Nachsorge von ehemals forensisch-psychiatrischen Patienten nach § 63 StGB in Baden-Württemberg

Am Beispiel des GPV in Stuttgart. Eine qualitativ-quantitative Mitarbeiterevaluation


Masterarbeit, 2009

187 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
1.1. Einführung in den Untersuchungsgegenstand
1.2.Geschichte des Maßregelvollzugs
1.3.Maßregelvollzug im politischen und gesellschaftlichen Diskurs
1.4.Forensische Psychiatrie in Baden-Württemberg

Kapitel 2
2.1. Gesetzliche Regelungen
2.2. Länderrechtliche Regelungen für Baden -Württemberg
2.3. Der typische Fall: Der Weg in den MRV

Kapitel 3
3.1.Maßregelvollzug im allgemeinen Sinn und am Beispiel Baden-Württembergs
3.2. Einflussgrößen auf die Arbeit im MRV und im Anschluss
3.2.1. De-Institutionalisierung in der Allgemeinpsychiatrie führte zu einer Zunahme an Betten im Maßregelvollzug?
3.3.MRV-Plätze in Baden-Württemberg von 1996-2008
3.4.Graphische Darstellung von § 63 und § 64 StGB Plätzen von 1996-2008
3.5.Anzahl der Überhänge im MRV in Baden-Württemberg
3.6. Kosten des Maßregelvollzugs und Vergleich
3.7.Verteilung der Betten nach § 63 StGB auf die 6 Standorte in Baden Württemberg
3.8.Übergang: Entlassung aus dem Maßregelvollzug
3.9. Zusammenabreit Gemeindepsychiatrie und Forensische Psychiatrie

Kapitel 4
4.1.Handlungsforschungsprojekt 2008:Nachsorge Forensik in Baden Württemberg
4.2.Hypothesen
4.3. Motive der Forschung
4.4.Hypothesen für die 2. Studienphase
4.5.Methodik
4.6.Vorgehen
4.7.Darstellung der Untersuchungsgruppe
4.8. Ergebnisdarstellung

Kapitel 5
5.1.Forensische Nachsorge
5.2.Beispiele für Nachsorgeeinrichtungen: Wohnheim Sophienstraße
5.3.Rechtliche Möglichkeiten der forensischen Nachsorge, der § 67h StGB
5.4. Forensische Institutsambulanz (K.Masanz)
5.5.Risiken und Nutzen der Forensischen Institutsambulanz aus Sicht der Forensischen Fachklinken Baden -Württembergs
5.6. Warum scheitert Nachsorge?

Kapitel 6
6.1. Gegenüberstellung Forensische Psychiatrie versus Gemeindepsychiatrie
6.2. Tabelle
6.3. IBRP Recherche: von der Forensik über die Hilfeplankonferenz
6.4. Ergebnisse der Recherche
6.5. Wo werden die forensischen Klienten im GPV Stuttgart versorgt?
6.6. Befragung in 5 Nachsorgeeinrichtungen des GPV Stuttgart

Kapitel 7
7.1.Der Bezug forensische Nachsorge im GPV Stuttgart
7.2.Der Gemeindepsychiatrische Verbund (GPV) Stuttgart ( 105-109)
7.3.Gremienstrukturen des GPV Stuttgart
7.4. Zielgruppe der Gemeindepsychiatrischen Zentren im GPV Stuttgart
7.5. Rolle des forensischen Personenkreises im GPV Stuttgart

Kapitel 8
8.1. Vorbereitung der 2. Studienphase
8.2. Ergebnisse aus der 1.Studienpahse -Der quantitativer Teil
8.2.1. Vorstellung des Patienten-Übergabe-
8.2.2. Zusammenarbeit und Kooperation
8.2.3. Hilfestellung von Seiten der Klinik
8.2.4. Kontrolle
8.2.5. Schlussfolgerungen
8.3. Erste Studienphase trifft auf zweite Studienphase
8.3.1. Hypothesen für Nachsorge in Stuttgart im Rahmen der qualitativen Expertenbefragung in drei sozialpsychiatrischen Einrichtungen
8.3.2. Stichprobensampling
8.3.3.Gestaltung des Fragebogens
8.3.4. Methodisches Vorgehen der qualitativen Expertenbefragung
8.3.5. Erwartungen der FP treffen auf Experten des GPV-Stuttgart
8.4. Der Begriff der Kooperation aus unterschiedlichen Perspektiven
8.4.1. Von welchen Vermutung gehen die drei Experten aus, wie Kooperation in der FP verstanden wird?

Kapitel 9
9.1. Kasuistik: Fall Hr. A.
9.2. Risikofaktoren in der forensischen Nachsorge am Beispiel von Hrn. A.

Kapitel 10.
10.1. Ergebnisdarstellung
10.2. Schlussfolgerung: Evidenzbasierte forensische Nachsorge

Kapitel 11
11.1. Schlussbemerkung

Literatur- und Quellenverzeichnis

Einführung

Wir möchten uns besonders bei Friedel Walburg, Abteilungsleiter der Sozialpsychiatrischen Hilfen der Evangelischen Gesellschaft e.V., für die Durchführung einer Aktenrecherche in der Geschäftsführung der Hilfeplan konferenz in Stuttgart herzlich bedanken. An dieser Stelle möchten wir uns auch bei den Mitarbeitern der Zentren für Psychiatrie in Baden-Württemberg, sowie bei den Mitarbeitern in Stuttgarter Einrichtungen, bzw. in sozialpsychiatrischen Einrichtungen, die innerhalb des Gemeindepsychiatrischen Verbundes Stuttgart vernetzt und organsiert sind, für ihre Mitarbeit, Unterstützung und Teilnahme an der ersten und zweiten Studienphase herzlich bedanken.

Schließlich möchte ich mich bei Hrn. A. für seine Offenheit, sein Vertrauen und sein Einverst ändnis danken, seine Lebens- geschichte im Kapitel 9 zu erw ähnen und somit Zeugnis von einer 10j ährigen forensischen Nachsorgearbeit zuüberliefern. Ich möchte Hrn. A und seiner Ehefrau Fr. R meinen Teil der Masterthesis widmen und wünsche Ihnen St ärke und Hoffnung für ihr weiteres Leben.(K.Masanz)

Zur Gliederung der Arbeit

Die Arbeit ist vor allem gegliedert in die Forschung von Forensischer Nachsorge in den Zentren für Psychiatrie im Bundesland Baden-Württemberg und in die Nachfolge- forschung in den Nachsorgeeinrichtungen in Stuttgart mit den jeweiligen Ergebnissen. Dem geht ein allgemeiner Teil mit Definitionen und Heranführung an die Thematik Forensik und Nachsorge voraus. Am Ende folgen eine Ergebnisdarstellung, eine Interpretation der Ergebnisse und eine Diskussion über deren Bedeutung für die Praxis sowie eine Falldarstellung.

