Volonté générale und volonté de tous in Rousseaus Gesellschaftsvertrag und in der Gegenwart


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

32 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Vertragstheorien in der Aufklärung

2. Der contrat social und der volonté générale
2.1 Der contrat social
2.2. Der volonté générale
2.2.1 Der ideale Ort des Gemeinwillens ist eine kleine städtische Körperschaft
2.2.2 Zur Funktion und dem Wesen des Gemeinwillen
2.2.3 Individuum und Gemeinwille
2.2.4 Unterscheidung zwischen volonté générale und volonté de tous
2.2.5 Ist Rousseau ein Vorläufer antiliberaler Demokratie, und gibt er Anleihen für eine Diktatur?

3. Volonté générale und volonté de tous als rhetorische Figuren der Gegenwart
3.1 Das Volk in der Verfassung
3.2 Der volonté générale als Legitimation für Diktaturen
3.3 Der volonté générale als rhetorische Figur im politischen Diskurs und seine Bedeutung für die Abgeordneten der Parlamente

Schluß

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Die Bundesrepublik Deutschland ist gewiss keine Republik !“ Die deutsche Gesellschaft ist auf dem Weg zur Auflösung! Rousseau, ein Freund von provokanten und irritierenden Auftakten in seinen Schriften, hätte dieser Aussage womöglich zugestimmt.

Jean Jaques Rousseau, geboren 1712 in der Stadtrepublik Genf, war eine schillernde Persönlichkeit mit einem wechselhaften Leben. So vielfältig die Stationen seines Lebens waren, so vielfältig waren auch die Themen, zu denen sich Rousseau in seinen Schriften geäußert hat[1]. Rousseau, der sich Zeit seines Lebens mit dem kopieren von Noten finanziell über Wasser hielt, komponierte und verfasste diverse Schriften zur Musik. Seine „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ lösten im späten 18. Jahrhundert einen Ausbruch des romantischen Naturalismus aus. Überhaupt gilt er mit seinen Überlegungen zum Wesen des Menschen und der Natur als ein Vorbereiter der Romantik. Sein Erziehungsroman „Emil“ ist ein bedeutendes, noch heute in Universitätskursen gelesenes Buch zur Pädagogik und Kindeserziehung. Der „Emil“ gilt als wichtigstes pädagogisches Werk seit der Antike und erste „weltliche“ Theorie der Erziehung. Schließlich hat Rousseau mit seiner Autobiographie „Bekenntnisse“ einen neuen Maßstab in dieser literarischen Gattung gesetzt und sie in ihrer Entwicklung mitbestimmt.

Am stärksten, bzw. in der heutigen Zeit am offensichtlichsten, hat Rousseau die Nachwelt jedoch mit seinen politisch-philosophischen Schriften beeinflusst. Rousseau, der Vater des „contrat social“ (CS), zählt neben Hobbes und Locke zu den bedeutendsten Vertragstheoretikern und steht für die sogenannte Identitätstheorie innerhalb der Demokratietheorien.

Sein politisches Hauptwerk, der CS, geht dabei der Frage nach, wie und wann Herrschaft überhaupt legitim wird. Dabei hat Rousseau den Begriff des „volonté générale“[2], des Allgemeinwillens, geprägt, den er gegenüber dem Begriff des Gesamtwillen, „volonté de tous“, abgrenzt.

In der vorliegenden Arbeit sollen diese Begriffe ausführlich erörtert und ihre Stellung innerhalb der politischen Vorstellungen Rousseaus aufgezeigt werden. Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese Begriffe heute als Argumentations- und Legitimationsmuster in der Politik Verwendung finden. Dabei wird stellenweise, dort wo es sinnvoll erscheint, auch auf die Rezeption Rousseaus durch andere Politiktheoretiker verwiesen. Zunächst gilt es jedoch in gebotener Kürze, die politischen Schriften („Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit“) Rousseaus in ihren historisch-gesellschaftlichen Rahmen einzuordnen und sie insbesondere gegenüber den Vertragstheoretikern Hobbes und Locke abzugrenzen.

So breit Rousseaus Schaffen war, so reichhaltig, nahezu unüberschaubar, ist die Sekundärliteratur über sein Werk. Da Rousseaus Positionen heute wie damals vielfach umstritten sind, und er einerseits als Kritiker der Moderne und andererseits als weitsichtiger Betrachter der Zukunft gilt, ist sein Werk aus den verschiedensten Perspektiven untersucht und beschrieben worden.

Um in dieser Literaturvielfalt nicht zu versinken, orientiert sich die Arbeit vor allem an den als „Standardwerke“ herausgestellten Publikationen.

1. Die Vertragstheorien in der Aufklärung

In der Neuzeit veränderte sich das Selbstverständnis der Menschen[3]. Die Auffassung, dass die Ordnung der Gesellschaft Ausdruck des göttlichen Willens ist und damit hinreichend legitimiert, wird durch die Forderung aufgelöst, dass nicht Gott, sondern der Mensch im Mittelpunkt stehen müsse. Der Theozentrismus wich langsam dem Anthropozentrismus. Die politischen Philosophen vor der Neuzeit hatten die Herrschaft an sich nicht in Frage gestellt. Sie diskutierten und beschrieben „nur“ die Frage der guten Herrschaft. Dies ändert sich nun, und die Fragestellung ging gleichsam einen Schritt zurück. Ausgehend vom Postulat, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen müsse, stand nicht das „Wie“ der Herrschaft zur Disposition, sondern die Begründung von Herrschaft überhaupt. Es galt, die Existenz des Staates zu rechtfertigen.

Die Vertragstheoretiker versuchten nun, genau dies theoretisch zu begründen. Dabei sollte erarbeitet werden, wie sich aus der Vielzahl von einzelnen Menschen bzw. freien Individuen heraus ein Herrschaftssystem etablieren kann, welches ganz offensichtlich die natürliche Freiheit des Einzelnen reglementiert und dies dennoch vom Einzelnen akzeptiert wird.

Um eine rechtfertigungsfähige Theorie über die Entstehung der Herrschaft zu formulieren, entwickelten sie daher die Vorstellung vom Naturzustand. Der Naturzustand ist gekennzeichnet durch das Fehlen jeglicher Regeln und staatlicher Ordnung und Gewalt. In diesem anarchischen Zustand, versucht jeder, das Maximale für sich zu erreichen, was durchaus zum Schaden anderer führen kann. Deshalb beinhaltet dieser Zustand eine ständige Gefahr für den Menschen und macht ein Leben zur Qual. Diesen Zustand können die Menschen nur durch die Etablierung staatlicher Ordnung überwinden, weshalb es zu einem Vertrag kommt.

Die Vorstellung eines zu überwindenen Naturzustandes war fast allen Vertragstheoretikern gemeinsam. Der Unterschied bestand nur darin, dass sie jeweils etwas anderes als mangelhaft im Naturzustand definierten.

Rousseau indes definierte den Naturzustand anders und kritisierte die Vorstellung von Hobbes, Locke und Pufendorf. In seiner ersten politischen Schrift dem „Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit“, arbeitete er seine Positionen heraus.

Zentral ist dabei die Vorstellung von der Gleichheit bzw. Ungleichheit. Nach Rousseau bestehen aus zweierlei Gründen Ungleichheiten zwischen den Menschen. Einerseits aus natürlichen, biologisch-physikalischen Gründen und andererseits aus moralischen oder politischen Gründen. Letztere Ungleichheit entsteht durch menschliche Entscheidung, sie wird einem zugewiesen.

In contrat social begründet Rousseau ausführlich, weshalb die physikalische Überlegenheit keine hinreichende Legitimation für Herrschaft darstellt[4]. Demzufolge ist die Ursache der Herrschaft und die Begründung der Ungleichheit zwischen den Menschen aus moralischen oder politischen Beweggründen heraus zu erklären.

Um die Ursachen der gesellschaftlichen Ungleichheit zu erklären, formuliert Rousseau eine Vorstellung der menschlichen Entwicklung und erklärt dabei auch seine Vorstellung des Naturzustandes, die sich von den anderen Theoretikern unterscheidet.

Bei Hobbes ist die Ursache des Gesellschaftsvertrages die gefährliche Gleichheit der Menschen im Naturzustand. Da alle die gleichen Voraussetzungen haben und die gleichen Ziele verfolgen, kann dies nur in einen dauerhaften Kriegszustand münden. Um sich diesem zu entziehen, müssen sich alle Menschen dem übermächtigen, Gott gleichen, Leviathan unterwerfen. Seine umfassende Macht schützt die Menschen vor den Menschen. In Lockes Vorstellungen herrscht ebenfalls Gleichheit. In eben dieser Gleichheit, in der jeder jeden richten und beherrschen kann, ist es nicht möglich, sein Privateigentum zu schützen. Nur in einer Gesellschaft mit einer übergeordneten Macht kann das Eigentum vor dem Zugriff des jeweilig anderen geschützt werden. Der Erhalt des Friedens bei Hobbes, die Sicherheit des Eigentums bei Locke sind die Gründe, warum staatliche Herrschaft nötig wird.

In der Auffassung Rousseau gingen diese Beschreibungen nicht weit zurück und erfassten nicht die eigentlichen Ursachen für die Entstehung der Herrschaft. Die Naturzustandvorstellungen von Hobbes und Locke beschrieben schon nicht mehr den natürlichen Menschen: „ Sie sprachen vom Wilden und zeichneten den Zivilisierten.“[5] Den Naturmenschen nach Rousseau zeichnen Eigenliebe (amour de soi) und Mitleid (pitié) aus[6], die ihm im übrigen nicht vom Tier unterscheiden. Der Mensch ist in diesem Zustand noch nicht mit Vernunft gesegnet und stellt keine Gefahr für andere Menschen dar. Im weiteren Verlauf seiner Evolution entwickelt der Mensch sich Aufgrund seiner innewohnenden Potentiale weiter (Rousseau umschreibt die Gabe der ständigen Weiterentwicklung des Menschen mit dem Begriff perfectibilité) und entdeckt die Sprache, wie auch die Vorteile kurzer Gesellschaft mit anderen Menschen. In der Auseinandersetzung mit der Natur, und später in der Gesellschaft, entwickelt der Mensch die sogenannte amour propre, die Selbstsucht. Damit entfernt sich der Mensch ein Stück von seiner eigenen Natur. Er ist sich nicht mehr selbst genug und bedarf des Gefühls, dass auch andere Menschen seine Person achten. Hier beginnt der langsame Abschied vom nahezu bedürfnislosen, glücklichen und autonomen Menschen. Dieser von Rousseau als Ideal charakterisierte Zustand hat zu vielen Missverständnissen geführt. Rousseau wolle zurück zur Natur war gemeinhin die Vorstellung, die provokant von Voltaire in einem Brief an Rousseau formuliert wurde: „(...)Man bekommt Lust, auf allen vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest.“[7] Andere Interpretatoren sehen in seinem Naturzustand eher eine kritische Norm in zivilisations- und kulturkritischer Hinsicht.[8]

Gleichwohl beschreibt Rousseau die Umbruchsphase des Naturmenschen als die glücklichste der Menschheit. Der Mensch löst sich eben nur so weit aus seinem primitiven Zustand, dass die entstandene Selbstsucht ihm die Möglichkeit bietet, seine vorteilhafte Lage zu begreifen, zu genießen und zu verbessern. Verbildlicht wird diese Vorstellung Rousseaus in der Beschreibung der genügsamen Lebensweise von Hirten.

Dieses glückliche Zeitalter findet sein Ende durch die Erfindung der Metallurgie und des Ackerbaus. Gemeinsam führen diese Errungenschaften zur Arbeitsteilung und zur Entstehung von Eigentum. Die Inbesitznahme von Land über die eigenen menschlichen Grundbedürfnisse hinaus führt zu Ungleichheit. Die Reichen werden von den Armen beneidet und sind sowohl durch diese, als auch durch andere Reiche gefährdet. Da in dieser Phase Eigentum nur durch Stärke und nicht durch Gesetz gesichert ist, beginnt ein ständiger Kampf. Nun erst konstatiert Rousseau den Kriegszustand, den auch Hobbes beschreibt. Für Rousseau ist also der Kriegszustand keine Eigenschaft des Naturzustandes wie bei Hobbes, sondern ein Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung.

Um diesen Zustand zu überwinden entwickeln die Reichen einen Vorschlag. Sie stellen einen Vertrag zu Disposition, der eine staatliche Autorität etabliert, um Frieden und Gerechtigkeit zu garantieren. Die staatliche Autorität errichtet auch eine allgemeine Gesetzgebung und sichert durch Gesetze die Eigentumsverhältnisse.

Dieser contrat de riche verfolgt aber noch eine weitere verborgene Intention. Die Reichen sichern damit ihre „Ursupation“ des Eigentums ab und setzen ihren Partikularwillen durch. Aus Rousseaus Sicht besiegelt der Akt die widerrechtliche, weil nicht legitim entstandene Ungleichheit zwischen den Menschen, und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse. Folge dieser Vereinbarung ist der Verlust der natürlichen Freiheit des Menschen (für Rousseau ist dies kein Vertrag, da die Freiheit des Menschen nicht gewahrt ist).

Rousseau kritisiert mit seiner Problematisierung des contrat de riche indirekt die anderen Vertragstheoretiker. Deren Gesellschaftsvertrag legitimiert die vor dem Vertrag herrschende Ungleichheit und versucht, diesen Zustand nachträglich mit einer legitimen Herrschaft zu versehen. Damit fügen sie aus Sicht Rousseaus dem Gesellschaftsvertrag noch einen Unterwerfungsvertrag an (bei Pufendorf sind es zwei Verträge, bei Hobbes und Locke fallen beide Verträge zusammen). In diesem Unterwerfungsvertrag geben die Menschen alle ihre Rechte und Freiheiten komplett zugunsten eines einzigen Herrschers ab. Sie entledigen sich damit ihrer Freiheit und geben aus Rousseaus Perspektive ihr Menschsein auf. Deshalb können diese Verträge nicht gültig und gut sein.

Ein Vertrag nach Rousseau muss dagegen das Ziel haben, die natürliche Ungleichheit zwischen den Menschen abzulösen und in eine gesellschaftliche Gleichheit zu überführen. Um einen solchen Vertrag zu vereinbaren, muss aber die Bedingung der Gleichheit aller Beteiligten erfüllt sein. Die Handlungsfreiheit, die Herrschaftsorganisation und die Regeln der Eigentumsordnung müssen einmütig von allen Beteiligten entschieden werden. Der zu schließende Gesellschaftsvertrag muss die Sicherheit des Menschen und des Eigentums gewährleisten und gleichzeitig die völlige Freiheit des Menschen bewahren, die er im Naturzustand besaß. Wie diese Vorstellung zu verwirklichen ist, formuliert Rousseau im Gesellschaftsvertrag.

[...]


[1] Einen Überblick über Rousseaus Leben und Werk bietet in knapper Form: Wokler, Robert: Rousseau, Freiburg i./Br. 1999. Dieses Buch hat wenige aber sehr nützliche Literaturhinweise.

Eine eher kurzweilige aber interessante Aufbereitung mit Bildern und Briefwechseln bietet: Jens-Peter Gaul: Jean-Jaques Rousseau, München 2001.

[2] Im folgenden werden alle französischen Begriffe kleingeschrieben. Auf die Hervorhebung der Begriffe in Anführungszeichen wird im folgenden auch verzichtet.

[3] Vgl., zum folgenden Abschnitt: Kersting, Wolfgang: Jean-Jaques Rousseaus Gesellschaftsvertrag, Darmstadt 2002, passim. Diese Werkinterpretation analysiert äußerst ausführlich den Gesellschaftsvertrag. Da die Arbeit sehr stark auf philosophische Begriffe zurückgreift, ist der Text zuweilen schwer verständlich.

[4] Vgl., Rousseau, Jean-Jaques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, Frankfurt A./Main 2000, Buch Eins (I), 3. Kapitel, S. 17.

[5] Zitiert aus: Gülbahar, Tim: Autonomie als Ideal. Jean Jacques Rousseaus politische Theorie, Marburg 2000, S. 46.

[6] Ebd., S. 46ff.

[7] Zitat entnommen, aus: Jens-Peter Gaul: Jean-Jaques Rousseau, München 2001, S. 84.

[8] Vgl., Herb, Karlfriedrich: Rousseau. Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg 1989, S. 85. Herb und Gülbahar setzen sich ausführlich mit dem „Diskurs“ Rousseaus auseinander und erörtern ausführlich seine Begrifflichkeiten und grenzen diese gegen die Vorstellungen anderer Vertragstheoretiker ab.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Volonté générale und volonté de tous in Rousseaus Gesellschaftsvertrag und in der Gegenwart
Hochschule
Universität Potsdam  (Allgemeine Soziologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
32
Katalognummer
V22124
ISBN (eBook)
9783638255509
ISBN (Buch)
9783668399426
Dateigröße
558 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Volonté, Rousseaus, Gesellschaftsvertrag, Gegenwart, Contrat Social, Gemeinwille, Allgemeinwoh
Arbeit zitieren
Jan Winkelmann (Autor:in), 2004, Volonté générale und volonté de tous in Rousseaus Gesellschaftsvertrag und in der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22124

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