen Medien und deren Eigenschaften statt. Worin genau werden die Zusammen- hänge also überhaupt gesehen und wie werden sie im Detail argumentiert? Diese Lücke soll mit dieser Arbeit geschlossen werden. Dabei geht es nicht darum, einen Beweis oder Gegenbeweis für einen Zusammenhang zu erbringen, sondern eine kritische Per- spektive darauf zu eröffnen, wie dieser Zusammenhang diskursiv hergestellt wird. Eine Antwort auf die Frage, ob es einen Zusammenhang gibt, kann also nicht erwartet wer- den. Stattdessen hat die Arbeit den Anspruch, den kritischen Blick der LeserInnen zu schärfen und die offenbar bereits angenommene ‚Wahrheit‘ eines Zusammenhangs hinterfragbar zu machen.

Der Fokus liegt dabei klar auf medien- und kommunikationswissenschaftlichen Aspek- ten, womit eine ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild Burnout- Syndrom für diese Arbeit keine Relevanz hat. Auch wenn die Idee zu dieser Arbeit vor allem dem Medienhype um die Burnout-Problematik entwachsen ist, soll die Perspekti- ve hier über die Erschöpfungskrankheit hinausgehen. Im Titel der Arbeit wurde deshalb bewusst auf den bereits stark vorbelasteten Begriff ‚Burnout‘ verzichtet und die Formu- lierung stattdessen offener gefasst. Mit dem Bezug auf das „körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden“ soll sowohl nach den Zusammenhängen mit psychischen und kognitiven Auswirkungen (wie z. B. Burnout oder ADHS), körperlichen Beeinträchti- gungen (wie etwa Veränderungen im menschlichen Gehirn), wie auch sozialen Auswir- kungen (z. B. auf Familienstrukturen) gefragt werden.

1.2 Aufbau der Arbeit

Eine der Grundannahmen dieser Arbeit ist die eines direkten Zusammenhangs zwischen Veränderungen im Bereich der Medien und Veränderungen der Gesellschaft. Theore- tisch untermauert wird diese Annahme mit der Vorstellung des Mediatisierungskonzep- tes nach Friedrich Krotz (Kapitel 2). Das Mediatisierungskonzept dient zum einen als Interpretationsrahmen für die empirischen Befunde aus der Analyse des Diskurses, die so in einen umfassenderen Erklärungszusammenhang gestellt werden können (vgl. Hartmann/Hepp 2010: 12; Hartmann 2010: 35). Zudem wird mit der Vorstellung von Krotz‘ Konzept eine medienwissenschaftliche Perspektive auf die aktuellen gesell- schaftlichen und kulturellen Veränderungen durch den Medienwandel eröffnet. Weiter- hin soll diese Art von Bestandsaufnahme den LeserInnen als Kontextwissen dienen.

Zu den Einflüssen des Medienwandels auf den Gesellschaftswandel, der struktureller Natur ist, gesellt sich der Einflussfaktor des öffentlichen Diskurses. In Kapitel 3 wird daher mit der Diskurstheorie ein zweiter Theoriestrang aufgegriffen, der die Einflüsse auf das Medienhandeln und die Medienwahrnehmung auf symbolischer Ebene theore- tisch untermauern soll. Im Zuge dessen werden zunächst die Grundlagen der Diskurs- theorie und das Diskursverständnis dieser Arbeit erläutert, um im Anschluss einen Ein- blick in vergangene Mediendiskurse zu geben. Mit diesem historischen Rückblick, spe- ziell auf sogenannte „Besorgnisdiskurse“ (Röser 2005), zu denen auch der hier zu ana- lysierende gezählt werden kann, sollen für Mediendiskurse typische Argumente heraus- gestellt werden, um den Blick der Forscherin auf den aktuellen Diskurs zu schärfen und zu öffnen.

Ausgehend von diesem theoretischen Fundament werden im weiteren Verlauf die methodische Orientierung und das konkrete Vorgehen bei der Analyse offengelegt. Nach der Vorstellung des Forschungsgegenstandes wird mit Rückblick auf die in Kapitel 3 vorgestellte Diskurstheorie in Kapitel 5 die auf dieser Theorie basierende Diskursforschung vorgestellt. Diese umfasst eine Vielzahl verschiedener methodischer Ansätze. Das methodische Vorgehen der Analyse in dieser Arbeit orientiert sich an der wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Reiner Keller und an der kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger. Nach einer kurzen Vorstellung beider Konzepte werden im Anschluss die einzelnen Schritte der Analyse erläutert.

In Kapitel 6 werden schließlich die Analyseergebnisse entlang der einzelnen Analyseschritte dargelegt: Strukturanalyse, Phänomenstrukturanalyse und Deutungsmusteranalyse führen am Ende des Kapitels zu einer zusammenfassenden Interpretation der Ergebnisse. Abschließend werden in Kapitel 7 die einzelnen Schritte der Arbeit reflektiert und resümierend ein Ausblick gegeben.

2 Medienwandel und Gesellschaftswandel: Das Mediatisierungskonzept nach Friedrich Krotz

Im folgenden Kapitel soll das Mediatisierungskonzept nach Friedrich Krotz vorgestellt werden, um die grundlegende Annahme, dass mit einem Medienwandel auch stets ge- sellschaftlicher und kultureller Wandel einhergeht, theoretisch zu begründen. Für die Frage nach in der Öffentlichkeit diskutierten Zusammenhängen zwischen Neuen Medi- en und einer gesellschaftlichen Veränderung, nämlich der Zunahme von Erschöpfung und Aufmerksamkeitsstörungen, ist eine solche theoretische Begründung als Basis uner- lässlich. Um von vornherein eine größtmögliche Eindeutigkeit der verwendeten Termini zu schaffen, sollen zunächst einige zentrale Begriffe in ihrer Bedeutung für diese Arbeit festgelegt werden. Im Anschluss werden die Schritte in Krotz‘ Theorieentwicklung in groben Zügen zusammengefasst, sodass die LeserInnen diese möglichst von Grund auf nachvollziehen können. Daraufhin wird der Blick auf diejenigen Aspekte gelenkt, wel- che für den zu untersuchenden Diskurs von besonderer Bedeutung sind. Im Zentrum steht hierbei die durch die Neuen Medien verursachte Entgrenzung auf räumlicher, zeit- licher und sozialer Ebene. Zum Schluss des Kapitels werden zusammenfassend die In- terdependenzen zwischen dem Metaprozess Mediatisierung und anderen Metaprozessen kurz umrissen, um die Mediatisierung so in einem größeren Kontext zu verorten.

2.1 Kommunikation, Medien und Neue Medien

2.1.1 Kommunikation

Krotz betreibt eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit seinem Verständnis von Kommunikation, welches er in Anlehnung an den symbolischen Interaktionismus unter Einbeziehung des Kommunikationsverständnisses der Cultural Studies entwirft.

Grundlegende Prämisse ist das Verständnis von Kommunikation als die Grundform des sozialen Handelns. „ Soziales Handeln [Hervorh. i. O.] lässt sich grundsätzlich im Sinne Max Webers als in Orientierung an anderen entstehendes Handeln verstehen“ (Weber 1978: 31; zit. nach Krotz 2007: 57). Dieses Handeln wird stets anhand einer konkreten Situation entworfen und umgesetzt. Bei solchen Vorgängen spielen spezifische Bedeu- tungszuweisungen eine zentrale Rolle. Diese Bedeutungszuweisungen sind sowohl ab- hängig von der jeweiligen Situation, haben jedoch gleichzeitig ihre Wurzeln in Kultur und Gesellschaft (vgl. Krotz 2007: 57). Soziales Handeln wird gemeinhin auch als In- teraktion bezeichnet, während Kommunikation eine „spezifische Form der Interaktion“ (Krotz 2007: 57) darstellt.

„Sie [die Kommunikation, A. S.] liegt dann vor, wenn bei Interaktionen Informationen bzw. Bedeutungen beabsichtigt übertragen und empfangen werden. Kommunikation ist an Zeichen und Symbole gebunden und findet nicht nur dann statt, wenn Menschen miteinander sprechen, sondern beispielsweise auch, wenn sie über Gesten miteinander in Kontakt treten.“ (Krotz 2007: 57)

Das heißt auch, dass Kommunikation nicht ohne kulturellen und gesellschaftlichen Kontext gedacht werden kann und auf keinen Fall den einfachen Transport von Infor- mationen, sondern vielmehr einen komplexen Handlungsprozess zwischen Menschen darstellt (vgl. Krotz 2007: 74). Das handlungstheoretische Verständnis von Kommuni- kation als soziale Interaktion, die intentional, gebunden an eine Situation und orientiert an kulturellen und gesellschaftlichen Konventionen gestaltet wird, ist für das Mediat i- sierungskonzept fundamental.

