Das Phänomen "Provinz" in Henning Ahrens' "Brauereiausschank, Kleinstadt" und Jan Wagners "gaststuben in der provinz"


Hausarbeit, 2013

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Anthologie Laute Verse als gemeinsamer Kontext

3 Jan Wagner: gaststuben in der provinz
3.1 Zur Form
3.2 Entdeckung des Milieus „Gaststube“
3.3 Das Foto zur Fixierung eines Status quo
3.4 Zwischenfazit I

4 Henning Ahrens: Brauereiausschank, Kleinstadt
4.1 Zur Form
4.2 Die Sprecherinstanz
4.3 Das Phänomen „Kleinstadtschänke“
4.4 Zwischenfazit II

5 Brauereiausschank, Kleinstadt und gaststuben in der provinz im Direktvergleich

6 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Dichtung ist eine spannende Herausforderung: Motive, die vorher nicht thematisiert wurden, weil es sie schlicht nicht gab, finden Eingang in die Verse. „Klassische“ Formanalysen werden neuen Gedichten kaum gerecht und die Frage, was unter Lyrik eigentlich zu verstehen sei, beschäftigt ganze Seminare. Die Zeit der Regelwerke à la Opitz ist lange vorbei, und Dichter beschreiten mutig immer neue Wege, um einer frischen, unverbrauchten Idee in unkonventioneller Form Ausdruck zu verleihen. Ganz nach dem Motto „anything goes“ lassen sich kreative Köpfe auf Poetry Slams freien Lauf, reimt die Zunge in wilden Wortspielen, lädt der Rhythmus zum kollektiven Fußwippen ein.

Aber auch eingelaufene Wege dürfen wieder beschritten werden – unter der Voraussetzung, dass unterwegs ein paar neue Blümchen gepflanzt oder der Pfad auch einmal rückwärts oder im Handstand gegangen wird. Auf ähnlich kreative Methoden setzten auch Jan Wagner und Henning Ahrens, deren Gedichte gaststuben in der provinz und Brauereiausschank, Kleinstadt in dieser Arbeit untersucht werden. Beide griffen in ihren Gedichten das altbekannte Thema „Provinz“ auf, finden jedoch ihre ganz eigenen Wege, einem etwas angestaubten Motiv einen neuen, frischen Anstrich zu geben: Während Ahrens dem aktuellen Trend zur prosaischen Dichtung folgt und dem Leser in Versform eine „Geschichte“ über das Kleinstadtleben erzählt, setzt Wagner auf scheinbar unspektakuläre, doch tatsächlich äußerst feinsinnig gewählte Details, um einen ganz neuen Zugang zur Thematik zu ermöglichen.

Meine Vorgehensweise bei der Betrachtung der Gedichte ist, wie das Material selbst, an unsere Zeit angepasst und entspricht daher in Aufbau und Zusammensetzung nicht einer „klassischen“ Gedichtinterpretation. Um allen wichtigen Aspekten der Gedichte den nötigen Raum zu geben, wähle ich stattdessen eine freiere, leicht essayistische, wiewohl selbstverständlich wissenschaftliche Methode. Dabei stütze ich vor allem auf meine eigenen Leseeindrücke, beziehe aber zum einen die Kenntnisse aus dem Seminar Lyrik nach 2000 und zum anderen die aktuelle Lyriktheorie mit ein, um den Gedichten in vollem Umfang gerecht zu werden. Zur besseren Kontextualisierung stelle ich den Interpretationen zudem eine Vorstellung der Anthologie Laute Verse voran, in der Ahrens’ und Wagners Gedichte abgedruckt sind. Ziel der Arbeit ist, das „Neue“ in den untersuchten Gedichten herauszuarbeiten und somit auch zu zeigen, wie viel Potenzial in der zeitgenössischen Lyrik steckt, für die Wagners und Ahrens’ Werke exemplarisch stehen.