Zwecks einer leichteren Lesbarkeit des Textes wurde auf die Erwähnung von männlichen und weiblichen Formen verzichtet. Alle angesprochenen Gruppen wurden in der männlichen Form belassen. Natürlich sind auch alle Mitarbeiterinnen, Patientinnen, usw. gemeint.

Kapitel 1

1.1. Einführung in den Untersuchungsgegenstand

Forensische Psychiatrie: Der Bereich der Forensischen Psychiatrie ist ein Teilbereich der Psychiatrie. Sie ist Schnittstelle zwischen Strafvollzug und Allgemein- und Gemeindepsychiatrie. Die Forensische Psychiatrie befasst sich mit psychisch kranken Menschen, die unter anderem auch einen juristischen Hintergrund haben. Der Maßregelvollzug ist dabei ein Teilbereich der Forensischen Psychiatrie.

Die Patienten werden in Fachkliniken mit strafvollzugähnlichen Sicherheitsbestimmungen untergebracht. Eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach dem Strafgesetzbuch (StGB) wird vom Gericht angeordnet.[1]

Maßregeln der Besserung und Sicherung: Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind im StGB nach §§ 61 ff geregelt. Maßgeblich für den Maßregelvollzug (MRV) sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64. In diesem Zusammenhang stehen aber auch die §§ 20 + 21 StGB, die die Schuldunfähigkeit aufgrund einer seelischen Störung, bzw. die verminderte Schuldfähigkeit regeln.[2]

Forensische Nachsorge: Häufig werden forensische Patienten nicht in das private Umfeld, sondern zur weiteren Kontrolle und Unterstützung in eine betreute Einrichtung entlassen. Diese Einrichtungen sind in ihren Angeboten abgestimmt auf schwieriges Klientel, wenn auch nicht im Speziellen auf ehemalige forensische Patienten. Es werden Patienten in Nachsorgeeinrichtungen entlassen, die alleine nach der Entlassung vor allem in Gefährlichkeit und Delinquenz weiter gefährdet sind.[3]

Dieser Untersuchung vorangegangen ist ein Handlungsforschungsprojekt, wobei es im Besonderen um die Unterbringung und Entlassungen aus dem MRV in Baden- Württemberg ging. Besonderes Augenmerk galt den Kliniken, die Patienten nach § 63 StGB behandelten. In dieser Nachfolgeforschung ist das Thema im Speziellen die Nachsorge der MRV-Patienten nach der Entlassung aus den psychiatrischen Kliniken in Stuttgarter Nachsorgeeinrichtungen.

1.2.Geschichte des Maßregelvollzugs:

1871
In Deutschland trat das Reichsstrafgesetzbuch in Kraft. Unzurechnungsfähige Straftäter hatten die Möglichkeit, freigesprochen zu werden.[4]

1933
Einführung des Maßregelvollzugs nach einer Strafrechtsreform. Der MRV geht zurück auf das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung. Der Sicherungsaspekt stand dabei im Vordergrund und wird darum auch zuerst genannt.[5]

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zunächst als §§ 42 + 43 StGB eingeführt.

1969
Strafrechtsreform: Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und - in einer Entziehungsanstalt sind nun unter den §§ 63 + 64 StGB zu finden. Neu eingeführt wurde die Maßregel nach § 65 StGB, die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt. Diese wurde aber nie umgesetzt und ist heute aus den Bestimmungen des StGB heraus- genommen.

In der DDR hab es nach den §§ 15 + 16 StGB der DDR nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Anschluss an eine zivilrechtliche Unterbringung. Nach der Vereinigung wurden die bundesdeutschen Vorschriften einheitlich übernommen.[6]

1975
Strafrechtsreform: Die Behandlung gewinnt immer mehr an Bedeutung. Der Wortlaut im Gesetz wurde geändert, bzw. umgedreht und heißt fortan Maßregeln der Besserung und Sicherung.[7]

1976
Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) tritt in Kraft. Darin wird nach § 138 festgelegt, dass der MRV nach Länderrecht geregelt wird. Bis heute gibt es noch länderrechtliche Unterschiede.

Trend seit den 70er Jahren ist die zunehmende Spezialisierung. Einzelne Stationen der Kliniken arbeiten mit spezifischen Behandlungskonzepten. Dies geschieht in Reaktion auf die Psychiatrie-Enquête von 1975.

Trend seit der Jahrtausendwende ist der Aufbau spezieller Einrichtungen für jugendliche Straftäter und auch der Fokus auf angemessene Unterbringungsmöglichkeiten auf einen längeren oder dauerhaften Zeitraum.

1994
Betäubungsmittelgesetz (BtmG) tritt in Kraft. Stehen die Betäubungsmittelabhängigkeit und die Straftat in Zusammen- hang, kann die Vollstreckung der angeordneten Strafe zurückgestellt werden, sowie die Therapiezeit darauf angerechnet werden, soweit sich der Straftäter freiwillig in eine Behandlung begibt.

Trend ist das höhere Augenmerk auf Sicherheit, vor allem auf die Sicherheit der Allgemeinbevölkerung vor den Straftätern. Die Politik hat somit einen erheblichen Einfluss auf den MRV. Dies zeigt sich vor allem in den 1998 verabschiedeten strengeren Vorschriften bzgl. Überwachungsmaßnahmen. Entlassungsplanung und die damit in Verbindung stehenden Erprobungsphasen werden immer später und vorsichtiger gewährt.

1998
Als Reaktion auf diesen Trend wird das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten eingeführt. Eine Begutachtung der zukünftigen Gefährlichkeit wird vorgeschrieben, wenn eine Entlassung auf Bewährung angestrebt wird.[8]

1.3. Maßregelvollzug im politischen und gesellschaftlichen Diskurs

Gesellschaftliche und politische Prozesse berühren den Maßregelvollzug noch stärker als die psychiatrische Versorgung insgesamt. Es besteht eine Dialektik zwischen den rational aber auch irrational motivierten Sicherheitsbedürfnissen einer Gesellschaft und dem Appell nach einer angemessenen therapeutischen Versorgung von psychisch kranken Straftätern. Die Aufgabe der Forensik ist die Behandlung und Sicherung von Menschen, die im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung (55 % Psychosen, 20 % Persönlichkeitsstörungen, 20 % organische Störungen und Minderbegabung; Freese 2004) eine Straftat von besonderer Erheblichkeit (Tötungsdelikt 30%, Brandstiftung 13%, Körperverletzung 25 %, sexuelle Gewalt 15% und Eigentumsdelikte 13%, a.a.O.2004) begangen haben, und bei denen die zugrunde liegende Erkrankung und die Gefährlichkeit fortbesteht (Saimeh 2002). Ein wichtiges Kriterium ist die Schuldunfähigkeit bzw. die verminderte Schuldfähigkeit, die nach § 20 und 21 StGB nachgewiesen werden muss. Vom Gericht wird dann die Maßregel nach § 63 StGB, die geschlossene Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik angeordnet, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass vom Patienten infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.[9]

1.4. Forensische Psychiatrie in Baden-Württemberg

Das Besondere an dem Bundesland Baden-Württemberg ist, dass der MRV über das Unterbringungsgesetz geregelt ist und nicht, wie in vielen anderen Bundesländern über das Maßregelvollzugsgesetz. In Baden-Württemberg gibt es 7 Zentren für Psychiatrie, in denen Maßregeln der Besserung und Sicherung vollzogen werden, davon 6 nach § 63 StGB. Die Unterbringung findet weitgehend dezentralisiert statt[10].

In der Befragung der Kliniken im Rahmen des Forschungs- projektes wurde von Klinikmitarbeitern angegeben, dass sich die Herkunftsgemeinden meist weit weg von der Klinik befinden. Bei 48% der Angaben liegen die Heimatgemeinden zwischen 50 und 100 km von der Klinik entfernt, bei 43% sogar mehr als 100 km. Lediglich bei 28% der Patienten liegt die Heimatgemeinde nahe der behandelnden Klinik, weniger als 50 km entfernt. Eine weite Entfernung erschwert vor allem eine Wiedereingliederung in die Heimatgemeinde im Rahmen der Entlassungsvorbereitung.[11]

Kapitel 2

2.1. Voraussetzungen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - Rechtliche Grundlagen für die Anordnung einer Maßregel

Angeordnet wird eine Maßregel nach Volckart und Grünebaum durch ein Urteil des jeweiligen Strafgerichts. Geregelt ist dieses Verfahren in der Strafprozessordnung (StPO). Voraussetzung für eine Unterbringung nach §§ 63 oder 64 StGB ist das Alter von mindestens 14 Jahren zum Zeitpunkt der Tat. Jugendliche können also grundsätzlich eine Maßregel angeordnet bekommen, wobei bei Kindern eine Anordnung entfällt. Für Kinder unter 14 Jahren kommt eine Maßnahme des Vormund- schaftsgerichts in Frage.

Die Anordnung einer Maßregel steht immer in Zusammenhang mit einer rechtswidrigen Tat im Sinne des StGB´s. Eine weitere Voraussetzung ist auch immer die Schuldfähigkeit nach § 20 StGB, oder die verminderte Schuldfähigkeit, die nachgewiesen werden muss. In der Praxis bedeutet dies, dass die Tat in einem schuldunfähigen, bzw. vermindert schuldfähigen Zustand begangen wurde. Das bedeutet aber im Rückschluss nicht, dass der Verurteilte für seine Tat nicht verantwortlich ist.

Verhängt wird eine Maßregel in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt (nach § 64 StGB), wenn von dem Täter eine weitere Gefährlichkeit ausgeht und zu erwarten ist, dass er weitere erhebliche Straftaten begehen wird. Wenn weitere Taten ebenfalls Symptome der psychischen Verfassung und Zustandes des Täters sind, ist eine Anordnung einer Maßregel gerechtfertigt. Es besteht also ein Zusammen- hang zwischen Tat, psychischem Zustand des Täter und der weiteren drohenden Taten.

Für die Erstellung einer Kriminalprognose wird ein Gutachter nach § 80a StPO hinzugezogen, auf dessen Gutachten sich das Gericht in der Urteilsfindung stützen kann.

Der Vollzug der Maßregel endet, wenn eine Vollstreckungs- entscheidung vorliegt, denn die Dauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist zeitlich unbegrenzt. Einmal pro Jahr wird die Fortdauer der Unterbringung überprüft. Die Kliniken haben durch die Tätigkeit direkt mit dem Patienten Einfluss auf die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer. Geregelt sind diese Vollstreckungs- entscheidungen in den §§ 67 ff StGB und §§ 449 ff StPO. Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften sind in der Strafvollstreckungsordnung geregelt. Zusätzlich gibt es die in § 125 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) vorgeschriebenen Vollstreckungspläne, in denen die Zuständigkeiten der jeweiligen Einrichtungen geregelt sind. In Baden-Württemberg allerdings gibt es, wie auch in verschiedenen anderen Bundesländern auch, keine gesetzliche Grundlage für die Vollstreckungspläne.

Zur Anordnung und Vollstreckung der Maßregel gibt es unterschiedliche Reihenfolgen. Wird die Maßregel neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wir die Maßregel vor der Freiheitsstrafe vollstreckt. Gibt es allerdings die Möglichkeit, das Ziel der Maßregel zu erleichtern, kann ein Teil der Freiheitsstrafe auch vor der Maßregel vollstreckt werden.

Die Anordnung der Maßregel kann aufgrund von besonderen Umständen nach §67 II StGB aufgehoben oder geändert werden.

Im Fall der Vollstreckung der Maßregel vor der Freiheitsstrafe wird die Zeit der Maßregel auf die Dauer der Freiheitsstrafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Ebenso besteht in diesem Fall die Möglichkeit, dass das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung aussetzt. Geschieht das nicht, wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt. Wurde die Maßregel zugleich mit einer Freiheitsstrafe verhängt, dann ist grundsätzlich die Maßregel zuerst zu vollziehen. Die Zeit der Unterbringung wird wiederum angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Die Vollstreckungsreihenfolge kann aber auch umgekehrt werden, so dass die Strafe vorwegvollzogen wird, aber nur, wenn dadurch das Ziel der Maßregel besser erreicht werden kann. Dazu bedarf es einer genauen Begründung im Einzelfall. Zu berücksichtigen ist die Reihenfolge der Vollstreckung vor allem, wenn es sich um eine lange Freiheitsstrafe handelt. Im Einzelfall ist abzuschätzen, welche Reihenfolge für die Erreichung des Ziels der Maßregel und für den jeweiligen Verurteilten die günstigere ist.

Bei einer gleichzeitigen Anordnung von Freiheitsstrafe und Maßregel werden auch die Zeiten der Untersuchungshaft angerechnet. Der Zwei-Drittel-Zeitpunkt kann dadurch schneller erreicht werden. Für solche Fälle wird für jeden Verurteilten eine Strafzeitberechnung erstellt.

Der Fall, dass die Maßregel stellvertretend für eine Freiheitsstrafe steht, da die Zeiten angerechnet werden, gilt nicht, wenn neben der Maßregel eine Freiheitsstrafe ansteht, aufgrund einer Tat aus anderer Sache. Diese kann, da sie nicht mit der Maßregel in Zusammenhang steht, nicht angerechnet werden. Was zuerst zu vollstrecken ist, ist in diesem Fall gesetzlich nicht geregelt. Die Entscheidung darüber trägt die Vollstreckungsbehörde.

In Bezug auf die Maßregeln kann eine Unterbringung auch aufgrund eines Haftbefehls und Unterbringungsbefehls nach § 126 a StPO geschehen. Diese einstweiligen Unterbringungen erfüllen den Zweck einer Untersuchungshaft, bei der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, oder einer Entziehungsanstalt indiziert ist. Gleiches gilt bei einem Auslieferungsbefehl bei ausländischen Patienten.[12]

2.2 Länderrechtliche Regelungen für Baden-Württemberg - Unterbringungsgesetz

Zur Unterbringung im Maßregelvollzug werden in Deutschland drei verschiedene Gesetze angewendet. Der größte Anteil der Bundesländer wendet das Maßregelvollzugsgesetz an. Dazu gehören 1. Hamburg, 2. Schleswig-Holstein, 3. Hessen, 4. Niedersachsen, 5. Nordrhein-Westphalen, 6. Rheinland-Pfalz, 7. Saarland und 8. Sachsen-Anhalt.

Das Gesetz für psychisch Kranke (PsychKG) wird mit Sonderabschnitte und Verweisen angewendet von 1. Berlin, 2. Brandenburg, 3. Bremen, 4. Mecklenburg-Vorpommern, 5. Sachsen und 6. Thüringen.

Nur zwei Bundesländer, 1. Baden-Württemberg und 2. Bayern wenden das Unterbringungsgesetz an.

Das Unterbringungsgesetz wird angewendet in der Fassung von 1991, zuletzt geändert 1995. Es teilt sich in verschiedene Abschnitte. Dazu gehören folgende Themengebiete:

- Allgemeines mit Voraussetzungen der Unterbringung Unterbringungsverfahren
- Unterbringung
- Maßregelvollzug
- Kosten, Rechte und Schlussbestimmungen[13]

Die Landesärztekammer Baden-Württemberg hat mit den Bezirksärztekammern ein Merkblatt für die Unterbringung psychisch Kranker herausgebracht.

Voraussetzung für eine Unterbringung ist, dass der Patient psychisch krank ist. Psychisch krank sind Menschen mit einer seelischen oder geistigen Behinderung, Krankheit, oder Störung. Zusätzlich nach diesem Gesetz muss noch eine physische oder psychische Abhängigkeit von einem Suchtmittel oder Medikamenten vorliegen, im Sinne einer Krankheit. Eine weitere Voraussetzung ist der Bedarf einer Unterbringung. Dieser liegt vor, wenn der Patient in Folge seiner Krankheit in seinem Leben oder seiner Gesundheit gefährdet ist, oder wenn die Möglichkeit besteht, dass auch Andere dadurch gefährdet sein könnten.[14 ]

Der vierte Abschnitt gilt mit § 15 dem Maßregelvollzug. Dort wird speziell darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Vollzug um eine strafrechtliche Unterbringung handelt. Des Weiteren werden Urlaub und Vollzugslockerungen der Patienten behandelt.[15]

Die Anordnung einer Maßregel, sowie die weiteren Verfahrensschritte wie Überprüfung, Beendigung oder Aussetzung zur Bewährung, sowie auch der Widerruf der Bewährung sind durch das Bundesrecht geregelt. Die Gestaltung der Unterbringung und die Durchführung der Behandlung unterliegen den Bundesgesetzen und deren Ländergesetzen. Auch Vollzugslockerungen werden in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Es wird dabei unterschieden nach Krankheitsbild, oder nach Therapieerfolg und dabei an bestimmte Voraussetzungen gebunden, vor allem an eine positive Prognose. Grundsätzlich bedeuten Lockerungen eine vermehrte Eigenverantwortung und mehr Freiheit für den Patienten. Sie sind damit fester Bestandteil der Therapie. In manchen Bundesländern wird in den Gesetzen noch zwischen Lockerungen und Urlaub unterschieden, beim Urlaub handelt es sich aber eigentlich auch um eine Form von Vollzugslockerungen.

Überblick über die landesrechtlichen Lockerungsregelungen im Einzelnen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landes NRW, Maßregelvollzug,Oktober 2004)[16 ]

Erläuterung zur Tabelle: Überblick über landesrechtliche Lockerungsregelungen

In der Tabelle wird deutlich, dass in Baden-Württemberg das Unterbringungsgesetz angewendet wird. Voraussetzung für Lockerungen und Urlaub ist es, dass eine Gefahr für andere nicht befürchtet wird. Im Gegensatz dazu ist es Voraussetzung in Hessen, in dem das Maßregelvollzugsgesetz angewendet wird, dass Urlaub und Lockerungen weiteren Behandlungs- zwecken dienen. Sie sind daher Teil der Entlassungs- vorbereitung. Ausschlussgründe sind dagegen weitgehend gleich. Sobald Entweichungsgefahr, Missbrauchsgefahr zu Straftaten oder eine Zweckgefährdung vorliegen, werden Lockerungen und Urlaub nicht genehmigt. Dies ist eine Kann- Bestimmung.

In mehreren Landesgesetzen wird zwischen Kann- und Sollvorschriften unterschieden. Trotzdem haben die Einrichtungen keinen Ermessensspielraum. Ein Ermessen besteht lediglich bei der Auswahl der Lockerungen und bei der zeitlichen Einordnung in den Behandlungsplan.

In Baden-Württemberg spielt der Schutz der Allgemeinheit bei Lockerungsmaßnahmen eine große Rolle. Entscheidend ist dabei die prognostische Einschätzung. Über eine Lockerung entscheidet der leitende Facharzt. In einer Vollzugsplankonferenz werden alle Schritte besprochen Wie in der Tabelle schon ersichtlich wird in den Landesgesetzen auch zwischen Kann- und Sollvorschriften unterschieden. Trotzdem haben die Einrichtungen keinen Ermessensspielraum. Ein Ermessen besteht lediglich bei der Auswahl der Lockerungen und bei der zeitlichen Einordnung in den Behandlungsplan.

2.3 Der typische Fall - Beispiel einer „MRV-Karriere“

Herr K. erkrankt mit 22 Jahren an Schizophrenie. Es gab mehrere Klinikaufenthalte in der Allgemeinpsychiatrie, im Anschluss wurde er in Einrichtungen des gemeindepsychiatrischen Verbundes (GPV) versorgt.

Der GPV ist ein regional verorteter Trägerzusammenschluss, der aus stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten besteht. Zu den Leistungsbausteinen gehören Wohnen, Tagesstruktur, Kontakt und Beschäftigung, Arbeit und Ausbildung für psychisch kranke Menschen.

Herr K. hatte Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst. Es wurde ein IBRP erstellt (Individuelle Behandlungs- und Rehabilitationsplanung), der Fall von Herrn K. wurde in einer Hilfeplankonferenz vorgestellt. Aufgrund dessen wurde er in ein Betreutes Wohnen für psychisch kranke Menschen vermittelt. Dies wurde entschieden, weil Herr K. verschiedene Probleme hat. Er hatte Mietrückstände, es zeigten sich Zeichen von Verwahrlosung, die Räumung der Wohnung wurde veranlasst, er musste in ein Obdachlosenasyl ziehen. Dort kam es nach mehreren Schwierigkeiten zu einem Tötungsversuch eines Mitbewohners. Herr K. wurde verurteilt, die Maßregel nach § 63 StGB wurde angeordnet.

Herr K. durchläuft ein Behandlungskonzept einer forensischen Klinik und wird nach ca. 3-4 Jahren auf die Entlassung vorbereitet. Nach einem prognostischen Gutachten wird dies auch von Seiten der Strafvollstreckungskammer genehmigt und die Unterbringung ausgesetzt. Für Herrn K. tritt Führungsaufsicht ein. Während der Entlassungsplanung hatte Herr K. ausreichend Zeit, sich eine geeignete Einrichtung auszusuchen, und dort auch zur Probe zu wohnen. Diese Einrichtung ist speziell auf schwierige Patienten ausgerichtet und steht in engem Kontakt mit den forensischen Kliniken. Im Rahmen der Betreuung wird Herr K. in Angebote des GPV vermittelt und darin unterstützt, wieder einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. (Quelle Fall Präsentation 2008 HFP)

Kapitel 3

3.1. Maßregelvollzug im allgemeinen Sinn und in BadenWürttemberg

Erfahrungen aus dem europäisch-amerikanischen, russischen Raum und bundesdeutsche Entwicklungen zeigen in den letzten zwei Jahrzehnten eine kontinuierliche Zunahme im Strafvollzug, aber auch an Betten im Maßregelvollzug.[17] Dieser Trend spiegelt sich auch im Bundesland Baden-Württemberg wieder. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und mehrdimensional. Sowohl für den Strafvollzug als auch für den Maßregelvollzug oder für die stetige Zunahme an Unterbringungen in Deutschland, sind vermutlich, so Zinkler, unterschiedliche Entwicklungen, die wiederum unterschiedlichen Paradigmen folgen, die in unterschiedlicher Weise dem herrschenden Zeitgeist unterliegen, verantwortlich.

So ist z.B. aus der ersten Forschungsphase, dem Handlungs- forschungsbericht „Nachsorge Forensik in Baden-Württem- berg“ zu erfahren, dass alle fünf Forensischen Psychiatrien in Baden-Württemberg von der Gemeinde- und Allgemeinpsych- iatrie eine fortlaufende Risikobeurteilung und kontinuierliche Kontrollen und unter Umständen den Einsatz von Zwangsmaßnahmen erwarten.[18]

Gleichzeitig ist bei manchen Forensischen Psychiatrien ein mangelndes Selbstverständnis von Gemeindenähe zu ver- missen. Auf die naheliegende Nutzung und Vermittlung von entlassfähigen Patienten in gewachsene gemeinde- psychiatrische Versorgungsstrukturen wird nicht von allen Forensischen Psychiatrien darauf zurückgegriffen.

Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass Forensische Psychiatrien starke Symptome von totalen Institutionen aufweisen, die nicht nur durch strukturelle und dezentrale Rahmenbedingungen begünstigt werden.[19]

3.2. Einflussgrößen auf die Arbeit im Maßregelvollzug und im Anschluss

Neben personellen Einflussgrößen, das heißt z.B. ein Richter oder Staatsanwalt wird neu ins Amt bekleidet, wirken sowohl juristische Einflussgrößen, die z.B. durch eine Gesetzes- änderung der Unterbringung für Straftäter im Maßregelvollzug vom 22.2.2006 verabschiedet werden, als auch kostenträger- spezifische Einflüsse durch z.B. Krankenkassen, auf die forensische Nachsorgearbeit. In der erwähnten Gesetzes- änderung werden strengere Urlaubsregelungen, engere Vorgaben zu Vollzugslockerungen und ein noch sicheres Verfahren, wenn in bestimmten Fällen Urlaubs- oder Vollzugs- lockerung gewährt werden, definiert.[20]

Die unbeeinflussbaren Rahmenbedingungen geben der Allgemeinpsychiatrie mit Pflichtversorgungsauftrag enge Vor- gaben für die Behandlungsdauer von akut chronisch psychisch kranken Menschen vor, die im Rahmen der Nachsorge oder der Eingliederungshilfe gemeindepsychiatrisch begleitet werden. Auf der anderen Seite rechtfertigen bessere Behandlungs- methoden in der Allgemeinpsychiatrie und differenzierte und komplexe ambulante gemeindepsychiatrische Vernetzungs- und Versorgungsstrukturen eine frühere Entlassung.