2.1.2 Medien

Während Krotz zu Beginn seiner ersten Abhandlung zum Mediatisierungskonzept unter Medien noch „ganz ‚naiv‘ Kommunikationsmedien wie Zeitung, Zeitschrift und Buch, Radio, Fernsehen, Telefon und Internet (…)“ (Krotz 2001: 19) versteht, präzisiert er dieses Verständnis im weiteren Verlauf, sowie in seiner späteren Auseinandersetzung mit Mediatisierung.

Mit Medien meinen wir (…) technische Institutionen,über die bzw. mit denen Men- schen kommunizieren. Medien sind in ihrer jeweiligen Form Teil einer spezifischen Kultur und Epoche, insofern sie in Alltag und Gesellschaft integriert sind. Dadurch, durch ihre gesellschaftliche und stabilisierte Form und weil die Menschen in Bezug auf sie soziale und kommunikative Praktiken entwickelt haben, sind sie gesellschaft- liche Institutionen, die auf Technik beruhen. [Hervorh. i. O.]“ (Krotz 2007: 38)

Im Einzelnen ist hiermit gemeint, dass Medien niemals getrennt von den Menschen, die sie benutzen, gesehen werden können. Im Verlauf der Geschichte gab es im Bereich der Medien immer wieder auch Neuerungen, die von den Menschen nicht angenommen wurden und sich somit niemals in den Alltag integrierten und als Massenmedien durch- setzen konnten.1 Dieser Umstand zeigt klar und deutlich, dass Medien und auch Medi- enwandel niemals isoliert von sozialen Aspekten untersucht werden können. Die Medi- en in ihrer Materialität bieten daher lediglich Potenziale, die von den Menschen ange- eignet werden oder eben nicht (vgl. Krotz 2007: 31). Somit werden Medien bzw. die Medienentwicklung bei Krotz „nicht als technisches, sondern als soziales Geschehen“ (Krotz 2007: 41) gesehen.

2.1.3 Neue Medien

Da sich diese Arbeit nicht einem speziellen Medium, wie etwa dem Computer oder dem (Mobil-)Telefon, widmet, wird zusammenfassend der Begriff ‚Neue Medien‘2 verwen- det. Zur Definition dieses Begriffs existieren umfangreiche Auseinandersetzungen (vgl. z. B. Fortunati 2010; Holly et al. 2000; Dollhausen 2000), auf deren Wiedergabe an dieser Stelle aufgrund des begrenzten Rahmens jedoch verzichtet werden muss.

Das hier zugrundegelegte Verständnis von ‚Neuen Medien‘ orientiert sich an den Über- legungen von Dollhausen (2000). Als zentrale Merkmale der ‚Neuen Medien‘ nennt sie Interaktivität, Virtualität und Vernetzung (vgl. Dollhausen 2000: 118). Interaktivität bezieht sich auf die Eigenschaft der ‚Neuen Medien‘, „den Kommunikationsteilnehmern die Möglichkeit zur rezipierenden und [Hervorh.i. O.] produktiven Teilnahme am medi- alen Geschehen“ (Dollhausen 2000: 118) zu eröffnen. Bei der Virtualität geht es darum, dass durch die ‚Neuen Medien‘ eine „eigenständige Sphäre der Wahrnehmung und Kommunikation“ (Dollhausen 2000: 120) entsteht und nicht etwa eine Nachahmung etwas bereits Bestehenden. Das ‚Neue‘ an den ‚Neuen Medien‘ ist mit Bezug auf die Vernetzung zudem deren Beitrag zur „Überwindung vormals unverrückbar scheinen- de(n)[r] Kommunikationsschranken“ (Dollhausen 2000: 121) und zur Entstehung eines „weltweiten, zeitlich entgrenzten Kommunikationssystems“ (ebd.), in dem die Chancen der Teilnahme sich enorm erhöhen. Mit Blick auf die technologischen Aspekte ist hier vor allem die ‚Intelligenz‘ der ‚Neuen Medien‘ hervorzuheben. Mit der ‚Intelligenz‘ wird darauf Bezug genommen, dass die ‚Neuen Medien‘ nicht mehr als „beherrschbare Kommunikationsmittel“ zu begreifen sind, sondern als „komplexe, informationsverar- beitende Maschinen, die mit der klassischen technischen Funktionserwartung des bere- chenbaren, vorhersagbaren, immer gleichen ‚Arbeitens‘ brechen.“ (Dollhausen 2000: 117). Durch diese „Eigenaktivität“ (Dollhausen 2000: 111) vermögen sie es, „Prozesse der Neuformierung von Kommunikationsprozessen- und Beziehungen“ (ebd.) anzure- gen. Für diese Arbeit betitelt der Ausdruck ‚neue Medien‘ also neu erschienene Medien, wohingegen sich der Begriff ‚Neue Medien‘ explizit auf die mit der vorangegangenen Definition erfassten Medien bezieht.

2.2 Grundannahmen des Mediatisierungskonzepts

Die Grundannahme des Mediatisierungskonzeptes ist, wie bereits mehrfach betont, der Zusammenhang zwischen Medienwandel und Gesellschaftswandel. Doch worin liegt diese Annahme begründet?

Grundlegend für Krotz‘ Konzept ist das Verständnis von menschlichen Gesellschaften als auf Kommunikation basierenden Konstrukten. Krotz bezeichnet die Gesellschaft auch als eine „kommunikative Veranstaltung“ (Krotz 2007: 113). Wie schon im Zuge der Begriffsdefinition von Kommunikation erläutert wurde, wird Kommunikation als „Grundform sozialen Handelns“ (Krotz 2007: 43) aufgefasst, während das soziale Han- deln wiederum „die Grundlage der Gesellschaft“ (Krotz 2007: 45) bildet.

Doch ist die Kommunikation nicht nur gesellschaftskonstituierendes Element. Die menschliche Sprache gilt für Krotz als „fundamentales, den Menschen in seiner Art konstituierendes und kollektiv hergestelltes Ausdrucks- und Reflektionsmittel (…), über das sich der Mensch definiert und generiert.“ (Krotz 2007: 86).

Da die menschliche Sprache in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ent- stand, gilt die Face-to-Face-Kommunikation, welche sich aus dem interpersonalen Ge- spräch und der per Gesten vermittelten Kommunikation zusammensetzt, somit als Grundform jeder Art von Kommunikation. Alle anderen Formen der Kommunikation, so wie beispielsweise die Kommunikation mittels Medien, sind lediglich modifizierte, aus dieser Grundform abgeleitete Kommunikationsformen (vgl. Krotz 2007: 58).

Werden nun für die Kommunikation Medien herangezogen, vollziehen sich im Ver- gleich zur Face-to-Face-Kommunikation Veränderungen der Kommunikationsstruktur. So kommt es beispielsweise zu Zeitverzögerungen bei der Übermittlung von Botschaf- ten, die zur Face-to-Face-Kommunikation gehörenden Gesten gehen verloren (weil man das Gegenüber nicht sehen kann), es wird schriftlich statt oral kommuniziert usw. Zu- sammengefasst bedeutet das, dass „das performative Moment der Information (…) durch die Medialität“ (Schneider 2000: 26) eines bestimmten Mediums geprägt ist. Die- se veränderten Kommunikationsstrukturen führen wiederum zu einer Neuaushandlung und Umgestaltung von bisher geltenden Kommunikationsregeln und bestimmter Etiket- te, bzw. erfordern sie diese Umgestaltung sogar. Während es im Gespräch von Ange- sicht zu Angesicht als verpönt gilt, nebenher beispielsweise zu telefonieren oder im In- ternet zu surfen, verliert diese Regel etwa beim Gespräch via Chat ihre Wirkung. Krotz geht nun davon aus, dass die veränderten Werte und Normen in den durch bestimmte Medien modifizierten Kommunikationssituationen sich auch auf medienunabhängige Handlungsmuster und somit auf das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt aus- wirken (vgl. Krotz 2007: 112). Krotz konstatiert, „dass die Veränderungen der praktizierten Medienkommunikation für die Hand- lungsweisen und Erwartungen, die Vorstellungswelten und Loyalitäten der Men- schen und damit für ihren Umgang mit sich und anderen wichtig sind.“ (Krotz 2001: 32)

Es wird also deutlich, dass Medien - über ihre Inhalte hinaus - die Struktur menschli- cher Kommunikation prägen (vgl. Hartmann 2010: 36). So sind Formen des Zusammen- lebens beispielsweise in literalen Gesellschaften vollkommen anders als diejenigen in einer schriftlosen Gesellschaft (vgl. Krotz 2007: 42). Es lässt sich annehmen, dass es sich z. B. mit von digitalen Medien statt von analogen Medien geprägten Gesellschaften oder auch Epochen ebenso verhält.

