Intertextualität in Ernst-Wilhelm Händlers Roman "Wenn wir sterben"


Seminar Paper, 2003

23 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.1. Die Prophezeiung der Hexen in Shakespeares Macbeth bzw. Angel und Drifter können zaubern
2.2. Stines Skrupellosigkeit erinnert an Shakespeares Richard III.

3. Die Aussagekraft der verschiedenen Perspektiven und des Schriftbilds
3.1. Ethel wäre gern “größer“
3.2. Egin, der ungeliebte Handlanger
3.3. Stine hat zwei Seelen und trotzdem keine Skrupel
3.4. Milla darf geduzt werden
3.5. Wer sind „wir“?

4. Die Fabrik als der eigentliche Akteur-Maschinen werden vermenschlicht und Menschen werden zu Maschinen

5.Der Makler im Rainald Goetz und Michel Houellebecq-Ton

6. Millas Einsamkeit- eine Anlehnung an Houellebecq

1.Einleitung

Der Roman „Wenn wir sterben“ von Ernst-Wilhelm Händler handelt von der Gier nach Macht, Geld und Sex. Drei Frauen, Charlotte, Stine und Bär, Freundinnen, alle Mitte vierzig, leiten die Firma Voigtländer, die Charlotte übernommen hat. Doch bald wird aus dieser Freundschaft ein Kampf um Macht und Geld, da die Prophezeiung von Angel und Drifter, zweier Freizeitstripper, die hauptberuflich in der Werbebranche tätig sind, Stine dazu verlocken, Charlotte aus ihrer Chefposition zu verdrängen. Die beiden haben eine Vision, in der sie Stine an Charlottes Stelle sehen und ihr zusprechen für dieses Ziel zu kämpfen. Stine beschließt mit Hilfe von Egin, ihrem Freund und Handlanger, Charlotte eine Falle zu stellen und sie ruinieren. Egins Aufgabe ist es, das Vertrauen von Charlottes Tochter Ethel zu erschleichen, um schließlich deren Mutter für ein Projekt, das zum Scheitern verurteilt ist, zu gewinnen. Nachdem Stine Charlotte ruiniert hat, kündigt sie Bär und lässt sich auf ein Joint Venture mit D`Wolf ein. Sie hofft ihre Konkurrentin Milla ausbooten zu können, was ihr letztendlich zum Verhängnis wird, da sie Milla nicht gewachsen ist und diese ihre Intrigen durchschaut und zum Gegenschlag ausholt. Voigtländer wird von dem Großunternehmen D`Wolf “verschluckt“.

„ Händlers Romane könnte man Hybride nennen, die zahlreiche Formen, Perspektiven und Stillagen integrieren“[1]. Ziel dieser Arbeit ist es aufzuzeigen, wie und in welcher Form es Ernst-Wilhelm Händler in seinem Roman „Wenn wir sterben“ gelungen ist, Textvorlagen und Stile anderer Autoren für seinen Roman zu nutzen und somit ein perspektivenreiches, mannigfaltiges Werk zu kreieren. „Die Firmen fressen einander, die Menschen usurpieren Posten und Seelenheil ihrer besten Freunde und Lebenspartner, und auch der Autor selbst schreckt vor Enteignung, Aneignung und Anverwandlung nicht zurück. Händler bricht in seinem Text das monolithische Stilmonopol des Autors auf. Er ordnet jeder Romanfigur eine eigenständige Erzählperspektive zu und lotet mit ihren spezifischen Wahrnehmungswerkzeugen die unterschiedlichsten Tonlagen der deutschen Gegenwartsliteratur aus. Er zeigt die Literatur in den Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit. So entsteht ein polyphones Textgewebe, in dem die Stile miteinander in Konkurrenz treten wie die Romanfiguren auf dem freien Markt.“[2] Zudem soll gezeigt werden wie die verschiedenen Erzählperspektiven, sowie das Schriftbild, die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Romanfiguren bereits in der äußeren Form verdeutlichen.