2 Die Anthologie Laute Verse als gemeinsamer Kontext

Gedicht ist nicht gleich Gedicht – gerade, wenn es um den Vergleich zweier Texte mit gleicher Thematik geht, ist von besonderem Interesse, wie die Form der Publikation und Präsentation ein Gedicht kontextualisiert. Denn: Für die Wirkung eines Gedichts spielt immer auch der Zusammenhang, in dem der Leser es kennenlernte, eine große Bedeutung. Hat man es mit dem Erstlingswerk eines Dichters zu tun, stellt das Gedicht den Teil eines Komplexes, z. B. eines Zyklus’, dar oder hat es die Aufnahme in eine Anthologie „geschafft“, in der verschiedene Autoren vertreten sind? Letzteres ist bei Brauereiausschank, Kleinstadt und gaststuben in der provinz der Fall – beide Gedichte wurden ausgewählt für die erstmals 2009 erschienene Gedichtsammlung Laute Verse. Die Zusammenstellung der Werke wurde dabei den mitwirkenden Autoren selbst überlassen, wichtig war dem Herausgeber Thomas Geiger nur, dass Gedichte aus möglichst allen bisher erschienenen Gedichtbänden der Lyriker berücksichtigt werden sollten, um „die einzelnen Autoren umfassend zu präsentieren und Entwicklungen innerhalb eines Werkes aufzuzeigen“.[1] Geiger selbst entschied zuvor, welche Dichter eingeladen werden sollten, sich zu beteiligen. Er beschränkte sich dabei auf deutsche (nicht deutschsprachige) Autoren und achtete darauf, dass das Geburtsjahr der vertretenen Lyriker überwiegend in den 1960er- und 70er-Jahren lag. Außerdem schränkte er den Erscheinungszeitraum der Werke auf die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung bis „heute“ (seinerzeit 2008) ein. Dabei markieren neben dem gesellschaftlichen Umbruch die frühen Werke der einflussreichen Dichter Thomas Kling und Durs Grünbein den Startpunkt. Geigers Anliegen: Allen an Lyrik Interessierten einen repräsentativen Überblick zur gegenwärtigen Dichtung zu bieten und dabei „verschiedene dichterische Temperamente zu offerieren“.[2] Der Anthologietitel Laute Verse reflektiert, was die Sammlung ausmacht: Der Leser lernt deutsche Dichter kennen, die sich in den letzten Jahren „großes Gehör verschafft haben“.[3] Die außerordentlich reiche Lyrikszene, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt hat, werde, so Geiger, noch nicht ausreichend wahrgenommen. Dem Herausgeber lag daran, die Gattung Lyrik aus ihrem Nischendasein zu befreien und die „Lücke von Zu- und Abgewandtheit“ zu schließen.[4] Die Anthologie sollte dabei keine neue Strömung postulieren, sondern „selbstbewusst den ganzen Reichtum an verschiedensten lyrischen Schreibansätzen, die derzeit entwickelt und gepflegt werden“[5], versammeln. Herausgekommen ist ein Porträt der neuen Generation von Dichtern, in dem ganz unterschiedliche Stile, Themen und Formvarianten präsentiert werden. Zu den insgesamt 24 vertretenen Lyrikern zählen neben Henning Ahrens und Jan Wagner sowie den bereits erwähnten Durs Grünbein und Thomas Kling auch Steffen Popp, Marion Poschmann, Monika Rinck und Ulf Stolterfoht. Jeder Autor ist mit etwa zehn Gedichten vertreten, von denen er – und das ist die Besonderheit in Laute Verse – jeweils eines kommentiert und z. B. die Geschichte seines Schaffensprozesses erzählt. So erfährt der Leser etwa, was Anlass eines Gedichts sein kann oder welcher Techniken sich der Dichter bedient, um seinen Versen die gewünschte Ausdruckskraft zu verleihen. Die Anthologie soll dem Leser ein Angebot unter­breiten, „neue Stimmen, andere Ansätze, in alten und neuen Formen zu entdecken“[6], bereichert durch den Blick in die Dichterwerkstatt – so die Erläuterung in Geigers Nachwort.

Die Idee der Gedichtbetrachtung durch den eigenen „Erschaffer“ bietet sich für eine Sammlung zeitgenössischer lyrischer Werke natürlich an – wann hat der Lyrikbegeisterte sonst schon einmal die Möglichkeit gehabt, einem Dichter über die Schulter zu schauen und sich seiner Lesart durch die „Fakten“ lenken zu lassen? Die Frage dabei ist, ob dieser Effekt wirklich erwünscht sein kann – sollte ein Gedicht nicht für sich selbst stehen können und in seiner Deutung unabhängig vom Schaffenden gesehen werden? Ähnliches fragt sich der Dichter Hendrik Jackson, selbst in der Anthologie vertreten, in der Rekapitulation seines Leseeindrucks:

Was ist der Reiz [dieser Kommentare]? Ist es die Tatsache, dass das oft komplexe, auslassende Gedicht die assoziativen Leerstellen mit schönen Geschichten anfüllt? Steht also ein Letzte-Seite (gemeint sind die Zeitungsseiten, wo der Klatsch berichtet wird)-Wunsch dahinter? Ist es das banale Bedürfnis nach erzählerischer Struktur, die Freude einflösst [sic!]? Oder wird durch die Berichte tatsächlich etwas erhellt? Umstände, Zeitläuften, Biographien: Einfluss auf Sprachfindung. Zumindest werden dunkle Stellen ausgeleuchtet. Das sagt natürlich etwas über das Gedicht. Aber zum Nutzen des Gedichts?[7]

Festzuhalten ist jedoch, dass den Dichtern freie Hand bei der Kommentierung gelassen wurde: Während einige die Ausgangssituation für die Entstehung oder die Bearbeitung eines Gedichts darlegen, wie es etwa Henning Ahrens und Jan Wagner tun, schaffen andere mitwirkende Poeten der Anthologie mit ihren Kommentaren eigene kleine Kunstwerke – oder, wie Jackson es nennt: „Minipoetiken“, ohne dabei jedoch „prätentiös und angestrengt“[8] zu wirken.