Diese Grundannahme „ gesellschaftliche(n)[r] Medienwirkung (die nicht vom Inhalt abh ä ngt) [Hervorh. i. O.]“ (Krotz 2007: 42) besteht im Rückgriff auf die sogenannte Mediumstheorie, dessen Bezeichnung von Joshua Meyrowitz geprägt wurde und zu- rückgeht auf Marshall Mc Luhan und Harold Innis (vgl. Krotz 2007: 41 f.). Sie soll im Zuge der Formulierung des Mediatisierungskonzepts weiterentwickelt werden. Während die Mediumstheorie stark technikdeterministisch ausgerichtet ist und von unveränderba- ren Medieneigenschaften ausgeht, ist der Zusammenhang zwischen Medienwandel und Gesellschaftswandel im Mediatisierungskonzept sozial konzipiert. Das bedeutet, der Mensch wird als handelndes Individuum, das sich Medien aktiv aneignet und die Ko m- munikation in Ausrichtung auf sie gestaltet, mitgedacht. Der Fokus liegt beim Mediati- sierungskonzept somit auf „den sich verändernden, kulturell definierten Kommunikat i- onsformen“ (Krotz 2007: 43). Auch Mikos (2005:82) betont: „Die Bedeutung der Me- dien liegt nicht in ihrer technischen, bzw. medialen Verfasstheit, sondern in ihrem Ge- brauch, in ihrer sozialen Anwendung in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten (…)“. Im Zentrum steht also nicht das Medium selbst, sondern dessen Rolle in sozialen Anwendungskontexten.

Zusammenfassend lässt sich somit ein kontinuierlicher Prozess erkennen: Durch den Medienwandel wird die Kommunikation in ihrer Struktur verändert. Durch die Verän- derung der Kommunikation wird die soziale Interaktion, welche auf Kommunikation beruht oder vielmehr welche selbst Kommunikation ist, beeinflusst und damit auch das Konstrukt Gesellschaft auf der Makroebene langfristig gesehen verändert. Natürlich wird Kommunikation und somit das Zusammenleben auch durch Medien inhalte beein- flusst, so z. B. die Art, wie man sich ausdrückt oder das Verhalten gegenüber älteren Menschen. Dieser Einfluss ist jedoch hier außer Acht zu lassen. Es geht an dieser Stelle darum, dass die Grundform der Kommunikation und somit die Grundform der sozialen Interaktion durch Medien in ihrer Struktur abgewandelt wird. Medialer Wandel gilt „als Voraussetzung für den Wandel von Kommunikation [Hervorh. i. O.]“ (Krotz 2007: 31). Somit geht es darum, „ den Wandel der Medien als einen Wandel der Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen [Hervorh. i. O.]“ (Krotz 2007: 48) zu fassen und zu untersuchen. Es sollte jedoch betont werden, dass es sich durchaus nicht um eine einsei- tige Beeinflussung handelt, sondern dass der Zusammenhang zwischen Medien- und Gesellschaftswandel vielmehr als eine sich wechselseitig bedingende Entwicklung zu verstehen ist. Das heißt, der Medienwandel hat, wie inzwischen hinreichend dargelegt, einen Einfluss auf den Wandel der Gesellschaft, doch zugleich hat auch der Gesellschaftswandel rückwirkend einen Einfluss auf die Entwicklung der Medien.3

Besonders stark geprägt ist der derzeitige Mediatisierungsschub durch die Digitalisie- rung, deren Folgen Krotz als enorm einschätzt, aber deren Wirkmacht derzeit noch nicht abschätzbar sei (vgl. Krotz 2007: 11 ff.). Besonders prägend ist für die Digitalisierung die Veränderung der Medienstruktur. Einzelmedien verlieren dabei zunehmend ihre jeweilige Materialität und werden durch ihre Übersetzung in binäre Codes quasi verein- heitlicht. Dadurch kann eine Vielzahl von Medien in nur einem Medium integriert wer- den, so z. B. im Internet. Statt per Brief eine Nachricht zu versenden, im Radio Musik zu hören und im Fernsehen audiovisuelle Inhalte zu konsumieren, vereint das Internet all das und noch viel mehr in nur einem Medium (vgl. Krotz 2007: 97 f.). Dadurch wird die Bindung der verschiedenen Kommunikationsformen an spezifische Einzelmedien aufgelöst.

Neben der Grenzauflösung zwischen verschiedenen Einzelmedien kommt es im Zuge der Digitalisierung nicht nur zur Entstehung einer völlig neuen Form der Medienkom- munikation4, die Krotz als „interaktive Kommunikation“ (Krotz 2007: 90) bezeichnet, es kommt auch zu einem immer stärkeren Ineinandergreifen der bestehenden Kommu- nikationsformen, namentlich „Kommunikation mittels Medien“ (ebd.) und „Kommuni- kation mit standardisierten, allgemein adressierten Kommunikaten“ (ebd.), untereinan- der sowie mit der dritten neuen Form. „Kommunikation mittels Medien“ bezieht sich auf interpersonale Kommunikation mittels Medien (also z. B. telefonieren) und „Kom- munikation mit standardisierten, allgemein adressierten Kommunikaten“ ist das, was bisher unter dem Begriff „Massenkommunikation“ bekannt war, also Kommunikation bei der die Rollen von Kommunikator und Rezipient nicht mehr potenziell austauschbar sind und somit keine Reziprozität besteht. Mit „interaktiver Kommunikation“ bezeich- net Krotz die reziproke Kommunikation zwischen Mensch und (intelligenter) Maschine (vgl. Krotz 2001: 74 ff.; 2007: 90 ff.). Das Aufkommen neuer Medien, die sich beson- ders dadurch hervortun, Einzelmedien in einem Medium zu integrieren, sowie die neu entstehende Kommunikationsform, haben laut Krotz maßgeblichen Einfluss auf die ak- tuelle Bedeutung von Kommunikation und Medien:

Nicht nur das Internet, das Handy und andere Medien, die im Rahmen der heute stattfindenden Mediatisierung in Kultur und Gesellschaft wichtig werden, sind von Bedeutung, sondern auch das Entstehen dieses neuen Kommunikationstypus [inter- aktive Kommunikation, A. S.] sowie das immer h ä ufiger und verketteter stattfin- dende Ineinandergreifen dieser drei Typen mediatisierter Kommunikation. Wegen all dieser Ver ä nderungen muss man von einem grundlegenden Bedeutungswandel von Kommunikation und Medien heute ausgehen. [Hervorh. i. O.].“ (Krotz 2007: 94)

Diese Grenzauflösung zwischen den einst klar voneinander abgegrenzten Einzelmedien und der zunehmenden Vermischung unterschiedlicher Kommunikationsarten hat auch im Alltag der Menschen eine zunehmende Entgrenzung auf verschiedenen Ebenen zur Folge (vgl. Krotz 2001: 17, 21). Auf welchen Ebenen diese Entgrenzung stattfindet und welche Auswirkungen diese auf das alltägliche (Zusammen-)Leben haben, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.

2.3 Fokus: Entgrenzung

Zunächst ist zu klären, was mit dem Begriff Entgrenzung eigentlich gemeint sein soll. Hierfür dient die Definition von Anne von Streit (2011: 20) als Richtlinie. Sie definiert Entgrenzung aus sozialwissenschaftlicher Sicht als „Infragestellung bislang konstituti- ver gesellschaftlicher Grenzziehungen“. Gefestigte Grenzen etwa zwischen verschiede- nen sozialen Sphären, zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zwischen Wissen und Nichtwissen etc. werden im Zuge der Entgrenzung zunehmend brüchiger.