2.1. Die Prophezeiung der Hexen in Shakespeares Macbeth bzw. Angel und Drifter können zaubern

Shakespeares Drama „Macbeth“ zieht sich wie ein roter Faden durch Händlers Roman. Es bildet die Rahmenhandlung von „Wenn wir sterben“. Das Drama beginnt mit der Begegnung zwischen Macbeth, seinem Freund Banquo und drei Hexen, die Macbeth prophezeien, dass er zuerst Thane of Cawdor und anschließend König von Schottland werden werde und dass sein Freund Banquo zwar nie selbst König werden werde, jedoch dessen Nachkommen. Macbeth zweifelt zunächst an der Weissagung der Hexen, doch als er tatsächlich vom schottischen König Duncan zum Thane of Cawdor ernannt wird, lassen seine Zweifel nach und er schreibt einen Brief an seine Frau, in dem er ihr von der Prophezeiung berichtet. Als Lady Macbeth davon erfährt, drängt sie ihren Mann dazu, König Duncan zu töten, um an seine Stelle zu treten. Nachdem Macbeth Duncan ermordet hat, wird er von der Angst geplagt, dass Banquos Nachkommen den Thron besteigen könnten und um dies zu verhindern, beschließt er, auch seinen Freund zu töten. Macbeth heuert eine Gruppe von Mördern an, denen es zwar gelingt Banquo zu ermorden, aber nicht dessen Sohn Fleance. Dieser kann den Mördern entfliehen. In der Zwischenzeit begegnet Macbeth dem Geist Banquos, was er als beängstigend empfindet. Lady Macbeth beginnt zu schlafwandeln, wird von Halluzinationen geplagt und begeht letztendlich Selbstmord. Macbeth wird von Macduff, einem schottischen Adeligen, getötet und Duncans Sohn Malcom besteigt den Thron.

Im ersten Teil von Händlers Roman, wird bereits in der Überschrift ein Zusammenhang zwischen Angel und Drifter und den drei Hexen hergestellt, indem sie lautet „Angel und Drifer können zaubern“[3]. Die Kunst, zaubern zu können, die Hexen und Magiern zugeschrieben wird, wird hier mit zwei Freizeitstrippern verknüpft. Weiter heißt es dann „Drifter hat eine Vision: Stine wird was( You gotta fight for your right to party)“[4]...“Angel zu Stine: Stell dir vor, du wirst Sprecherin. Drifter zu Stine: Später wird dir die Firma gehören. Angel zu Bär: Dir wird nie eine Firma gehören. Aber deine Tochter wird-“[5] In diesem Abschnitt werden die Parallelen zwischen der Prophezeiung der Hexen an Macbeth und Banquo und die Voraussagung von Angel und Drifter an Stine und Bär deutlich. Anstelle Bärs, wird Stine von Charlotte zur Vorstandssprecherin berufen, was an die Ernennung Macbeths zum Thane of Cawdor durch König Duncan erinnert. Wie Macbeth beschließt auch Stine, Charlotte, der sie ihre Position zu verdanken hat, zu stürzen. Sie stellt sich vor, wie Charlotte und Bär bei einem Unfall ums Leben kommen. „Stine sieht schon vor sich, wie vertraute Körperteile die Abhänge sprenkeln, geknickte Torsi...“[6]. Angel und Drifter haben Stines Absichten wie Schüttgut vor die Füße geleert. Ja, ja, auf einmal sind diese Strebungen Stines tiefstes, begründetstes Wollen.“[7] Die Weissagung der beiden erweckt in Stine den immer tiefer werdenden Wunsch, die Firma Voigtländer zu leiten. Sie plant daraufhin den ökonomischen Tod von Charlotte und Bär. Wie König Duncan von Macbeth physisch getötet und in einem Sarg beerdigt wird, werden auch Charlotte und Ethel von Stine ermordet. Sie sterben den ökonomischen Tod; da sie finanziell ruiniert sind und somit für die Welt der Wirtschaft bedeutungslos geworden sind. Physisch bleiben sie am Leben, dies spielt in diesem Roman und in der, in ihm dargestellten Welt, jedoch keine Rolle, deshalb „kann sich Stine großzügig zeigen und die beiden in ein Auto setzen, das nicht auf eine Wand zubraust, sondern eine Pappelallee entlangschleicht.“[8] Der physische Tod eines Menschen ist nicht mehr von Relevanz. „Charlotte und Ethel finden ein Heim in der Sargfabrik. Sie wohnen in der Sargfabrik, Ethel und ihre Mutter. Die Wohnanlage heißt wirklich so.“[9]