Die Hypothese, die eine starke Zunahme an Betten in der Forensischen Psychiatrie durch kürzere Behandlungszeiten der Allgemeinpsychiatrie zu erklären versucht, ist wissenschaftlich, so Zinkler, nicht haltbar bzw. konnte nicht bestätigt werden.

Eine verkürzte Behandlungsdauer ist nicht nur in der psychiatrischen Klinikversorgung sondern in der gesamten klinikstationären Gesundheitsversorgung zu verzeichnen. Die Ableitung, dass es seit Anfang der 90er Jahre zu einer Transinstitutionalisierung bzw. einer Re-Institutionalisierung von Klientel der Allgemein- und Gemeindepsychiatrie in den Straf- und Maßregelvollzug gekommen ist, ist nach Zinkler, anzuzweifeln. Gesellschaftliche Gründe, der gesellschaftliche Einfluss und die mediale Attraktion spielen ebenso bedeutsame Rollen. Zinkler sagt hierzu, dass die Trends im Maßregelvollzug besser als Abbildungen eines gesellschaftlichen Trends mit größerem Sicherheitsbewusstsein und geringer Risikotoleranz erklärbar sind.[21] Verzögerte Entlassungen aus dem Maßregelvollzug, so Zinkler weiter, könnten als sensible und zeitnahe Indikatoren dieser Trends gelten, denn die Dauer der forensischen Unterbringung ist nicht wie im Strafvollzug per Urteil im Voraus definiert, sondern hängt von der individuellen Entwicklung des Patienten, von den noch ausgehenden Risiken, aber auch vom Zeitgeist und möglicherweise sogar vom Tagesgeschehen ab.

Wenn sich z.B., wie im Amoklauf von Tim K. am 11.3.2009 in Winnenden bei Stuttgart geschehen,[22] spektakuläre Straftaten ereignet haben, und sich die öffentliche Wahrnehmung durch eine multiple und erschöpfende Berichterstattung undifferenziert auf den Personenkreis eines psychisch auffälligen bzw. kranken Jungen konzentriert, der dreizehn Menschen hingerichtet hat, hat dies mit hoher Wahrscheinlichkeit negativen Einfluss auf die forensische Unterbringung bzw. die Nachsorge, zu Entscheidungen von Anträgen auf Lockerungen, Belastungserprobungen, zu anstehenden Entlassungen bei entlassfähigen Patienten oder zur Dauer von Führungsaufsichten.

So sind u.a. auch die ansteigenden Überhänge in Kapitel 3.4. zu erklären, die ein inhomogenes Verhältnis von Zugängen bzw. Entlassungen von Patienten wiedergeben. Ein Hinweis ist auch die Anzahl der von der Forensischen Fachklinik vorgestellten Integrierten Behandlungs- und Rehapläne in den regionalen Hilfeplankonferenzen innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit. Es ist z.B. auffällig, dass seit Monaten keine neuen entlass- fähigen forensisch-psychiatrischen Patienten in der Hilfeplan- konferenz Stuttgart vorgestellt worden sind. Dies wird, so ein Vertreter der Hilfeplankonferenz Stuttgart, unter anderem mit den neu eingeführten Richtern und Staatsanwälten des Landgerichtes Stuttgart, sowie dem Amoklauf in Winnenden in kausalem Zusammenhang gebracht.

3.2.1. De-Insitutionalisierung in der Allgemeinpsychiatrie führte zu einer Zunahme an Betten im Maßregelvollzug?

Von einigen Autoren, wie Angermayer(2004), Seifert(2001), Müller-Isberner (2000) und Freese (2004), wurde die Hypothese erstellt, dass die Zunahme im Strafvollzug und Maßregelvollzug durch Phänomene der Trans-Institutionalisier- ung bzw. einer Re-bzw. De-Institutionalisierung erklärt werden können und es somit nur zu Verschiebungen bzw. Abschiebungen von Klienten aus der Allgemein- bzw. Gemeindepsychiatrie in den Strafvollzug oder Maßregelvollzug kommt. Es scheint eine Hypothese zu sein, die in ihrer Aussagekraft vage und unscharf bleibt. Schanda hebt hervor, dass international eine zunehmende Tendenz, eine Gruppe psychisch Kranker beobachtet wird, die durch Chronizität, Mehrfachbeeinträchtigung, Krankheitsuneinsichtigkeit und Non-Compliance als Risikogruppe für Gewalttätigkeit definiert ist, die von der Allgemeinpsychiatrie in die Forensische Psychiatrie gelangen. Nach Schanda spielt auch eine Rolle, dass durch die Tendenz der Allgemeinpsychiatrie, sich dem ethischen Dilemma einer Behandlung im Zwangskontext zu entziehen, der forensisch-psychiatrische Behandlungsvollzug Gefahr läuft, als Instrument sozialer Kontrolle missbraucht zu werden.[23]

Doch spätestens mit der Auseinandersetzung der Studie von Simpson et al (2004) wird klar, dass die oben genannte Hypo- these nicht dieser empirischen Untersuchung Stand hält.[24] Die Studie zeigt, dass trotz massiver Reduktion der Psychiatrie- betten, sich die Anzahl an Tötungsdelikten durch psychisch Kranke am Beispiel Neuseelands von 1970-2000 deutlich reduzierte. Nach Ansicht der Autorengemeinschaft scheint die De-Institutionalisierung nicht mit einer erhöhten Rate von Tötungsdelikten assoziiert zu sein. Die Studie räumt wohl ein, dass eine erhöhte Gefahr von Delinquenz auf eine Subgruppe von psychotischen Patienten mit einem chronischen Krankheitsverlauf und einer hohen Rate an komorbiden Substanzen zu beziehen ist. Wie erwähnt, berichten zwar alle europäischen Staaten über eine Zunahme von psychisch kranken „Angreifern“. Verantwortlich hierfür scheint jedoch eher eine methodische Verzerrung zu sein, eine Verzerrung, die durch eine Änderung der Strafverfolgung und der Rechts- sprechung möglich ist. Die De-Institutionalisierung scheint nach Simpson et al nicht im direkten Zusammenhang zu einer Steigerung der Tötungsdelikte zu stehen. Ganz im Gegenteil, in der Studie sank diese Rate sogar unter der Phase der De- Institutionalisierung. Delinquenz scheint also primär von Umweltfaktoren abhängig zu sein, insbesondere auch bei psychisch kranken Patienten, und weniger von der Anzahl der Klinikbetten. Sozioökonomische und gesundheitliche Faktoren wie Armut, Drogenabhängigkeit, fehlende soziale Unterstütz- ung und fehlende fachärztliche Behandlung, bzw. der fehlende Zugang zu adäquaten Behandlungsmöglichkeiten, spielen hingegen sehr wahrscheinlich eine entscheidende Rolle. Nach diesem Ausflug auf der internationalen Bühne wird der Studienfokus wieder auf das „Ländle,“ Baden-Württemberg, gerichtet. Wie verhält sich nun die Bettenanzahl im Maßregelvollzug in Baden-Württemberg und welche Bedeutung hat dies für die Forensische Nachsorge?

3.3. Maßregelvollzugsplätze in Baden-Württemberg von `96-`08

Tabelle 3a

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Sozialministerium Baden- Württemberg, MRV Betten von 96-2008.Pressestelle; Stand: 2.2009) Erl äuterung zur Tabelle 3a: Die Tabelle zeigt in 1. und 2. die

Entwicklung bzw. die prozentuale Zu- und Abnahme von Plan- und Belegbetten nach § 63 StGB in Baden-Württemberg innerhalb des zeitlichen Intervalls von 1996-2008, also der letzten 13 Jahre. Das Verhältnis von Plan- und Belegbetten zueinander wird in 3., durch sogenannte Überhangbetten, im selben Zeitintervall abgebildet. Die Planbetten sind, im Gegensatz zu den Belegbetten, die tatsächlich vorgehaltenen und finanzierten Betten für den Maßregelvollzug des Landes Baden-Württemberg. Bei den Planbetten ist ein zunächst schleichend sukzessiver Anstieg von 1997 bis 2006 zu beobachten. 2007 kommt es zu einem sprunghaften Anstieg, der durch die Einrichtung von 45 neuen Maßregelvollzugs- betten am Zentrum für Psychiatrie in Weinsberg/ Heilbronn zu erklären ist. 2008 kann hingegen erstmals eine Stagnation bzw. ein Ausgleich von Plan- und Belegbetten konstatiert werden.

Dönisch-Seidel et al(2003) zufolge, kostet in Deutschland das Einrichten eines neuen Platzes im Maßregelvollzug 255.000€.[25] Das würde bedeuten, dass im Zeitraum von 1997-2007, bei einer Platzerweiterung von 458 auf 655 um 197 Betten, insgesamt 50,23 Mio. € Steuergelder benötigt wurden. Bei den Belegbetten hingegen kam es im Zeitraum von 1997 und 2002 zu starken Anstiegen. Von 2003-2008 konnte nur ein geringer und langsamer Anstieg der Betten beobachtet werden.

Zu einem späteren Zeitpunkt wird erwähnt, dass die derzeit anstehenden und angefragten entlassfähigen forensisch- psychiatrischen Patienten der letzten 12 Monate, die für eine Nachsorge bzw. Nachbetreuung in einem Wohnheim in Stuttgart vorgesehen sind, derzeit länger als ein Jahr Wartezeit in Kauf nehmen müssen. Das bedeutet, dass entlassfähige Patienten unnötigerweise lange hospitalisiert werden und somit Platzprobleme, zu sogenannten Überhängen, auf- nehmender Patienten daraus resultieren.

In welchem Verhältnis stehen nun die Plätze nach § 63 StGB zu den Plätzen nach § 64 StGB in Baden-Württemberg?

3.4. Graphische Darstellung der Plätze im Maßregelvollzug nach § 63 und §64 StGB in Baden-Württemberg von 1997-2008

Abbildung 3b:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Sozialministerium Baden-Württemberg.Pressestelle Stand 2/2009,eine E-Mail Anfrage vom 22.3.2009, die in türkis abgegildete Kurve stellt die § 63 StGB Belegbetten dar)

Erl äuterung zum Schaubild 3b: Im Schaubild ist zu erkennen, dass die Anzahl der Pätze nach § 64 StGB eine deutlich geringere Rolle in der Versorgung des Maßregelvollzuges spielen als die nach § 63 StGB. Grundsätzlich ist von einem Verhältnis von 75% zu 25 % auszugehen. Auffällig ist die Kongruenz ab 2007 von § 63 StGB Beleg- und Planbetten und dem Überhang von § 64 StGB Planbetten in den Jahren 2005-2008. Ins Auge fällt ebenso der fast zeitgleiche sprunghafte Anstieg von sowohl § 64 als auch §63 StGB-Plätzen bei den Planbetten im Zeitraum von 2005 bis 2007 und das anschließende konstante Plateau im Jahr 2008 und prospektiv im Jahr 2009.

In Bezug auf die forensische Nachsorge in Stuttgart ist in 3.7. u.a. zu erfahren, dass in der Forensichen Fachklinik Weissenau 20-25 Zugänge/anno und 20-25 Entlassungen/anno zu verzeich- nen sind. Zu den Entlassungen werden sowohl die gelungene Vermittlung in eine nachsorgende Einrichtung der Heimat- region, eine Verlegung in den Knast, eine Abschiebung, ein Suizd oder ein natürlicher Tod gerechnet. Welche weiteren Ableitungen und Hinweise können die folgenden Angaben für die Nachsorge in Baden-Württemberg bzw. in Stuttgart liefern ?

3.5. Anzahl der MRV- Überhangbetten in Baden-Württemberg von 1997-2008

Schaubild3b:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Legende: x-Achse/t von 1997-2008 ; y-Achse/Anzahl der Bettenüberhänge von 0-88 Betten)

Erl äuterung zum Schaubild 3c:

Bei den Überhängen, die sich aus der Differenz von Plan - zu Belegbetten errechnet, ergibt sich ein Mittelwert von 50,4 Betten für das zeitliche Intervall von 1997-2008. Mit 88 Überhängen im Jahr 2002 und einen Überhang 2007 ist das Maximum und Minimum an Streuung hervorzuheben. 2002 reagierte die Politik, auf den im Jahr 2002 exponentiell hochschnellenden Überhang von n=88 Betten, mit dem Einrichten von neuen Maßregelvollzugsbetten. Daraufhin wurde dann mit Latenz von 2006 auf 2007 mit einer Erweiterung um 69 Planbetten (+11,7%) reagiert, wobei allein in der Forensischen Fachklinik am Zentrum für Psychiatrie in Weinsberg bei Heilbronn 45 neue Planbetten nach § 63 StGB geschaffen wurden. Auf einen in der Tendenz kontinuierlich linearen Anstieg von 1997 bis 2002, folgte 2003 ein rasches Absinken und wieder erneuter Anstieg bis 2006; ab 2007 ist schließlich erstmals eine Kongruenz von Plan- und Belegbetten festzustellen. Der Kostenaspekt im Maßregelvollzug wurde bereits angesprochen. Wie haben sich nun die Kosten in den letzten Jahren entwickelt, oder daran abgeleitet, wie hoch fallen die Kosten für ein Belegbett im Maßregelvollzug aus und wie sehen diese, auch unter Berücksichtigung der Bettenmess- ziffern in Baden-Württemberg im Vergleich zu anderen Bundes- ländern aus ?

Baden-Württemberg hat mit derzeit 10,9 Mio. Einwohner etwa ähnlich viele Einwohner wie der Freistaat Bayern mit 11,8. Mio./Einw.) oder doppelt so viele Einwohner wie Hessen (6,09 Mio./Einw.). Somit ist zu erwarten, dass die Betriebskosten, die Anzahl der gesamten MRV-Betten, die Kosten pro Belegbett sowie die Bettenmessziffer im Vergleich zu Bayern etwa gleich und im Verhältnis zu Hessen etwa doppelt so hoch sein müssten.

[...]


[1] Vgl.: Forensik-Fibel Kleines ABC des Maßregelvollzugs, 2. Auflage 2003, Zentren für Psychiatrie BadenWürttemberg, S. 19

[2] Ebenda, S. 24

[3] Müller-Isberner Rüdiger & Gretenkord Lutz (Hrsg.), Psychiatrische Kriminaltherapie, Band 2, Freese Roland, Ambulante Versorgung psychisch kranker Straftäter, Pabst Science Publisher Lengerich 2003, 124

[4] vgl.: Schaumburg Cornelia, Basiswissen Maßregelvollzug, Psychiatrie Verlag, Bonn 2003, 18 ff

[5] vgl.: Forensik-Fibel 2003, 20

[6] Vgl.: Schaumburg C., 2003,18 ff

[7] Vgl.: Forensik-Fibel 2003, 20

[8] Vgl.: Schaumburg C., 2003, S. 18 ff

[9] vgl.: Kummer Carina, Masanz Klaus, „Forensik ist Psychiatrie in Zeitlupe“ Eine Mitarbeiterevaluation in 5

Forensischen Fachkliniken im Rahmen des Handlungsforschungsprojektes -Nachsorge der Forensik- in Baden Württemberg 2009, 1

[10] vgl.: Forensik-Fibel 2003, 19 ff

[11] ebenda, 5

[12] vgl.Volckart Bernd, Grünbaum Rolf, Maßregelvollzug, 6. Auflage Luchterhand, 2003,5 ff

[13] ebenda, 263 ff

[14] Landesärztekammer Baden-Württemberg mit den Bezirksärztekammern, Merkblatt Unterbringung psychisch Kranker, 2006, 1 ff

[15] vgl.Volckart Bernd, Grünbaum Rolf:Maßregelvollzug, 6. Auflage Luchterhand, 2003,263 ff [16] von Carina Kummer & Klaus Masanz

[16] vgl.Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW, Maßregelvollzug, Oktober 2004

[17] vgl.Zinkler,Martin:Früher entlassen-schneller im Maßregelvollzug? Zum Verhältnis von allgemeiner und forensischer Psychiatrie.2008.In:R&P Nr.26;102

[18] vgl.a.a.O.Kummer&Masanz.2009,9-10,12

[19] vgl.a.a.O.Zinkler.2008,104

[20] http://www.sm.baden-wuertemmberg.de;Pressemitteilung vom 22.2.2006. Download am 26.2.2009,23:23

[21] vgl.Zinkler,Martin:In: Psychiatrische Praxis:2009;36:Allgemeine und forensische Psychiatrie-Wer kümmert sich um junge Menschen mit psychotischen Störungen?Stuttgart.2009,103-104

[22] www.httml//:sueddeutsche.de. Download vom 23.6.09

[23] vgl.Schanda,H: Problem bei der Versorgung psychisch kranker Rechtsbrecher -ein Problem der AP. In: Psychiatrische Praxis Nr.27/2000;73

[24] vgl.Simpson,A;McKenna,B;Moskowitz,A;Skipworth,J und Barry-Walsh,J:Homicide and mental

illness in New Zealand 1970-2000.In:British Journal of Psychiatrie.2004,184;394-398;

[25] vgl.Dönisch-Seidel,Hollweg,T.:Nachsorge und Wiedereingliederung von (bedingt) entlassenen MRV-Patienten in Nordrhein-Westfalen,In:R&P.1.2003;14-17

Ende der Leseprobe aus 187 Seiten

Details

Titel
Nachsorge von ehemals forensisch-psychiatrischen Patienten nach § 63 StGB in Baden-Württemberg
Untertitel
Am Beispiel des GPV in Stuttgart. Eine qualitativ-quantitative Mitarbeiterevaluation
Hochschule
Hochschule RheinMain - Wiesbaden Rüsselsheim Geisenheim
Veranstaltung
Masterthesis des Studienganges: Master of Advanced Professional Studies -Gemeindepsychiatrie-
Note
1,0
Autoren
Jahr
2009
Seiten
187
Katalognummer
V215777
ISBN (eBook)
9783656445661
ISBN (Buch)
9783656446729
Dateigröße
1319 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
nachsorge, patienten, stgb, baden-württemberg, beispiel, stuttgart, eine, mitarbeiterevaluation, forensische Nachsorge, Forensik
Arbeit zitieren
Klaus Masanz (Autor:in)Carina Kummer (Autor:in), 2009, Nachsorge von ehemals forensisch-psychiatrischen Patienten nach § 63 StGB in Baden-Württemberg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215777

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