Aus der Perspektive der Medienwissenschaften erkennt Krotz einhergehend mit der immer stärker um sich greifenden computervermittelten Kommunikation (CMC5 ) Entgrenzung auf drei Ebenen: auf räumlicher, zeitlicher und sozialer bzw. sinnbezoge- ner Ebene (vgl. Krotz 2001: 21 f.). Im Zuge des Medienwandels lösen sich danach also nicht nur die räumliche und zeitliche Gebundenheit der Mediennutzung zusehends auf. Auch die einst vorhandene Möglichkeit einzelne Medien voneinander, sowie den Hand- lungsbereich Medienhandeln von anderen Handlungsbereichen klar abzugrenzen, ist immer weniger gegeben (vgl. Krotz 2001: 21). Was genau unter den von Krotz benann- ten Entgrenzungsebenen zu verstehen ist, werden die folgenden Abschnitte zeigen.

2.3.1 Räumliche Entgrenzung - Allgegenwart und Mobilisierung

Mit dem Aspekt der räumlichen Entgrenzung nimmt Krotz Bezug darauf, dass bestimm- te Medien, und somit auch deren Nutzung, traditionell an spezifische Orte gebunden waren. Als Beispiele hierfür nennt er den Fernseher, der klassischerweise im Wohn- zimmer platziert wurde, das Telefon, das früher meist im Flur zu finden war und den PC, der Teil des Arbeitszimmers war. Diese spezifischen Platzierungen der Einzelmedi- en boten entsprechend spezifische Rahmungen der Mediennutzung, welche durch eben diese Rahmung als von anderen Handlungen abgrenzbare Handlung erkennbar wurde. Man begab sich beispielsweise in den Flur, weil man den Entschluss gefasst hatte, zu telefonieren. Zwar ist die tradierte Medienplatzierung oft auch heute noch in ähnlicher Weise vorzufinden, hat aber ganz besonders durch die Möglichkeiten der mobilen Technologien stark an Bedeutung verloren. Während der Fernseher zu Anfang seines Aufkommens noch als eine Art modernes Lagerfeuer (vgl. Krotz 2001: 20) fungierte, um das sich die Familie zum gemeinsamen Medienkonsum versammelte, ist beispielsweise der Konsum von TV-Inhalten via Internet inzwischen an jedem beliebigen Ort möglich, was zur Auflösung dieses Gemeinschaftscharakters führen kann.

Des Weiteren fasst Krotz unter räumlicher Entgrenzung den Umstand, dass Medien in- zwischen allgemein an viel mehr Orten präsent sind und man sich ihnen kaum noch zu entziehen vermag (vgl. Krotz 2007: 94 ff.). Die Durchdringung der öffentlichen Sphäre mit Medien äußert sich z. B. im zunehmenden Auftreten von Fernsehern oder Info- screens in öffentlichen Verkehrsmitteln, Supermärkten oder Schulen oder von Compu- terterminals an Flughäfen, Bahnhöfen oder auch in Fitnessstudios und ähnlichen Ein- richtungen (vgl. Krotz 2007: 34). Ganz besonders gestiegen ist die Präsenz von Kom- munikationsmedien in der Öffentlichkeit jedoch mit der Allgegenwart mobiler Techno- logien, wie Handys bzw. Smartphones sowie Laptops und Tablet PCs. Die Mobilität der modernen Kommunikationsmedien hat zur Folge, dass Medien an Orten und somit in Kontexten genutzt werden, die früher frei von Mediennutzung waren. Inzwischen gibt es daher immer weniger medienfreie Orte und Kontexte. Einstmals getrennte Sphären vermischen sich dadurch zunehmend, so z. B. Privatsphäre und öffentliche Sphäre so- wie die Sphären von Arbeit und Freizeit. Von Streit (2010: 33) merkt in diesem Zu- sammenhang an: „Die weite Verbreitung dieser Technologien [der IuK-Technologien, A. S.] in Unternehmen und Haushalten ist die Basis für die Auflösung der räumlichen Bindung von Arbeit an den Betrieb (…)“.

Die räumliche Entgrenzung der Medien steht wiederum in engem wechselseitigem Zu- sammenhang mit der allgemein gestiegenen Mobilität von Menschen und Gütern (vgl. Hepp 2006: 53) und damit einhergehend mit dem Metaprozess der Globalisierung, des- sen Verbindung zur Mediatisierung im Kapitel 2.4 Thema sein wird. An diesem Zu- sammenhang lässt sich einmal mehr das wechselseitige Verhältnis zwischen Medien- und Gesellschaftswandel, insbesondere auch die bereits betonte Einflussnahme der Ge- sellschaft auf den Medienwandel, ablesen. Die steigende Mobilität erhöht die Nachfrage nach mobilen Technologien und fördert somit deren Weiterentwicklung, was wiederum mehr Mobilität erlaubt. So konstatiert Burkart (2007: 59), dass die Entwicklungen im Bereich der mobilen Technologien zur Entkräftung des Mobilitätsparadoxes6 beitragen, indem sie die unproduktive und somit ‚sinnlose‘ Warte- und Reisezeit in produktive Zeit verwandeln. Dadurch sollen die durch die Mobilität entstehenden Kosten (z. B. Reisekosten) ausgeglichen werden. Zwischen der Nutzung mobiler Kommunikations- medien und Mobilitätskosten besteht also ein klarer Zusammenhang, was die zuneh- mend um sich greifende Erreichbarkeit mit einem ökonomischen Aspekt in Verbindung bringt.

Es zeichnet sich hier bereits ab, dass die räumliche Entgrenzung und die gestiegene Mobilität eine enge Verbindung zur Auflösung zeitlicher Grenzen aufweisen.

2.3.2 Zeitliche Entgrenzung - Beschleunigung und Flexibilisierung

Ebenso wie räumlich waren Medien auch zeitlich an bestimmte Strukturen gebunden, bzw. galten ihrerseits als wichtige Orientierungsinstanzen für die Zeitstrukturierung. So bezeichnet Krotz den Fernseher als typisches Abend-, die Zeitung als typisches Mor- genmedium (vgl. Krotz 2007: 95). Das Radio und später der Fernseher beeinflussten mit ihrer Programmstruktur maßgeblich die zeitliche Strukturierung des Alltags und stellten somit eine Art Zeitkonstante dar, die zugleich als Orientierungspunkt dienlich sein konnte. Sendungen wie die Tagesschau um 20 Uhr oder der Tatort am Sonntagabend stellten über Jahrzehnte hinweg einen festen Bestandteil des alltäglichen Tagesablaufs vieler Menschen dar (vgl. Neverla 2007: 46). Während es einstmals noch Sendepausen gab, so z. B. in der Nacht, sind Medienangebote inzwischen zu jeder Zeit in immens großer Vielfalt vorhanden (vgl. Krotz 2007: 96). Einen Schritt weiter geht die Tendenz hin zu „On Demand-Angeboten“, z. B. des „TV On Demand“, durch die die Medienan- gebote ihre Funktion als zeitlich konstante Orientierungspunkte vollkommen einbüßen. So konstatiert Neverla: „Elektronische Medien stehen unentwegt zur Verfügung, ohne Anfang und Ende, ohne Auszeiten, ohne Bindung an Zyklen von Tag und Nacht sowie Jahreszeiten.“ (Neverla 2007: 46).