Zur äußerlichen Form der Anthologie sei noch gesagt, dass Laute Verse mit einer puristischen Gestaltung auskommt, die offenbar nicht von den Gedichten ablenken soll. Weiß dominiert das Umschlagdesign, lediglich der Titel ist in roten Lettern abgedruckt. Im Innenteil sind nur die jeweiligen Titelseiten der Dichter in einem schlicht-modernen Design gehalten, weitere Illustrationen finden sich nicht. Auch die Schriftart und -größe ist bei jedem Gedicht die gleiche. Daraus ergibt sich ein gewisser „Verschmelzungsprozess“ zwischen den in Form und Inhalt z. T. höchst unterschiedlichen Gedichten. Jackson bemerkt in seiner Rezension, dass sich bei der Sichtung der Anthologie „eine dem Werk und der Ruhe des Gedichts gar nicht zuträgliche Lesehektik“ einstellt: „Alles durchblättern! Lesen! Welche Namen nennen? An einem Tag, was eine Hybris! Nach der Pause, in der ich noch einmal das Buch durchgewälzt habe, schmerzt es mich schon, nichts über die alten, wiedergelesenen Gedichte sagen zu können.“[9] Zugleich ermöglicht die Vereinheitlichung, die Gedichte in ihrer puren Form kennenzulernen und so möglicherweise ganz neue Verbindungen zwischen den Werken und ihren Autoren zu entdecken.

Die gemeinsame Betrachtung der Gedichte Wagners und Ahrens’ ergab sich durch die auf den ersten Blick sehr ähnliche Thematik („gaststuben“, „provinz“ – „Brauereiausschank“, „Kleinstadt“). Der Reiz bestand darin, zu ergründen, welchen Einfluss die unterschiedlichen Darstellungsformen auf die Wirkung des Gedichts haben und wie es beiden Werken gelingt, eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Erst auf den zweiten Blick wurde schließlich deutlich, wie unterschiedlich die beiden Gedichte an das Thema Provinz herangehen und wie grundverschieden die Leseeindrücke sein müssen, den die Werke bei intensiver Lektüre hinterlassen.

Im Folgenden wird zuerst Wagners gaststuben in der provinz, danach Ahrens’ Brauereiausschank, Kleinstadt analysiert und interpretiert. Zur weiteren Lektüre sei darauf hingewiesen, dass sämtliche untersuchten Aspekte der Gedichte zusammenhängen und in meiner Interpretation nicht voneinander getrennt gesehen werden können. Die Unterteilung in Unterkapitel diente lediglich der besseren Strukturierung der Arbeit.

[...]


[1] Thomas Geiger: Nachwort. In: Ders. [Hrsg.]: Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart. 2. Aufl. München 2011, S. 349.

[2] Ebd., S. 350.

[3] Ebd., Klappentext. Man könne „Laute“ jedoch auch substantivisch lesen, betont Geiger – dann beziehe es sich auf den Bauplan von Gedichten, in dem Laute, Wörter, Verse und Strophen vertreten sind. – vgl. ebd., S. 351.

[4] Ebd., S. 349.

[5] Geiger (2011), S. 349.

[6] Ebd.

[7] Hendrik Jackson: Der geschenkte Tag. Entdeckungen und Wiederentdeckungen (D.A. Powell, Tran/Weber, Jahrbuch 2009, Laute Verse) (2009). Online unter: http://www.lyrikkritik.de/rez_geschenkter_tag.html (Stand: 05.03.2013).

[8] Ebd.

[9] Jackson (2009), Online-Text.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen "Provinz" in Henning Ahrens' "Brauereiausschank, Kleinstadt" und Jan Wagners "gaststuben in der provinz"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
Lyrik nach 2000
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
22
Katalognummer
V215577
ISBN (eBook)
9783656441755
ISBN (Buch)
9783656907190
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zeitgenössische Lyrik, Jan Wagner, Neue Lyrik, Lyrik nach 2000, Provinz
Arbeit zitieren
Wiebke Hugen (Autor:in), 2013, Das Phänomen "Provinz" in Henning Ahrens' "Brauereiausschank, Kleinstadt" und Jan Wagners "gaststuben in der provinz", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215577

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Das Phänomen "Provinz" in Henning Ahrens' "Brauereiausschank, Kleinstadt" und Jan Wagners "gaststuben in der provinz"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden