Tiefenpsychologie und religiöse Erziehung?

Eine kommentierte Gegenüberstellung der Bücher von Ringel und Kirchmayr bzw. Virt und Biesinger zum Thema Religionsverlust bzw. –gewinn durch religiöse Erziehung


Seminararbeit, 2003

17 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1 EINLEITUNG

2 ZUSAMMENFASSUNG DER NICHT FOKUSSIERTEN ASPEKTE UND HINFÜHRUNG ZU DIESEN
2.1 Krise und Krankheit der Kirche
2.1.1 Ringel und Kirchmayr
2.1.2 Virt und Biesinger
2.1.3 Kommentar

3 ENTFALTUNG DES MENSCHEN
3.1 Einleitung
3.2 Startbedingungen des Daseins
3.3 Elterliche Erziehungsaufgabe
3.4 Das Selbstwertgefühl pflegen
3.5 Selbsterkenntnis - Gemeinschaftsfähigkeit
3.6 Erziehung zur Solidarität
3.7 Dialektisch denken
3.8 Kreativ leiden lernen
3.9 Zusammenfassung

4 TIEFENPSYCHOLOGISCHE ERWÄGUNGEN ZUM RELIGIONSUNTERRICHT
4.1 Zur Lage des Religionsunterricht
4.2 Religionsunterricht als Beitrag zur ganzheitlichen Bildung
4.3 Tiefenpsychologie als Hilfe für Religionslehrer
4.4 Förderung einer konkreten und aufgeschlossenen Religiosität

5 ABSCHLIEßENDER KOMMENTAR

6 REFLEXION

7 LITERATUR

1 Einleitung

Einleitend ist zu sagen, dass der Titel „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“ sicher sehr vielen Theologen und Religionspädagogen als eine Provokation höchsten Grades erschienen sein muss. Diese Provokation ist - so denke ich - die Absicht der Autoren, denn gerade vor den 90ern haben sich wohl nicht viele mit solch kritischen Stimmen auseinandergesetzt. Ich sehe das Buch daher als eine zu beherzigende Kritik, ohne natürlich diverse Verkürzungen und Begriffsungenauigkeiten übersehen zu wollen. Weiters glaube ich, dass Erwin Ringel und Alfred Kirchmayr durch langjährige Psychotherapie - Erfahrung einige Fälle, die diese Symptome aufwiesen, zu behandeln hatten und daher durchaus auf empirische Ergebnisse zurückgreifen können, auf die sie ihre Thesen gründen. Andererseits ist wohl zu sagen, dass das Buch ein sehr negatives Bild zum Thema religiöse Erziehung vermittelt.

Das Buch „Religionsgewinn durch religiöse Erziehung“ halte ich als eine sehr gute Antwort von religionspädagogischer und moraltheologischer Seite, eine Möglichkeit Begriffsverkürzungen auf den Grund zu gehen und ein positiveres Bild zu malen.

In dieser Arbeit werde ich versuchen die Thesen beider Bücher sehr kurz gegenüberzustellen und verbindende Kommentare abzugeben, die auf meiner eigenen Meinung beruhen.

Der Fokus meiner Arbeit wird vor allem im Bereich „Christentum und menschliche Entfaltung: Wie können wir Christen zu einer guten menschlichen Entfaltung unserer Nachwuchsgenerationen beitragen?“ liegen, weil ich denke, dass dieser Bereich, der für die Entwicklungspsychologie interessanteste ist. Am Ende der Arbeit werde ich auch noch den Bereich „Tiefenpsychologie und Religionsunterricht: Wie können tiefenpsychologische Erkenntnisse ReligionslehrerInnen helfen den Unterricht zu gestalten“ in aspekthafter kurzer Weise behandeln, um die Auswirkungen der tiefenpsychologischen Erkenntnisse auf den Religionsunterricht kurz zu skizzieren.

Die anderen von Ringel und Kirchmayr bzw. Virt und Biesinger behandelten Aspekte werden im nächsten Kapitel kurz zusammengefasst, da sie teilweise Voraussetzungen zum Verständnis des Fokus beinhalten.

2 Zusammenfassung der nicht fokussierten Aspekte und Hinführung zu diesen

2.1 Krise und Krankheit der Kirche

2.1.1 Ringel und Kirchmayr

In ihren ersten Kapiteln stellen Ringel und Kirchmayr die Krise der katholischen Kirche dar. Diese kann ihrer Meinung nach ihre Möglichkeiten, zum Heil der Menschen zu wirken, immer weniger nützen. Die Menschen wenden sich von ihr ab. Menschen treten en masse aus der Kirche aus und Jugendliche sind kaum mehr dazu zu bewegen, sich für Glaube und Religion zu interessieren. In einem zweiten Schritt muss man dann die Schuldfrage stellen und dabei wird es immer schwieriger die Schuld nur den Amtsinhabern der Kirche zuzuschieben. Die Verantwortung liegt der Meinung der Autoren nach bei allen Mitgliedern der Gemeinschaft (vgl. Ringel, Kirchmayr S. 8).

Im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen beschreiten die beiden Psychotherapeuten den Weg einer psychotherapeutischen Wahrheitsfindung und stellen zuerst eine Diagnose. Diese lautet, dass die Kirche krank sei, weil sie verkürzt dargestellt aus neurotischen Mitgliedern besteht. Um das darzulegen wird ausgeholt und das Wesen einer Neurose an sich erklärt. Eine Neurose, in einer sehr kurzen aber hoffentlich treffenden Definition, ist ein Konflikt zwischen bewussten und unbewussten Tendenzen, was bedeutet, dass der Mensch von unbewussten, meist verdrängten ganz besonders schwierigen Sachverhalten und Erlebnissen beeinflusst wird. Diese krankmachenden Tendenzen finden meist in den ersten sechs Lebensjahren statt. Diese Schwierigkeiten lösen Aggressionen aus und durch fehlende Liebe werden diese verstärkt. Wenn man nun Aggressionen verdrängt kann es zu Angst, Minderwertigkeitsgefühlen, Schuldgefühlen, Selbstbestrafungstendenzen, etc. kommen.

Nachdem nun den Mitgliedern der Kirche teilweise Neurosen diagnostiziert werden, versuchen Ringel und Kirchmayr als weiteren Schritt zu beschreiben, wie es zu dieser Neurotisierung durch die Kirche kommt, und kommen kurz zusammengefasst zu folgendem Ergebnis: Beginnend bei der Konstantinischen Wende (das Christentum wurde Staatsreligion) entfernte sich die Kirche Schritt für Schritt von Jesus Christus. Das resultierte in Machtmissbrauch, Reichtum (kein Engagement für Unterprivilegierte mehr), Verfolgung anders Denkender, Richtsprüchen über Sünder, Hochmut, Gewalt, Leib- und Lustfeindlichkeit, rationalistischer Theologie anstatt emotionalem Glauben, etc. Und diese problematischen Auswirkungen waren noch nicht genug sondern man fing an all das zu verdrängen und abzuleugnen. Man kann und will nicht zugeben sich durch Jahrhunderte hindurch geirrt zu haben und verdrängt Fehler, die man gemacht hat. Wenn man genauer hinsieht, sind genau das wesentliche Symptome einer Neurose. Nach Ringel und Kirchmayr ist somit die Kirche als Institution an sich neurotisiert und überträgt dies auf ihre Mitglieder.

Ein interessanter Aspekt der ersten Kapitel ist der Versuch eine Therapie anzusetzen, und die Autoren machen sich dafür stark, das II. Vatikanum als einen Therapieansatz zu sehen. Eine Kirche, die sich mit sich selbst konfrontiert ist eine Kirche, die sich von der Neurose befreien kann. Nur leider orten sie heute eine Tendenz vom Konzil weg wieder zurück in die andere Richtung.

2.1.2 Virt und Biesinger

In ihrem Buch antworten Biesinger und Virtin chronologischer Abfolge zu den einzelnen Kapiteln aus der Sicht der Religionspädagogik und der Moraltheologie. Zum ersten Kapitel schreibt Günter Virt aus Sicht der Moraltheologie.

Als ersten Kritikpunkt stellt Virt die Frage, an wen sich Ringels und Kirchmayrs Kritik richtet. Wird die Religion kritisiert (schließlich wird von Religionsverlust gesprochen), wird die Kirche kritisiert oder der Glaube? Man kann auch nicht christliche Offenbarung mit dem Glauben gleichsetzen. Nun ist anzunehmen, dass Adressat der Kritik die Kirche ist und die Frage zu stellen, wer denn mit Kirche gemeint sei. Manchmal wird der Begriff Amtskirche genannt, anderenfalls wird aber der Begriff Kirche auf die gesamte Christenheit ausgedehnt.

Der zweite Kritikpunkt hinterfragt die Kompetenz der Kritiker. Zuallererst kritisiert er die Definition der Neurose. Wenn Ringel und Kirchmayr von Neurose sprechen meinen sie, wie oben angeführt, einen Konflikt zwischen bewussten und unbewussten Tendenzen. Virt meint nun, dass eine Neurose genauso durch einen Konflikt zwischen bewussten Tendenzen entstehen kann. Außerdem werden die beschriebenen Symptome vielen Mitgliedern der Kirche diagnostiziert und dann sofort die Ursachen dafür in der Kirche gesucht, obwohl diese äußerst vielfältiger Natur sein können.

2.1.3 Kommentar

Es ist natürlich zu sehen, dass in einer wissenschaftlichen Abhandlung verschiedene Perspektiven und Ziele gesetzt werden. Das führt dazu, dass gewisse Dinge verkürzt dargestellt werden. Ich denke, es ist gut, dass Ringel und Kirchmayr Probleme aufzeigen und versuchen diese tiefenpsychologisch zu erklären. Unprofessionell ist allerdings, dass sie durch ihre Art zu schreiben den Eindruck eines Absolutheitsanspruchs erwecken. Das natürlich hat viele Theologen und Religionspädagogen vor den Kopf gestoßen. In der Kirchengeschichte gab es ohne Frage sehr viele Dinge, die in eine falsche Richtung gingen, und viele Urteile, die die Kirche fällt(e) sind nicht unbedingt vertretbar und können vielleicht Grund für Neurosen sein, weil sie, wenn sie falsch vermittelt werden Schuldgefühle entstehen lassen, Konflikte entstehen lassen, die dann verdrängt werden, aber ich denke es ist falsch im Hinblick auf dieses Thema derart verkürzt zu verallgemeinern.

3 Entfaltung des Menschen

3.1 Einleitung

Ringel und Kirchmayr versuchen nun Bezug darauf zu nehmen, wie sich das Verhalten der Kirche auf die Entfaltung des Menschen auswirkt. Der Einfachheit halber sind die Thesen von Ringel und Kirchmayr mit den Thesen von Biesinger, der dieses Kapitel beantwortet, und mein persönlicher Kommentar nun immer im selben Kapitel gegenübergestellt.

3.2 Startbedingungen des Daseins

In unserem christlichen Umfeld ist laut Ringel und Kirchmayr der Satz im Umlauf

„Jeder steht dort wo er es verdient“. Diesen Satz möchten die beiden aufs härteste bekritteln. Wir können Erfolg und Misserfolg nicht als Beurteilungskriterium für menschliches Leben nehmen. Dies wird von Biesinger in Frage gestellt. Dieser Satz ist so scheint es ihm eher ein „dummer spießbürgerlicher Ausspruch“. Auch ich denke, dass dieser Satz eher in umgangssprachlichen Redewendungen seinen Ausdruck findet, jedoch nicht vom Christentum proklamiert wird. Um Beispiel zu geben, wie wenig Menschen ihre Lebensbedingungen beeinflussen können, führen Ringel und Kirchmayr das Dilemma der ungeborenen Kinder an, die nicht über ihr Dasein entscheiden können. In diesem Zusammenhang heben sie dann die hervorragenden Leistungen der Kirche zum Schutz von Leben hervor und behaupten im gleichen Atemzug, dass dieser Schutz weniger forciert werde, wenn das Kind geboren ist. Biesinger ist zwar sehr positiv angetan, davon, dass man die Leistungen der Kirche als Anwalt des ungeborenen Lebens hervorhebt, muss aber den zweiten Satzteil vehement kritisieren, da es sehr viele kirchliche Organisationen gibt, die zum Wohl von lebenden Menschen agieren (zB: Hilfe bei Sucht, bei Behinderung, bei Arbeitslosigkeit, bei Orientierungslosigkeit, etc.) Dies alles scheinen Ringel und Kirchmayr auch meiner Meinung nach etwas verkürzt darzustellen. Es mag zutreffen, dass man vereinzelt Menschen vernachlässigt, aber man kann nun mal nicht die Bedürfnisse aller Menschen abdecken. Zur Ungeborenendebatte finde ich es genauso wichtig, dass man die Leistungen der Kirche hervorhebt, man darf aber gewisse problematische Zusammenhänge nicht ausklammern. Da wäre zum Beispiel das Problem mit den Beratungsstätten in Deutschland. Die von der Bischofskonferenz eröffneten Beratungsstellen, die schwangeren Frauen die Entscheidung für das Kind leichter machen sollten, wurden vom Vatikan einfach geschlossen. Man darf nicht die Augen verschließen vor der Tatsache, dass heute vielfältige Lebensumstände Menschen vor die Entscheidung stellen können, ein Kind entweder bekommen zu wollen oder nicht, und wenn es diese Verhältnisse gibt und man trotzdem das Leben schützen will, muss man Beratungsstellen schaffen, die Frauen die Möglichkeiten, die sie nach einer Geburt haben, darzustellen und ihnen die Entscheidung für ein Kind zu erleichtern. Weiters kann es auch nicht der richtige Weg sein, Frauen, die eine Abtreibung anstreben, zu denunzieren und sie vielleicht sogar mit Gewalt dazu zwingen von einer Abtreibung abzusehen, wie es zum Beispiel manche militante Abtreibungsgegner in den USA gemacht haben, mit Unterstützung der dortigen christlichen Kirchen.

Ringel und Kirchmayr kritisieren weiter, dass das Christentum dazu erziehe, dass man unglückliche Situationen hinnimmt, weil sie gottgewollt sind. Sie nennen einen solchen Zustand „wunschloses Unglück“. Darauf antwortet Biesinger mit einer Interpretation des Spruches „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, die in etwa folgendes bedeutet: Glaube nicht Gott hilft in jeder Lebenssituation sondern besinne dich darauf, was du selbst leisten kannst um dein Leben zu verbessern, und verwirkliche damit das, was Gott an Heil in der Welt bewirken möchte durch dein Engagement. Ich denke, hier ist ein Schwachpunkt von Biesinger zu sehen. Es ist durchaus zulässig zu sagen, dass man interpretieren könnte, dass Gott unser Schicksal so in der Hand haben, dass wir gar nichts dagegen tun können. Wenn nun ein Mensch sich ständig zurückgesetzt fühlt, und dass durch sprachliche Mängel nicht ausdrücken kann, oder durch von Neurosen ausgelösten Blockaden nicht artikulieren möchte, dann denke ich ist der Schritt in die Selbstbemitleidung sehr nahe, und um dieses Selbstmitleid wiederum zu kompensieren, kann ich mir durchaus vorstellen, dass Menschen ihre Situation als gottgewollt interpretieren. Und Gottes Zusage immer in seiner Liebe für uns da zu sein, kann dann leicht so verstanden werden, dass er seine Liebe in eben dieser Situation zum Ausdruck bringt. Unser Leiden kann dadurch als Zusage Gottes empfunden werden und als gottgewollt interpretiert werden. Es ist sicher nicht immer so negativ zu sehen, aber in manchen Fällen durchaus möglich.

3.3 Elterliche Erziehungsaufgabe

Das nächste Unterkapitel von Ringel und Kirchmayr bezieht sich nun auf die elterliche Erziehungsaufgabe. Persönlichkeitsentfaltung ist sehr stark durch die Eltern beeinflusst. Die Verhaltensweise von Kindern ist in gewisser Weise von der der Eltern abhängig. Ringel und Kirchmayr betonen gleich am Anfang, dass es nicht ihr Ziel ist Eltern anzuklagen, sondern konkrete Hinweise zu geben, wie man es besser machen kann. Was kann man nun als Elternteil konkret falsch machen? Schlimm ist es zum Beispiel, wenn statt eines partnerschaftlichen Verhältnisses (wo beide Teile dem jeweils anderen Würde zugestehen) ein Verhältnis „Oben - unten“, „Groß - klein“ oder „Macht - Ohnmacht“ besteht. So ein Verhältnis scheint immer noch in Familien aufzutreten. Dieses Verhältnis verleitet dazu, dass Eltern ihre Macht missbrauchen und die Kinder den Eltern ausgeliefert sind. Hier versucht Biesinger als Antwort folgendes zu sagen. Die beiden Extreme „ich bin der Boss und du hast zu tun was ich will“ bzw. „wie kann ich dir nur alle Unebenheiten aus dem Weg räumen“ sind beide abzulehnen. Er spricht davon, dass der Grad der Beeinflussung die wahre Kunst sei. Ich muss mich in diesem Fall der letzteren Meinung anschließen. Zu kumpelhaft zu sein wird die Kinder in Orientierungslosigkeit treiben, während zu autoritäre Erziehung sie wohl verängstigen könnte. Ich denke, dass Machtmissbrauch von elterlicher Seite striktest abzulehnen ist! In Sachen Autorität würde ich mich an die katholische Soziallehre anlehnen und das Subsidiaritätsprinzip hochhalten. Was heißt das nun konkret: Ich denke Kinder und junge Menschen sind durchaus in der Lage selbst Erfahrungen zu machen, selbst Grenzen kennen zu lernen und selbst Probleme zu lösen. Solange sie das selbst schaffen ist es Aufgabe der Eltern Wegweiser zu sein und wenn die Probleme über die Fähigkeiten der Kinder hinauswachsen muss man selbst das Lenkrad ergreifen und den Weg der Kinder bewusst steuern.

Übereinstimmend bei beiden Büchern ist die Ablehnung, Kinder zu etwas zu zwingen. Ich kann Lebensweisheiten weitergeben, wie Biesinger formuliert, indem ich dem Kind mit meiner Lebensweise demonstriere, wie man es machen kann, aber wenn ich Kinder beispielsweise zum beten zwinge, werde ich das Gegenteil auslösen und eine Abneigung demgegenüber erwecken.

3.4 Das Selbstwertgefühl pflegen

Wichtig für das Leben eines Menschen ist ein gesundes Selbstwertgefühl. In Bezug auf dieses orten Ringel und Kirchmayr Probleme vor allem in folgenden Aspekten: Es scheint ihnen der Gebrauch der Vorsilbe „selbst“ in unserer Sprache als negativ (denken wir zum Beispiel an selbstherrlich, selbstbewusst (heute schon oft in positiver Bedeutung anzufinden), etc.). Dagegen wird das Wort selbstlos als positiv beurteilt. Es wird ein Brief zitiert in dem ein Priester, dem Menschen die Selbstverwirklichung abspricht, weil der Mensch „den Plan der Schöpfers und nicht sich selbst“1 zu verwirklichen hat. Entscheidend ist aber für Ringel und Kirchmayr, dass das Kind eine positive Beziehung zu sich selbst bekommt, und dabei können ihm die Eltern und die Gesellschaft in der es aufwächst behilflich sein oder aber auch hinderlich. Ein Kind gegenüber anderen immer herabzusetzen ist zum Beispiel sehr hinderlich zur Ausbildung eines positiven Selbst. Wie entsteht nun ein positives Selbstwertgefühl? Liebe ist dafür ein zentraler Wert und das betonen Ringel und Kirchmayr. Die Liebe darf nur nicht krankhaft sein. Ein weiterer wichtiger Punkt ist Lob. Und da scheint den Autoren in katholischen Kreisen noch zu weit die Meinung verbreitet, man solle Kinder nicht loben, da man damit hochmütige und nicht demütige Menschen erziehe. Die Autoren bestehen aber darauf das ein gesunder Stolz nichts mit Hochmut zu tun hat. Biesinger beschreibt dagegen, warum gerade bei einem Menschen mit einem gesunden christlichen Glauben das Selbstbewusstsein besonders hoch sein müsse. Die radikale Liebeszusage Gottes, wie er es nennt, sollte uns in dieser Weise zuversichtlich und fröhlich machen, dass wir auch glücklich und selbstbewusst sind. Worauf er allerdings nicht eingeht ist der Vorwurf, dass in katholischen Kreisen es weit verbreitet sei, Kinder nicht zu loben. Ich denke hier reden die Autoren aneinander vorbei. Die radikale Liebeszusage Gottes ist ohne Frage eine äußerst wichtige Sache und sollte uns Menschen ermutigen selbstbewusst zu sein, doch das scheint mir nicht unbedingt die wirkliche Debatte zu sein. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob auch wirklich vermittelt wird, dass ein Kind für uns wichtig ist. Es mag wahrscheinlich nicht am christlichen Glauben liegen, aber ich denke die Beobachtung ist richtig, dass in unseren christlich - abendländischen Kulturen es weiter verbreitet ist, mit Kindern zu schimpfen und ihnen Schuldgefühle einzuimpfen, sie aber, wenn sie etwas Gutes getan haben, nicht wirklich zu loben. Wie weit das mit Religion oder Kirche zusammenhängt sei dahin gestellt.

3.5 Selbsterkenntnis - Gemeinschaftsfähigkeit

Weiterführend meinen nun Ringel und Kirchmayr, dass wir uns zu einem Du und zu einem Wir hin entwickeln müssen. Diese Entwicklung kann nur stattfinden wenn wir uns selbst erkennen. Ansonsten entwickelt sich dieses Wir - Gefühl in einer krankhaften Art und Weise. Das bedeutet, dass man den anderen braucht, um gewisse Probleme abzudecken. Als Beispiel dafür führen Ringel und Kirchmayr eine Frau an, die ihr Kind nur braucht um Beziehungsprobleme zu ihrem Mann zu überdecken. Damit wird das Kind nur zur Überkompensation des eigenen Unglücklichseins benützt. Das Kind wird zum Ersatz für den Ehepartner. Eine wirklich gute Wir-Beziehung entsteht dann, wenn folgende Aspekte berücksichtigt werden: Bereitschaft und Fähigkeit zur Kommunikation, zum Dialog und zum fairen Austragen von Konflikten. In Bezug auf die Religion verweisen die Autoren auf die Worte „O Herr ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach“. Wichtig scheint ihnen dabei zu sein, dass dieser Satz als ehrliche Selbsteinsicht und nicht als masochistische Selbstentwertung verstanden wird. Hier scheinen sich die Autoren in gewisser Weise einig zu sein. Dass unbearbeitete Beziehungsprobleme ein Problem sein müssen, streicht auch Biesinger hervor, und zuviel Selbstlosigkeit scheint auch ihm verdächtig. Das „O Herr ich bin nicht würdig“ - Gebet will auch von ihm als Selbstkonfrontation verstanden werden. Die einzige Kritik - der auch ich mich anschließe - ist, dass er von Psychotherapeuten konkrete Lösungs- und Therapievorschläge zu diesen Problemen erwarten würde und diese sind in diesem Abschnitt leider nicht vorhanden.

3.6 Erziehung zur Solidarität

Im nächsten Abschnitt gehen Ringel und Kirchmayr auf die Solidarität ein. In dieser zeigt sich nämlich ganz stark die Wir - Haftigkeit. Solidarität bedeutet mit den Schwachen zu sein und ihnen zu helfen. Das Problem ist, dass in unserem Kulturkreis sehr oft Minderheit zu Minderwertigem erklärt werden und damit zu Ausgestoßenen (seien es Ausländer, alte Menschen, Behinderte, etc.). Hier betonen die Autoren, dass gerade das Christentum in dieser Hinsicht einen großen Beitrag leisten soll und muss, da ja die christliche Nächstenliebe praktizierte Solidarität ist. Hier sehen sie aber zwischen Theorie und Praxis eine große Diskrepanz. Natürlich gibt es, wie Biesinger schreibt, in der Geschichte der Kirche sehr viele Beispiele, wo Kirche in Bezug auf Solidarität versagt hat, aber genauso sind Tendenzen sichtbar die in die andere Richtung gehen (Beispiel: Priesterweihe: Vater unser in deutsch und slowenisch). Ich denke Kirche leistet in gewisser Weise sehr viel für Solidarität, man braucht sich nur die Einrichtungen der Caritas ansehen, die allzeit bereit sind Menschen, egal welcher Herkunft zu helfen. Andererseits gibt es auch hier wieder eine Einschränkung, denn Menschen, die Hilfe brauchen, müssen diese bei einer Pfarre beantragen. Ein Mensch der nicht katholisch ist fühlt sich dadurch natürlich etwas gehemmt. Caritas - Mitarbeiter haben mir erzählt, dass sie diese Art und Weise des Vorgehens schon seit längerem ohne Erfolg bekritteln. Ein weiteres Beispiel von Versagen der Solidarität fällt mir aus der jüngeren Geschichte ein. Als in Graz das große Kalachakra - Ritual gefeiert wurde, wurde es vom dortigen Diözesanbischof empfohlen, dieses Ritual nicht zu besuchen. Ich frage mich, wie wir Solidarität gegenüber anderen Kulturen lernen sollen, wenn wir diese nicht kennen lernen dürfen, und deren Rituale von einem Bischof abgewertet werden. Ich denke, Kirche tut sehr vieles für Solidarität, könnte aber durchaus noch mehr tun, und sich in Vorsicht gegenüber Andersgläubigen, oder Andersdenkenden üben.

3.7 Dialektisch denken

Mit dialektisch denken meinen Ringel und Kirchmayer, dass wir die Buntheit unserer Gesellschaft zulassen lernen und in dieser Buntheit denken lernen. Bekrittelt wird vor allem, dass ein Schwarz - Weiß - Denken in der katholischen Kirche immer noch sehr stark betont wird. Sehr leicht werden in der Erziehung komplexe Sachverhalte auf ein gut - schlecht Schema reduziert. Biesinger weiß dagegen zu berichten, dass in den Lehrplänen als auch in den neuen Schulbüchern kaum mehr das Schwarzweißschema zu finden ist, was ich bestätigen kann und begrüße, und auch in der Moralerziehung wird versucht, nur durch Analyse human- und sozialwissenschaftlicher Ergebnisse ethische Normierungen zu begründen. Ich denke es ist richtig, dass dialektisches Denken ein wichtiger Beitrag zur Entfaltung in einer so heterogenen Welt, wie wir sie heute haben, ist. Man muss auch zustimmen, dass in Schulen wirklich kein Schwarzweißschema mehr gelehrt wird. Andererseits muss ich auch mit Bedenken feststellen, dass gewisse Jugendgruppen, die im katholischen Bereich angesiedelt sind, eine sehr konservative Weltanschauung besitzen und sehr leicht Sachverhalte auf ein Sünde - nicht - Sünde - Schema verkürzen. Ich denke diese Entwicklung ist bedenklich und die katholische Kirche müsste ihr entgegensteuern, wenn sie das dialektische Denken hochhalten würde.

3.8 Kreativ leiden lernen

Da dem Menschen das Leiden nicht erspart bleibt, scheint es Ringel und Kirchmayr wichtig, dass wir Menschen lernen kreativ mit unserem Leiden umzugehen. Das Wort Krise hat in unserem Sprachgebrauch leider einen allein negativen Aspekt. Schaut man dieses Wort im chinesischen an besteht es aus zwei zusammengesetzten Wörtern von denen das erste Gefahr und das zweite Chance bedeutet. Das Durchmachen von Krisen und Leiden scheint sich uns manchmal als eine Chance für unsere Entwicklung herauszustellen. Damit scheint es, dass Leid sehr sinnvoll und sehr wichtig für unser Leben sein kann. Voraussetzung dafür ist, dass wir uns diesem Leid stellen. Weiters müssen wir unterstützt werden und dürfen in dem Leid nicht allein gelassen werden. Nun darf man nach Ringel und Kirchmayr aber diesen Aufruf zum kreativen Leiden nicht als Leidensverherrlichung an sich sehen, und genau da sehen sie wieder eine Schwäche der christlichen Religion. Oft wurde der Satz „Im Kreuz ist Heil“ grundlegend missverstanden und verabsolutiert. Das hat bedeutet, dass wirklich Leidenskulte entstanden sind und sich Menschen gegenseitig oder selbst Leid zugefügt haben, um Christus gleich zu sein. Als erste Pflicht des Christen sehen Ringel und Kirchmayr das Leid wo es möglich ist zu vermeiden und da sehen sie eine Schwäche der Kirche in der Geschichte. Vermeidbares Elend wurde als unvermeidbar gesehen und die Leidenden auf das Jenseits vertröstet. Biesinger sieht genauso den Satz „Im Kreuz ist Heil“ als gefährlich, da es möglich ist ihn in masochistischer Weise zu deuten. Dieser Satz soll einfach den Hoffnungsgehalt ausdrücken, dass Jesus Christus mit jedem von uns durch das Kreuz immer schon mitgestorben ist. Man darf sich als Religionspädagoge nicht in der Kreuzesmystik verlieren, sondern muss den Schülern in konkreter Weise vom Kreuz und seiner Bedeutung für uns Christen erzählen. Mir fällt hier besonders auf, dass auf den Vorwurf von Ringel und Kirchmayr, dass vermeidbares Elend als unvermeidbar angesehen wurde und die Leidenden auf das Jenseits vertröstet wurden von Biesinger nicht eingegangen wird. Ich persönlich finde den Ansatz von Ringel und Kirchmayr sehr gut. Den Ausflug in die chinesische Sprache halte ich für sehr befruchtend und als eine Möglichkeit wie asiatische Philosophie unser abendländisches Denke beeinflussen könnte. Der richtige Umgang mit Leid und das positive Denken im Leid wird in unserem Kulturkreis, denke ich viel zu wenig geschult.

3.9 Zusammenfassung

Ich möchte das Kapitel 3 an dieser Stelle abschließen. Ich denke ich hab die wichtigsten Aspekte zur menschlichen Entfaltung und ihre Vorkommen in den beiden Büchern ausreichend dargestellt und kommentiert. Was können wir nun für Schlüsse aus dieser Darstellung ziehen. Die Autoren verfolgen, denk ich, alle ein Ziel. Es geht darum Missstände die die Gesellschaft produziert und die unser Leben beeinflussen aufzudecken. Bei Ringel und Kirchmayr werden sehr viele Probleme in Zusammenhang mit der Kirche und der Katechese gebracht und andere gesellschaftliche Bereiche sehr stark ausgeklammert. Ich denke festzuhalten ist, dass die Kirche in sehr vielen Bereichen unglaubliche Einflüsse hatte und sich sehr viele Missstände aus geschichtlichen Verirrungen der Kirche ergeben haben. Festzuhalten ist aber außerdem, dass unsere abendländische Kultur Missstände entwickelt hat, die ganz im Gegensatz zu dem stehen, wofür das Christentum steht, und sich das Christentum in dieser Hinsicht oft nicht durchsetzen konnte. Festzuhalten ist aber leider auch, dass unsere Kirche sich eben diese Missstände, die nicht aus ihr selbst heraus entstanden sind, zu nutze gemacht hat und sie für ihre Zwecke missbraucht hat. Festzuhalten ist letztendlich aber, dass das II. Vatikanum sehr viele dieser Missstände versucht hat zu beseitigen und sofern wir uns nicht wieder gegen das Konzil bewegen die Kirche auf dem richtigen Weg ist.

[...]


1 Vgl: Ringel, Kirchmayr: S. 49

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Tiefenpsychologie und religiöse Erziehung?
Untertitel
Eine kommentierte Gegenüberstellung der Bücher von Ringel und Kirchmayr bzw. Virt und Biesinger zum Thema Religionsverlust bzw. –gewinn durch religiöse Erziehung
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz  (Institut für Religionspädagogik)
Veranstaltung
Entwicklungspsychologie
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
17
Katalognummer
V22470
ISBN (eBook)
9783638257848
ISBN (Buch)
9783638842327
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit versteht sich als eine kommentierte Gegenüberstellung der Bücher von Ringel und Kirchmayr bzw. Virt und Biesinger zum Thema Religionsverlust bzw. -gewinn durch religiöse Erziehung.
Schlagworte
Tiefenpsychologie, Erziehung, Entwicklungspsychologie
Arbeit zitieren
Leonhard Stampler (Autor:in), 2003, Tiefenpsychologie und religiöse Erziehung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22470

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