Stine hat Visionen und begegnet dem Geist Bärs. „Die Sushi-Höhle hat nicht die andere Hälfte Stines, sondern den Geist Bärs springen lassen. Ein Haufen Volk am Tisch, und auf Stines Platz sitzt Bär, Stine sagt das auch noch. Der Stuhl ist leer, strömt es aus dem Personal heraus, schließlich hat es den Abfindungsvertrag aufgesetzt.“[10] Bär erhält von Stine eine Abfindung und wird aus der Firma entlassen. Sie verschwindet genauso wie Banquo aus dem Leben Macbeth verschwindet und somit keine Bedrohung mehr für ihn darstellt. Nachdem Stine Bär verdrängt hat, kann auch diese ihren Platz nicht mehr gefährden.

Egin, Stines Partner, wird nach seinem Versagen nicht mehr gebraucht. Ihm ist es nicht gelungen, Milla in dieselbe Falle zu locken wie Charlotte und Ethel. Gleich einer Lady Macbeth denkt er über Suizid nach und wird verrückt. „Egin will mit Tabletten aus dem Leben scheiden. Egin schießt mit einem Vorderlader auf sich selbst...Egin stülpt einen Schlauch über den Auspuff und leitet die Gase in sein Auto. Egin magert von achtundsiebzig auf einundfünfzig Kilo ab, er wird psychiatriert, die Fachleute finden keine Erklärung für seinen Zustand.“[11]

Am Ende wird Stine wie Macbeth im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste geschickt. Sie arbeitet für die Firma Alcor als Miss Alcor. Diese Firma, bewahrt Menschen tiefgekühlt für die Ewigkeit in der Wüste auf.

2.2. Stines Skrupellosigkeit erinnert an Shakespeares Richard III

Neben Shakespeares Drama „Macbeth“ bedient sich Händler als Textvorlage noch eines weiteren Dramas aus der Feder Shakespeares. Es handelt sich hierbei um „Richard III.“.

„Mit der Skrupellosigkeit eines Richard III. befördert sich Stine an die Unternehmensspitze, und mit ebensolcher Perfidie wird sie schließlich selbst in den Abgrund gerissen.“[12]

Richard III. neidet seinem älteren Bruder Eduard IV. den Thron. Er beschließt König zu werden und ist bereit dafür jeden Preis zu zahlen. Richard III. schreckt nicht davor zurück seinen Bruder Clarence töten zu lassen, um dadurch dem nahenden Tod des bereits schwerkranken Königs Eduard IV. unter die Arme zu greifen. Nachdem ihm dies gelungen ist, setzt er seine Machenschaften fort und lässt jeden töten, der sein “Anrecht“ auf den Thron gefährden könnte. Er hat keine Skrupel, seine Ehefrau Anne ermorden zu lassen, um sich mit Königin Elisabeths Tochter, die seine Nichte ist, zu vermählen und sich somit den Thron zu sichern. Königin Elisabeth erkennt jedoch seine Intention und beschließt Elisabeth mit Richmond, einem Grafen, zu trauen. Bevor Richard III. getötet wird, quälen ihn Alpträume, in denen er den Geistern, der in seinem Auftrag Ermordeten, begegnet. Nach Richards Tod wird Richmond zum König Heinrich VII. gekrönt.

Stines Vorgehensweise gleicht den grausamen Machenschaften von

Richard III. Jedes Mittel ist ihr recht, um die Spitzenposition in der Firma zu übernehmen. Sie lässt ihre Freundinnen mit Hilfe ihres Liebhabers Egin aus dem Weg schaffen und entsorgt diesen, nachdem er ihr nicht mehr dienlich ist. Sie weiß „[h]eute kann man jeden killen, wenn man ihm die richtige Immobilie anhängt“[13] Die Firma geht pleite, man findet eine Stelle als Hilfsbuchhalter. In einer anderen Stadt natürlich. So stirbt man zeitgemäß.“[14]

Richard III. wird in seinen Träumen von Geistern heimgesucht und auch Stine macht diese Erfahrung in ähnlicher Form. Ihr Vorhaben scheitert in derselben Weise wie die Pläne Richards III., da ihre Machenschaften durchschaut werden.