In ihrer Auseinandersetzung mit „Medienalltag und Zeithandeln“ beschreibt Neverla einen direkten Zusammenhang zwischen sozialen Zeitgebern, zu denen sie Medien ebenso wie Religion und andere soziale Institutionen zählt, und „der jeweiligen kultu- rellen Zeitvorstellung“ (Neverla 2007: 45). Mit der aktuellen Medienentwicklung scheint sich auch eine neue Zeitvorstellung zu etablieren, welche als „zeitlose Zeit“ (Castells 2007: 171) oder als „polychrone Zeit“ (Neverla 2007: 44) bezeichnet wird. Das Internet ist für diese polychrone Zeit geradezu paradigmatisch. Im Gegensatz zu Medien wie Fernsehen oder Zeitung, hinter denen Institutionen stehen, die gewisse (zeitliche) Rahmen vorgeben, unterliegt das Internet keinem Zeitregime. Wann, wie oft und wie lange man sich dem Internet zuwendet, liegt im eigenen Ermessen und ist je- dem freigestellt (vgl. Neverla 2007: 50). Es werden hier die Interdependenzen zwischen dem allgemeinen Mediatisierungsprozess und dem Metaprozess der Individualisierung erkennbar, die in Kapitel 2.4 noch einmal aufgegriffen werden sollen. Die Individuali- sierung der Zeitmuster ist ebenso wie die Individualisierung insgesamt eine sehr ambi- valente Entwicklung. Auf der einen Seite bietet sie einen Zuwachs an Autonomie und Emanzipation vom herrschenden (Zeit)Regime, andererseits jedoch verlangt sie dem/ der Einzelnen auch mehr Energie für die individuelle (Zeit)Planung ab und überträgt damit auch sehr viel mehr Entscheidungsaufwand und Verantwortung auf das Individuum (vgl. Neverla 2007: 50 f.).

Neben der zunehmenden Individualisierung der Zeitstruktur ergibt sich aus dem Zu- sammenspiel aus zeitlicher und räumlicher Entgrenzung eine allgemeine Tendenz zur Beschleunigung des Lebens. Der Zeitforscher Hartmut Rosa begründet dies unter ande- rem mit der gestiegenen Mobilität und der damit einhergehenden Schrumpfung des Raums (vgl. Rosa 2005: 165). Diese Mobilität wird, wie vorab erläutert, durch die digi- talen, insbesondere die mobilen Medien noch erleichtert und verstärkt. Münch und Schmidt (2005: 205) sehen eine durch das Internet hervorgerufene „Vermehrung und Beschleunigung von Kommunikation“, die zu einem rapiden Anstieg verfügbaren Wis- sens führt.

Neverla (2007: 50) sieht durch die schnelleren Zugriffsmöglichkeiten, die insbesondere durch das (mobile) Internet geboten werden, einen wachsenden Beschleunigungsdruck, der die durch zeitliche Entgrenzung gewonnene Zeitsouveränität und individuelle Entschleunigung quasi unwirksam macht. Das heißt, dass die vermeintlichen Zeitein- sparungen, die uns die Neuen Medien schenken sollten, einem dadurch gestiegenen Er- wartungsdruck zum Opfer fallen: Eine Ausdifferenzierung der Möglichkeiten geht auch stets mit einer steigenden Verantwortung und somit größeren Erwartungen einher. Die Möglichkeit, mit wenigen Klicks beispielsweise wichtige Informationen zu finden oder- einen Kollegen auf der anderen Seite der Welt über Probleme im Projektablauf zu in- formieren, erlegt einem auch auf, diese Möglichkeiten zu nutzen.

Die zeitliche und räumliche Entgrenzung, die Beschleunigung und die gestiegene Mobi- lität schließen einen dritten, im Folgenden beschriebenen Entgrenzungsaspekt mit ein.

2.3.3 Soziale Entgrenzung - Anytime, anywhere, everything.

Unter der sozialen Entgrenzung ist der Umstand zu verstehen, dass Medien in immer mehr Kontexten mit sich ausdifferenzierenden Absichten verwendet werden - und zwar sowohl kommunikator- als auch rezipientenseitig (vgl. Krotz 2007: 94 ff.). Während Medien wie auch Mediennutzung einstmals an bestimmte abgrenzbare Situationen und Kontexte gebunden und auch die Einzelmedien klar voneinander abgrenzbar waren, wird Medienhandeln zunehmend „kontinuierliches Handeln.“ (Krotz 2001: 31; 2007: 112). Das heißt, dass die Medien immer stärker in das alltägliche Leben verwoben sind und dadurch immer mehr Lebensbereiche und alltägliches Handeln von Mediennutzung begleitet werden. Wenngleich hierbei auch klassische Medien wie Fernsehen, Radio oder Zeitung gemeint sind, die uns bei immer mehr Tätigkeiten begleiten, so kommt den Neuen Medien, insbesondere dem Internet, doch ganz eindeutig eine Sonderrolle zu. Das Internet vereint nicht nur sämtliche Einzelmedien in sich, sondern auch das alltägli- che Leben selbst spielt sich zunehmend online ab. Immer mehr alltägliche administrati- ve, organisatorische aber auch soziale Aktivitäten werden in Netz verlagert (z. B. Bank- angelegenheiten, Bewerbungen, Einkaufen, Freundschaftspflege, Partnersuche u. v. m.). Das Resultat ist, dass es ‚kein Außen‘, also medienfreie Sphären, mehr gibt und somit eine Reflektion über das eigene Medienhandeln stark erschwert wird bzw. kaum noch stattfindet. Durch das mobile Internet hat sich zudem die allgemeine Verfügbarkeit von Informationen einerseits und von der eigenen Person andererseits enorm verschärft.

Die Interdependenzen zwischen räumlicher, zeitlicher und sozialer Entgrenzung werden somit sehr gut deutlich. Die räumliche ebenso wie die zeitliche Entgrenzung eröffnet einerseits die Möglichkeit, Medien in immer mehr Kontexten zu verwenden, anderer- seits entstehen durch diese Ausdifferenzierung der Nutzungskontexte aber auch neue Umgangsweisen mit Raum und Zeit (vgl. Krotz 2008b: 57). Die Möglichkeit zu jeder Zeit an jedem Ort telefonieren zu können (räumliche und zeitliche Entgrenzung), lässt beispielsweise die Grenzen zwischen öffentlichem Raum und Privatsphäre verschwim- men. Im Zusammenspiel aller drei Entgrenzungsprozesse kommt es zur totalen Flexibi- lisierung, wie es auch der Soziologe Richard Sennett (1998) in seinem Buch „Der fle- xible Mensch“ vor allem mit Blick auf die veränderte Arbeitswelt beschrieben hat (vgl. hierzu auch Krotz 2007: 29). Vor allem die heranwachsende Generation, für die das Leben in einer zunehmend mediatisierten Welt normal ist, kann sich ein Leben ohne die digitalen Medien nicht mehr vorstellen (vgl. Lundby 2009: 1).

Die Entgrenzungsprozesse, die sich in den Medien selbst, sowie in ihrer Produktion und Nutzung vollziehen, schlagen sich, wie bereits angesprochen, auch in anderen Metaprozessen nieder. Bereits erwähnt wurden die Globalisierung und die Individualisierung. Daneben sind zudem Beschleunigung, Flexibilisierung und Mobilisierung, sowie damit einhergehend eine „Simultanisierung“7 zu nennen, die von Krotz zwar nicht als Metaprozesse benannt werden, aber als Teilaspekte oder ‚Submetaprozesse‘ eine Rolle spielen. Im Folgenden sollen nun die Verbindungen dieser Metaprozesse zum Metaprozess Mediatisierung noch einmal zusammenfassend erläutert und das Mediatisierungskonzept dadurch in einem breiteren Kontext verortet werden.

2.4 Die Mediatisierung im Kontext anderer Metaprozesse

Nachdem bereits mehrfach die Rede von ‚Metaprozessen‘ war, soll nun kurz erklärt werden, welche Besonderheiten dieses Konzept ausmachen.

Im Gegensatz zu Konzepten wie Informations- oder Wissensgesellschaft, welche eine „Vorher-Nachher-Dichotomie“ (Krotz 2007: 14, 40) darstellen, ohne jedoch zu klären, was vorher war bzw. nachher sein wird, hat der Mediatisierungsansatz den Anspruch, einen Wandel, also eine kontinuierliche Entwicklung, theoretisch zu fassen (vgl. Krotz 2007: 11 f.). Aus diesem Grund ist eines seiner zentralen Merkmale seine Konzeption als Prozess, statt als statischer Struktur- oder Systembegriff. Da jedoch ‚Prozess‘ aus den Sozialwissenschaften bereits mit der Bedeutung als „zeitlich und räumlich um- grenzte Entwicklung mit einem klaren Anfangs- und Endpunkt“ (ebd.) besetzt ist, wur- de präzisierend der Begriff ‚Metaprozess‘ gewählt. ‚Metaprozess‘ verdeutlicht die räumliche und zeitliche Unbegrenztheit des medialen und kulturellen Wandels, sowie die noch nicht abschätzbaren Folgen für Kultur und Gesellschaft (vgl. ebd.). Es handelt sich „um lang andauernde und Kultur übergreifende Veränderungen (…), die die soziale und kulturelle Entwicklung der Menschheit langfristig beeinflussen.“ (Krotz 2007: 27). Diese Entwicklungen sollen mit Hilfe des Konzeptes ‚Metaprozess‘, auch als „Meta- theorie des Wandels“ (Hartmann/ Hepp 2010: 12) bezeichnet, zusammengefasst werden und uns die Welt damit handhabbar machen (vgl. Krotz 2008b: 51).

Da für den Umstand, dass Einzelmedien zunehmend zu einem „medienvermittelten Kommunikationsraum“ (Krotz 2001: 91) zusammenwachsen, noch keine Kommunika- tions- bzw. Medienwissenschaften existieren, werden „Medientheorien mit Individuali- sierungs-, Globalisierungs- und Ökonomisierungsprozessen verbunden“ (Krotz 2007: 88). Dadurch sollen die Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen besser greifbar gemacht werden.

Die Ökonomisierungsprozesse bilden dabei laut Krotz die „ Basisentwicklung ( … ), aus der die anderen drei resultieren [Hervorh. i. O.]“ (Krotz 2006: 36). Die drei Metapro- zesse Mediatisierung, Globalisierung und Individualisierung stehen wiederum in einer „verwirrenden Beziehung“ (Krotz 2006: 36) zueinander, da sie sich gegenseitig bedin- gen, voneinander abhängen oder auch komplementäre Effekte haben können, zugleich aber jeweils einer eigenen Logik folgen (vgl. Krotz 2006: 35 f.). Dennoch betont Krotz die herausragende Bedeutung der Mediatisierung für die Ausprägung anderer Metapro- zesse (vgl. Krotz 2007: 31, 40). So wird durch Individualisierung und Globalisierung zum einen mehr mediatisierte Kommunikation produziert, zum anderen sind Globalisie- rung und Individualisierung auch stark von der Mediatisierung abhängig weil Menschen für Vernetzung, Mobilität und Flexibilität auf mediatisierte Informationen angewiesen sind (vgl. Krotz 2006: 35). In Anbetracht dieser komplexen Verwobenheit plädiert Krotz daher für eine simultane Analyse aller Metaprozesse (vgl. Krotz 2009: 27 f.). Zu- sammenfassend sieht Krotz den Metaprozess Kommerzialisierung nicht nur als Basis, sondern als Triebkraft der anderen Metaprozesse (vgl. Krotz 2006: 36 f.): Für die Me- diatisierung gilt das, weil Medien immer auch Teil der Ökonomie sind, da man immer in irgendeiner Form Geld für sie bezahlen muss und die Kommunikation dadurch ihren allein auf Verständigung ausgerichteten Charakter verliert. Auch aus diesem Grund ist die Medienkommunikation „grundsätzlich von Kommunikation ohne Medienbezug zu unterscheiden“ (Krotz 2006: 37).

2.5 Zusammenfassung

Mit der Vorstellung des Mediatisierungskonzepts sollte eine Art Bestandsaufnahme der Verfasstheit des sich aktuell vollziehenden Mediatisierungsschubs gegeben werden. Der Fokus lag dabei auf der Entgrenzung, von der die derzeitigen Entwicklungen besonders stark geprägt sind. Mit der Einordnung des Metaprozesses Mediatisierung in den Zusammenhang anderer Metaprozesse konnten die vielfältigen Wirkungsrichtungen des Medienwandels noch einmal verdeutlicht werden.

Wie Krotz jedoch in seiner Auseinandersetzung mit Metaprozessen im Zusammenhang mit dem Metaprozess Globalisierung betont, ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Me- taprozesse nicht auf Tatsachenbehauptungen basieren, sondern auf „der Möglichkeit, sich zu verständigen und zu argumentieren, Entwicklungen zusammenzufassen und Hintergründe zu reflektieren.“ (Krotz 2007: 28). Er plädiert deshalb dafür, statt vom Metaprozess der Globalisierung lieber von einem „Globalisierungsdiskurs“ (ebd.) zu sprechen. Auch der Metaprozess Individualisierung markiert in der wissenschaftlichen Diskussion eher einen Diskurs (vgl. ebd.). Da Krotz Mediatisierung ebenso wie Globa- lisierung und Individualisierung zu den Metaprozessen zählt, darf angenommen werden, dass Ähnliches auch für die Mediatisierung gilt. Jedoch ist bei Krotz‘ Aussagen die Trennung von diskursiven und nicht-diskursiven Entwicklungen unklar. Dass es im Be- zug auf Globalisierung und Individualisierung bestimmte diskursunabhängige Entwick- lungen gibt, wie etwa dass der weltweite Güter- und Personenverkehr stark zugenom- men hat, ist wohl unbestritten und lässt sich an quantitativen Erhebungen eindeutig ab- lesen. Auswirkungen und Umstände dieser Entwicklungen werden in Diskursen ver- handelt, was wiederum unser Wissen und unsere Wahrnehmung von ihnen formt. Glei- ches gilt für die Mediatisierung. Dass es einen kontinuierlichen technischen Fortschritt im Bereich der Medien gibt, ist klar ersichtlich. Wie diese Veränderungen jedoch wahr- genommen, ausgehandelt und schließlich ins gesellschaftliche Leben integriert werden, das entscheidet sich in öffentlichen Diskursen. Aus diesem Grund soll im nächsten Ka- pitel ein zweiter Theoriestrang aufgegriffen werden. Mit diesem soll gezeigt werden, dass Medienwandel nicht nur strukturell die Kommunikation beeinflusst, sondern dass mit Medienwandel auch schon seit jeher Diskurse einhergingen, welche die jeweils neu- en Medienentwicklungen mal euphorisch und oft voller Argwohn und Kulturpessimis- mus begleiteten.

3 Diskurse um den Medienwandel

Die Einführung neuer Medien, so also die These, war schon immer von Diskursen begleitet. Wie bereits im vorigen Kapitel verdeutlicht wurde, ziehen Neueinführungen stets in den verschiedensten Bereichen Auswirkungen für das Zusammenleben nach sich. Im öffentlichen Diskurs werden diese Auswirkungen verhandelt, um neue Regelungen und Verhaltensweisen zu etablieren und so eine Integration der jeweils neuen Medien in das alltägliche Leben zu bewirken.

Im ersten Schritt soll zunächst geklärt werden, was hier unter einem Diskurs zu verste- hen ist und warum Diskurse für die vorliegende Thematik von Interesse sind. Daraufhin wird der Blick darauf gerichtet, welche gesellschaftliche Bedeutung Diskurse, im Spezi- ellen Mediendiskurse8, haben bzw. haben können. Mit einem Blick auf die Mediendis- kursgeschichte soll anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden, dass Medi- enwandel nicht nur schon immer von Diskursen begleitet war, sondern dass diese über die Jahrhunderte hinweg immer wieder ähnliche Argumente und Themen aufgegriffen haben.

3.1 Das Diskursverständnis dieser Arbeit

Diskurse begleiten und bestimmen Medien- und Gesellschaftswandel, so die oben formulierte These. Doch was ist hier überhaupt unter ‚Diskurs‘ zu verstehen?

Im alltäglichen deutschen Sprachgebrauch verweist der Begriff ‚Diskurs‘ meist auf „ein öffentlich diskutiertes Thema, eine spezifische Argumentationskette (…) oder die Posi- tion/ Äußerung eines Politikers (…) in einer aktuellen Debatte“ (Keller 2007a: 13). Im angelsächsischen Sprachgebrauch wird mit ‚discourse‘ allgemeiner ein einfaches Ge- spräch oder eine Unterhaltung bezeichnet, während in den romanischen Sprachen eine ‚gelehrte Rede‘, ein Vortrag o. ä. mit dem Begriff bezeichnet werden (vgl. ebd.). Das hier zugrundegelegte Diskursverständnis geht jedoch über dieses alltägliche Verständnis hinaus.

Die Ursprünge der Diskurstheorie liegen im Strukturalismus, bzw. dem Poststruktura- lismus begründet. Beide bilden „Theorieensemble“ (Keller 2007a: 14), denen jedoch der Rückgriff auf die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures gemein ist. Bei Saussures The- orie geht es darum, zwischen dem der Sprache zugrundeliegenden Regelsystem (langue) und der praktischen Umsetzung der Sprache (parole) zu unterscheiden, um so die Be- deutungsgenerierungsprozesse der menschlichen Sprache besser untersuchen zu können. Dieser Gedanke wird für die Diskurstheorie von der Sprachwissenschaft auf die Er- kenntnistheorie übertragen. Es werden also analog auch für die Erkenntnisgewinnung gewisse Regelstrukturen angenommen, die den konkreten Erkenntnistätigkeiten zug- rundeliegen. Diese allgemeinen Erkenntnisstrukturen werden auch als Wissensordnun- gen oder in Anlehnung an Foucault als Episteme bezeichnet (vgl. Keller 2007a: 16). Während der Strukturalismus von objektiven, also eher statischen Regelstrukturen aus- ging, erweiterte der Poststrukturalismus diese Auffassung, indem der Fokus stärker auf die Wechselwirkungen zwischen den Strukturen und den Ereignissen bzw. dem Kontext gerichtet wurde (vgl. Keller 2007a: 14 f.). Im Gefüge von Struktur und Ereignis bilden Diskurse also die praktische Erkenntnistätigkeit, deren Analyse wiederum Aufschluss über die zugrundeliegenden Wissensstrukturen geben soll. Auf die Sozialtheorie über- tragen, bedeutet das, dass zwischen „Diskursen und der ihren Kontext bildenden Sozial- struktur“ (Keller 2007a: 28) eine dialektische Beziehung besteht. Mit dem vorangegan- genen Kapitel wurden Teile eben dieses Kontextes beschrieben, um für die später fol- gende Analyse einen Rahmen zu bieten.

Diskurse, also jede Form der Erkenntnis- oder Wissensproduktion im weitesten Sinne, „konstituieren Welt“ (ebd.) bzw. unsere Wahrnehmung von der Welt. Umgekehrt wer- den jedoch Diskurse wiederum durch die Welt, also den Produktionskontext, konstitu- iert. Nach Foucault sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Ge- genstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1981: 74; zit. nach Hörisch 2004: 86). Unterzieht man nun bestimmte Diskurse einer Analyse, so lassen sich daraus zu- grundeliegende Regelstrukturen rekonstruieren. Gleichzeitig ist auch die Diskursanalyse selbst, also auch diese Arbeit, wiederum Teil des Diskurses rund um Mediendiskurse.

Kern eines jeden Diskurses sind Texte. Je nach theoretischer Orientierung kann auch das Textverständnis differieren. Während manche Autoren bei Texten explizit von „schriftsprachlich realisierten“ (Konerding 2005: 9) Beiträgen ausgehen, fallen bei an- deren unter ‚Text‘ auch „gesprochene Sprache, die Bilder und Töne“ (Keller 2007a: 29).

Diese Texte werden durch ihre thematische Zusammengehörigkeit zu Teilen eines be- stimmten Diskurses (vgl. Wengeler 2005: 39; Konerding 2005: 9; Fraas 2005: 84). So werden beispielsweise in diesem Kapitel Texte herangezogen, die sich in verschiedenen Epochen mit den jeweils neu eingeführten Medien befassen. Sie alle werden dadurch Teil des Diskurses, der sich rund um die jeweils neuen Medien formiert bzw. formiert hat. Zugleich können diese Texte natürlich auch als Teile anderer Diskurse gelesen werden - dies ist abhängig vom Erkenntnisinteresse, das an die Texte bzw. an einen Diskurs herangetragen wird. Es entsteht also ein komplexes Netz aus miteinander ver- wobenen Diskursen, das sich in Texten verschiedener Art materialisiert.

Zusammenfassend lassen sich Diskurse somit als öffentliche Debatten oder allgemeiner als öffentliche Gespräche zu einem bestimmten Thema verstehen, die nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht zwischen Individuen realisiert, sondern über miteinander kommunizierende Texte geführt werden. Wenn hier von ‚Gespräch‘ oder ‚Debatte‘ die Rede ist, soll dies nicht die Vorstellung von einem Kommunikationsvorgang erwecken, bei dem teilnehmende Akteure und deren Positionen und Intentionen transparent und auf Anhieb klar erkennbar sind. Vielmehr muss man sich ein ‚Gespräch‘ zwischen einer Vielzahl von Akteuren (Individuen, Institutionen, Interessengruppen etc.) zu einem be- stimmten Thema vorstellen, das sich in Texten jedweder Art - seien es Massenmedien oder wissenschaftliche Spezialliteratur, Schriftsprache oder audiovisuelle Beiträge - niederschlägt. Diese Texte wiederum sind durch ein verzweigtes und hochgradig kom- plexes Netz aus gegenseitigen Verweisen miteinander verbunden und bilden letztend- lich in ihrer Gesamtheit unser Wissen von der Welt - also den „gesamtgesellschaftli- chen Diskurs“ (Jäger/ Zimmermann 2010: 59 f.).

Keller (2007: 79) erklärt in diesem Zusammenhang, dass ein Diskurs stets das Kon- strukt der Sozialforscherin/ des Sozialforschers ist und dass zunächst hypothetisch un- terstellt wird, dass den ausgewählten Daten „ein Zusammenhang, eine Regel oder Struk- tur“ (2007: 79) zugrundeliegt. Der/ die Forschende begegnet einem Text bzw. einem Textensemble sozusagen mit einer bestimmten Brille, durch die das Datenmaterial be- trachtet wird. Diese Brille formt sich aus der jeweiligen der Analyse zugrundeliegenden Fragestellung.

Für das Kursieren der Diskurse spielen natürlich die Massenmedien eine ganz entschei- dende Rolle, insbesondere wenn es um die (gesellschaftliche) Wirkung von Diskursen geht. Durch „ständige und massenhafte Wiederholung bestimmter Inhalte“ tragen mas- senmedial transportierte Diskurse maßgeblich zur Herausbildung und Verfestigung von ‚Wissen‘ bei (vgl. Jäger/ Zimmermann 2010: 129 f.). So verhält es sich auch in Bezug auf den Burnout-Diskurs, der mit hoher Präsenz in verschiedenen Massenmedien the- matisiert und dabei häufig in Verbindung mit den Auswirkungen der Neuen Medien gebracht wurde (siehe Kapitel 1.1).

3.2 Die Bedeutung von Mediendiskursen

Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, dass es letztendlich Diskurse sind, die unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit bestimmen und in der Konsequenz auch Auswirkungen auf individuelles und kollektives Handeln haben (vgl. Jäger/ Zimmer- mann 2010: 129). Diskurse um neue Medien bestimmen also unsere Wahrnehmung von und schließlich auch unsere Umgangsweisen mit ihnen. Mit dem eingangs vorgestellten Mediatisierungskonzept wurde verdeutlicht, dass Medienwandel für Veränderungen in der intersubjektiven und der kollektiven Interaktion sorgt. Diese Veränderungen erfor- dern eine Neuverhandlung von Regeln, Verhaltens- und Umgangsweisen. In sogenann- ten „Institutionalisierungsprozessen“ (Neuberger 2005: 76) werden eben diese Aushand- lungen realisiert. Im Zuge eines Institutionalisierungsprozesses eignen sich Akteure ein neues Medium an, „indem sie aus seinem technischen Potenzial, seinen möglichen Ge- brauchsweisen eine Auswahl treffen“ (Neuberger 2005: 76 f.). In diesem Prozess der Aneignung spielen öffentliche Diskurse - so Neubergers These - eine entscheidende Rolle. Er betont, „dass in öffentlichen Diskursen das Potenzial neuer Medien reflektiert wird, deren Möglichkeiten durchgespielt und die spätere tatsächliche Anwendung, Nut- zung und Regulierung vorgeprägt werden“ (Neuberger 2005: 77). Diese These soll um den Faktor der Thematisierung von möglichen Gefahren und negativen Auswirkungen expliziert werden, da dieser für die Institutionalisierung eines neuen Mediums eine ebenso wichtige Rolle spielt.

Neuberger attestiert dem Diskurs also maßgeblichen Einfluss auf die Etablierung neuer Medien, kritisiert sogar die fehlende Auseinandersetzung mit diesem Einfluss bei der Betrachtung von Medieninnovationen (vgl. Neuberger 2005: 77). Auch Pethes (2002: 214) erkennt eindeutig einen auf Wechselseitigkeit beruhenden Zusammenhang zwischen Diskurs und Aneignung, sowie der Wahrnehmung neuer Medien. Anders herum vermögen es Diskurse ihrerseits zu neuen Entwicklungen im Bereich der Medien beizutragen. Neben den auf Veränderungen der Kommunikationsstruktur basierenden Wechselwirkungen zwischen Medien- und Gesellschaftswandel wie bei Krotz spielt also auch die symbolische (diskursive) Ebene eine zentrale Rolle.

Der hier zu analysierende Diskurs ist ebenfalls als Teil solcher Aushandlungsprozesse zu begreifen und hat letztendlich Einfluss auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit den Neuen Medien. Durch seine Analyse sollen am Ende Hypothesen darüber mög- lich werden, welche Wirkungen er auf den Umgang mit den Neuen Medien haben könn- te.

3.3 Mediendiskursgeschichte

Mit einem Rückblick auf die Mediendiskursgeschichte soll ein Einblick in vergangene Mediendiskurse und somit in vergangene Institutionalisierungsprozesse gegeben werden. Der Fokus liegt hierbei auf den als problematisch dargestellten Aspekten der jeweils neuen Medien. Dadurch soll gezeigt werden, dass diese problematischen Aspekte mit immer wiederkehrenden Argumenten konstituiert wurden.

3.3.1 Nostalgie und die Dämonisierung des Neuen

Begonnen werden soll für den Rückblick auf vergangene Mediendiskurse bei der Schriftkritik Platons. Diese wird immer wieder angeführt, wenn es darum geht, die lan- ge Tradition der Medienkritik zu unterstreichen. Sie gilt als geradezu paradigmatisch, oder wie Raible (2006: 93) schreibt, als „prototypisch“ für alle folgenden (kritisierenden) Mediendiskurse, da sie Argumente und Argumentationsmuster aufweist, die auch in heutigen Mediendiskursen noch aktuell sind (vgl. Raible 2006: 88 ff.).

Bezug genommen wird auf den Dialog Phaidros, in dem Sokrates und Phaidros über die Bedeutung des neuen Mediums Schrift debattieren. Zentrales Muster ist auf der einen Seite die Verherrlichung des Vergangenen, der der Argwohn gegenüber Neuem entge- gengestellt wird. Auf der anderen Seite steht die euphorische Begrüßung des Fort- schritts. Diese stark polarisierende Bewertung des Potenzials jeweils neuer Medien ist typisch (vgl. Neuberger 2005: 79). Mediendiskurse bewegen sich stets oszillierend zwi- schen gesellschaftlichen Krisen- und Utopiediskursen (vgl. Schneider/ Spangenberg 2002: 20). Auch Schneider konstatiert: „Fragt man nach (…) dem Muster, dem dieser Mediendiskurs folgt, so ergibt sich (…): Es gibt diejenigen, die warnen und jene, die ein neues Zeitalter begrüßen“ (Schneider 2000: 25), was eine für Kulturkritik typische Auf- teilung in „Kulturpessimismus und Kultureuphorie“ (Schneider 2000: 28; Pethes 2002: 215) verdeutlicht.

Im Dialog zwischen Phaidros und Sokrates wird der Mythos von Teuth aufgegriffen, der dem König Thamus von seiner neuen Erfindung, der Schrift, berichtet. Während Teuth voller Begeisterung seine neue Erfindung preist, verweist Thamus auf deren Ge- fahren und Mängel. So geht es beispielsweise um den Nutzen der Schrift, den beide sehr unterschiedlich einschätzen. Während Teuth die Vorteile für Erinnerungsfähigkeit und Weisheit betont, die die Schrift mit sich bringen würde, ist Thamus der Überzeugung, dass sie vielmehr Vergessenheit und Vernachlässigung des Erinnerns zur Folge haben würde (vgl. Raible 2006: 90)9. Im Zuge dieser Vorbehalte gegenüber des neuen Medi- ums Schrift veränderten sich auch die gesellschaftlichen Konzepte von Erinnerung, Wissen und Weisheit, bzw. wurden zusätzliche Konzepte etabliert. Diese neuen Kon- zepte heiligten stets die Mündlichkeit während sie die Schriftlichkeit dämonisierten. So wurde eigentliche Weisheit der scheinhaften Weisheit gegenübergestellt, lebendiges Wissen stand neben totem Wissen und das Konzept von Gedächtnis wurde in menschli- ches und künstliches unterteilt (vgl. Schneider 2000: 31). Hier wird das bereits ange- sprochene Muster, das Alte kostbar zu schätzen und das Neue als Bedrohung dieser Kostbarkeit zu sehen, sehr deutlich. Eben diesem Muster folgend, wurde die Schrift zweitausend Jahre später im Zuge des Vormarschs audiovisueller Medien „von der Ge- fahr zum gefährdeten Gut“ (Schneider 2000: 35).

Sehr gut erkennbar wird dieses Muster auch am Beispiel von Gewaltdarstellungen in den Medien: „Während ein Mord bei Shakespeare oder Homer als Bestandteil eines Kunstwerkes ein sogenanntes Bildungsgut darstellt, ist ein vergleichbares Delikt etwa im Rahmen einer Fernsehserie als Ausgeburt niederer Massenkultur anzusehen (…)“(Kunczik 1993: 111).

[...]


1 Vgl. hierzu „Ungebrauchte Medien und Kommunikationstechnologien“ in Röser 2007 (Redak- tion Corinna Peil).

2 Des Öfteren wird auch der Begriff „Informations- und Kommunikationstechnologien“, kurz IuK, verwendet, dem hier die gleiche Bedeutung zugrundeliegt.

3 Vgl. hierzu Röser (2007: 23) zur Schlüsselrolle von Alltagspraxen für die Entwicklung eines Mediums zum Massenmedium.

4 Medienkommunikation = Kommunikation mittels Medien oder medienbezogene Kommunika- tion (vgl. Krotz 2001: 49).

5 Computer Mediated Communication.

6 Das Mobilitätsparadox beinhaltet, dass durch gestiegene Mobilität gemachte Gewinne auf- grund der ungenutzten Zeit (nämlich Reise- und Wartezeit) aufgehoben werden.

7 Die „Simultanisierung“ ist sozusagen die nächste Stufe der Beschleunigung: „Wenn Beschleu- nigung allein nicht mehr ausreicht (…), müssen erneut alternative Modi der Zeitverwendung gefunden werden. Gegenwärtig (…) findet ein Paradigmenwechsel in der Zeitverwendung und im Zeiterleben statt, auf die Beschleunigung folgt die Vergleichzeitigung.“ (Morgenroth 2009: 102).

8 Mediendiskurs wird synonym für Diskurse um Medien verwendet und ist nicht zu verwechseln mit dem Verständnis von Mediendiskurs als ein in den (Massen)Medien ausgetragener Dis- kurs (wie etwa bei Jäger/Zimmermann 2010: 29 oder Fraas/Klemm 2005: 5).

9 Raible hat den Dialog Phaidros, S. 274b3-276d8 selbst aus dem Griechischen übersetzt.

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Überfordert, erschöpft und unaufmerksam?
Untertitel
Der Diskurs um den Zusammenhang zwischen den Neuen Medien und dem körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden.
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg  (Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
100
Katalognummer
V214477
ISBN (eBook)
9783656427155
ISBN (Buch)
9783656439103
Dateigröße
1041 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist in einem ausgezeichneten, fehlerlosen, gut lesbaren Stil geschrieben und formal makellos. Die Literaturbasis ist sehr breit. Das jederzeit transparente methodische Vorgehen wird im Anhang zusätzlich dokumentiert. Besonders hervorzuheben ist die Kombination aus eher knapper Präzision (‚nur‘ 77 Seiten Text) und gleichzeitiger Tiefe der Betrachtungen – rein referierende deskriptive Passagen finden sich nicht. Schließlich sind die Originalität des Themas und seiner Umsetzung zu würdigen. Ausgezeichnet. (Prof.Dr.)
Schlagworte
Neue Medien, Burnout, Diskursanalyse, Mediatisierung
Arbeit zitieren
Anja Schneck (Autor:in), 2012, Überfordert, erschöpft und unaufmerksam?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214477

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