3.Die Aussagekraft der verschiedenen Perspektiven und des Schriftbilds

„In “Wenn wir sterben“ offenbart sich das Prinzip in den zehn Erzählperspektiven. Ein Erzähler versetzt sich abwechselnd in die vier Managerinnen hinein, ferner in Charlotte und Bärs Töchter Ethel und Fleur sowie in Stines Mitintriganten Egin; dazu kommen ein Immobilienmakler und Bärs früherer Ehemann, die Einzigen, die sich selbst durchschauen, und deshalb die einzigen Ich-Erzähler…“[15], „doch vor jedem einzelnen [stirbt] bei Händler das “wir“, die gemeinsame Weltsicht, zerrissen in der Vielzahl der Perspektiven.“[16]

Die verschiedenen Erzählperspektiven, sowie das Schriftbild verkörpern die Psyche und das Bewusstsein der Erzählfiguren, sie stellen dar, inwieweit sich die Protagonisten ihrer Rolle bewusst sind, inwieweit sie durchschaut haben, was um sie herum geschieht bzw. was mit ihnen geschieht und welche Figuren lediglich „Funktionen der ökonomischen Logik“[17] sind. Durch die verschiedenen Schriftbilder und Perspektiven sind die Figuren hierarchisch gegliedert, d.h. anhand des Schriftbilds und der Erzählperspektiven lässt sich bereits erkennen, ob die Protagonisten Zugang zu ihrer Psyche haben und ob sie in der Lage sind, die Welt um sie herum zu begreifen.

3.1. Ethel wäre gern“ größer“

Ethel, die Tochter Charlottes, wird ohne Satzzeichen und in Kleinbuchstaben „beschrieben“. Schon ihr Name klingt merkwürdig und fremd. Man kann an ihn keine Assoziationen knüpfen. Er klingt nicht menschlich. Ethel dient als Werkzeug für Stines und Egins Intrige, ist sich dessen aber nicht bewusst. Sie wird als ein naives, junges Mädchen beschrieben, das zwar weiß, dass es sich bei der Begegnung mit dem Makler, um eine Inszenierung handelt,

[...]


[1] http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Haendler.html

[2] http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/wennwirsterben-r.htm

[3] Ernst-Wilhelm Händler: „Wenn wir sterben“ .Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002. S.13

[4] ebenda, S.22

[5] ebenda, S.24

[6] ebenda, S.36

[7] ebenda, S. 37

[8] Ernst-Wilhelm Händler: „Wenn wir sterben“ .Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002 S. 91

[9] ebenda, S.439

[10] ebenda, S. 233

[11] ebenda, S.425

[12] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.2002, Nr.233/ S.L13

[13] Ernst-Wilhelm Händler: „Wenn wir sterben“ .Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002. S. 305

[14] Ernst-Wilhelm Händler: „Wenn wir sterben“ .Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002. S.61

[15] http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2003/0113/feuilleto...

[16] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.2002, Nr.233/ S.L13

[17] ebenda

Excerpt out of 23 pages

Details

Title
Intertextualität in Ernst-Wilhelm Händlers Roman "Wenn wir sterben"
College
University of Mannheim  (Lehrstuhl neuere Germanistik)
Course
Ökonomie in der Gegenwartsliteratur
Grade
2,0
Author
Year
2003
Pages
23
Catalog Number
V22522
ISBN (eBook)
9783638258258
ISBN (Book)
9783640858705
File size
573 KB
Language
German
Keywords
Intertextualität, Ernst-Wilhelm, Händlers, Roman, Wenn, Gegenwartsliteratur
Quote paper
Nicole Schirmann (Author), 2003, Intertextualität in Ernst-Wilhelm Händlers Roman "Wenn wir sterben", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22522

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