Gesellschaftliche Konfliktpotentiale. Pierre Bourdieu: Theoretische Grundlagen und deren Bedeutung für die Konfliktforschung


Dossier / Travail, 2013

19 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

A Pierre Bourdieu: Ein Konflikttheoretiker?

I. Klärung der Grundbegriffe
I. 1 Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital
I. 2 Habitus
I. 3 Sozialer Raum
I. 4 Soziale Felder
I. 5 Symbolische Gewalt

II. Konflikttheoretischer Gehalt der Bourdieu‘schen Theorien
II. 1 Beispiel für eine abgeleitete, heuristische Methodik
II. 2 Beispiel für eine auf Bourdieu rekurrierende Konfliktanalyse

B Fazit, Anschlussstellen und Kritik

C Anhang

D Literaturverzeichnis

A Pierre Bourdieu: Ein Konflikttheoretiker?

Pierre Bourdieu gilt auch nach seinem Tod im Jahr 2002 als einer der einflussreichsten französischen Soziologen des 20. Jahrhunderts. Grundlegend für seine Theorien sind einerseits die Erweiterung des Kapitalbegriffs von Marx um nicht-ökonomische Kapitalsorten und andererseits der Versuch, Objektivismus und Subjektivismus (bzw. Mikro- und Makroebene) u.a. durch die gleichzeitige Erhebung quantitativer und qualitativer Studien zu einer sog. ‚praxeologischen‘ Erkenntnismethode zusammen zu führen (vgl. bspw. Schmitt 2006: 20). Gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse sollen so unter Berücksichtigung der Erfahrungen von Individuen plausibel veranschaulicht werden. Mit anderen Worten: Bourdieus Ansatz dient zu einer Analyse der Sozialstruktur von Gesellschaften. Logischerweise gibt es innerhalb des ‚sozialen Raums‘ und innerhalb so wie zwischen den einzelnen ‚sozialen Feldern‘ auf Ungleichheiten beruhende Spannungen, die Konfliktpotential bergen.

Interessant ist daran, dass Bourdieu selbst im Laufe seiner Forschung den Begriff ‚Konflikt‘ kaum aufgegriffen hat und dieser Änicht zum Kern [seines] begrifflichen Instrumentariums [gehört]“ (Fröhlich / Rehbein 2009: 131). So lässt er sich, zumindest auf den ersten Blick, nicht grundsätzlich als ‚Konflikttheoretiker‘ einordnen.

Diese Arbeit soll einige der Grundbegriffe Bourdieus erläutern und daraufhin einen Ausblick darauf geben, inwieweit seine Ansätze auch für eine Konfliktforschung von Relevanz sein können. Dazu ist insbesondere die Betrachtung der unterschiedlichen Kapitalsorten, des ‚Habitus‘, des sozialen Raums, der sozialen Felder und der symbolischen Gewalt zweckmäßig.1

I. Klärung der Grundbegriffe

I. 1 Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital

Bourdieu fordert dazu auf, den wirtschaftswissenschaftlichen Kapitalbegriff zu hinterfragen, da dieser Äimplizit alle anderen Formen sozialen Austausches zu nicht-ökonomischen, uneigennützigen Beziehungen [erkläre]“ (Bourdieu 1983: 184). Seiner Ansicht nach haben auch Äscheinbar unverkäufliche Dinge ihren Preis“ (Bourdieu 1983: 185). Eines seiner zentralen Werke, ‚Die feinen Unterschiede‘, indem er u.a. das Bildungssystem Frankreichs in den 60er- und 70er-Jahren (‚Bildungsexpansion‘; ‚Inflation der Bildungsabschlüsse‘) untersucht, zeigt deutlich, dass ein rein wirtschaftswissenschaftlicher Kapitalbegriff nicht ausreicht, um die zu Grunde liegenden sozialen Strukturen zu erklären (Bourdieu 1987). Für Bourdieu ist Kapital akkumulierte Arbeit, entweder in materieller ‚objektivierter‘ Form oder in verinnerlichter ‚inkorporierter Form‘. Jegliche Akkumulation von Kapital braucht außerdem Zeit; das gilt für alle drei Formen des Bourdieuschen Kapitalbegriffs: kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital (Bourdieu 1983: 183ff).

Kulturelles Kapital tritt wiederum in drei Formen auf:

1. Inkorporiertes Kulturkapital bezeichnet Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten (Bildung), welche durch individuelle Arbeit erworben werden (Fuchs-Heinritz / König 2011: 164f). Es ist an den Körper einer Person als ‚Habitus‘ (s.u.) gebunden und kann somit nicht ‚sichtbar‘ übertragen werden. Allerdings ist der Einfluss des sozialen Umfelds (der Herkunft) nicht von der Hand zu weisen: je nach Erziehung in der Familie oder dem Aufwachsen in einem bestimmten Milieu steht dem Individuum möglicherweise mehr Zeit zur Verfügung inkorporiertes Kulturkapital anzusammeln oder kann diesen Prozess auch durch das Vorhandensein von mehr ökonomischem Kapital beschleunigen (z.B. durch bezahlte Nachhilfe; Bezahlung von Musikunterricht, etc.). Bourdieu bezeichnet es als die Äzweifellos […] am besten verschleierte Form erblicher hbertragung von Kapital“ (Bourdieu 1983: 188).
2. Das objektivierte Kulturkapital ist in hohem Maße durch das inkorporierte Kulturkapital bestimmt: Es ist zwar materiell übertragbar (bspw. als Musikinstrumente, Bücher- oder Gemäldesammlung), allerdings ist dies nur im juristischen Sinne des Eigentums möglich. Die speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse, um objektiviertes Kulturkapital im vorhergesehenen Sinne zu nutzen (also inkorporiertes Kulturkapital), muss der Eigentümer sich entweder selbst aneignen oder Leute, die mit diesem Kapital ausgestattet sind beauftragen, für ihn Nutzen aus dem objektivierten Kapital zu ziehen. Letzteres gilt beispielsweise für die Bedienung spezieller Maschinen in einer Fabrik. Objektiviertes Kulturkapital kann also durch ökonomisches Kapital materiell erworben werden, die ‚symbolische Aneignung‘ setzt allerdings inkorporiertes Kulturkapital voraus (Bourdieu 1983: 189).
3. Das institutionalisierte Kulturkapital dient dazu inkorporiertes Kapital zu ‚objektivieren‘. Durch die Vergabe von Titeln wird kulturelles Kapital Äschulisch sanktioniert und rechtlich garantiert“ (Bourdieu 1983: 190). Es gilt dadurch (formell) unabhängig und losgelöst von der Person des Titelträgers. Dem kulturellen Kapital wird in dieser Form Äinstitutionelle Anerkennung verliehen“ (Bourdieu 1983: 190). Es schafft Vergleichbarkeit und lässt sich (bspw. auf dem Arbeitsmarkt) abhängig von seinem Seltenheitswert in ökonomisches Kapital transferieren. Es hat auch deshalb eine hohe Wirksamkeit, da es bspw. als schulischer oder akademischer Titel als Beispiel für ‚symbolisches Kapital‘ dienen kann: Durch den inhärenten Anspruch von Legitimität erfährt man durch seinen Besitz automatisch auch gesellschaftliche Anerkennung; zumindest in einem bestimmten Feld (vgl. Schwingel 2003: 91).

Das soziale Kapital besteht aus mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungsnetzwerken. Dazu können Familienmitglieder, Klassenkameraden, Freunde, etc. ebenso gehören wie Gruppen, Parteien, Vereine oder Klubs. Grundvoraussetzung um das Gesamtkapital einer Gruppe nutzen zu können, ist demgemäß gegenseitiges Kennen und Anerkennen. Der Umfang des sozialen Kapital hängt somit einerseits von der Quantität und Qualität der sozialen Beziehungen ab, als auch andererseits vom Umfang des Gesamtkapitals, das den anderen Mitgliedern einer Gruppe zur Verfügung steht. Es kann (muss aber nicht) institutionalisiert sein und schafft Chancen, im Fall der Fälle Unterstützung zu erhalten oder im sozialen Raum aufgrund der Legitimität der Mitgliedschaft eine bestimmte Position im sozialen Raum zu besetzen. Es bestehen also mögliche materielle und symbolische Profite für das Mitglied einer bestimmten Gruppe. Dafür sind allerdings Beziehungsarbeit und Institutionalisierungsriten (und somit auch Zeit und der Einsatz von ökonomischem Kapital) von Nöten (Bourdieu 1983: 191ff).

In allen Gruppen gibt es außerdem Formen der Delegation. Eine Person wird bevollmächtigt, die gesamte Gruppe zu vertreten; er Ä[…] ist [also] die Mensch gewordene Gruppe“ (Bourdieu 1992b: 154). Damit liegt auch das gesamte soziale Kapital der Gruppe in einer Hand. Diese Zweckentfremdung lässt sich eigentlich logisch erklären; denn Äje größer die Gruppe [ist] und je machtloser ihre Mitglieder [sind], desto mehr werden Delegation und Repräsentation zur Voraussetzung für die Konzentration von Sozialkapital [...]“ (Bourdieu 1983: 195). Für das Individuum lässt sich dadurch Raum und Zeit überwinden und ökonomisches Kapital sparen. Jedoch besteht hier eine Konfliktgefahr: Der Delegierte könnte sich zu seinem eigenen Nutzen gegen die Gruppe wenden (Bourdieu 1983: 194f).

Um das ökonomische Kapital zu definieren, sei es hier ausreichend, es als Äunmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und […] sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts [eignend]“ (Bourdieu 1983: 185), zu beschreiben.

Allen drei Kapitalsorten ist gemein, dass sie sich ineinander transformieren lassen. Ökonomisches Kapital liegt dabei allen anderen Kapitalarten zugrunde, aber letztere lassen sich nicht nur auf ökonomisches Kapital reduzieren (Fröhlich / Rehbein 2009: 138f). So lassen sich außerdem bestimmte Güter und Dienstleistungen ohne Verzögerung und sekundäre Kosten erwerben; allerdings gibt es auch solche, die nur aufgrund eines sozialen Beziehungs- oder Verpflichtungskapitals erworben werden können. Bourdieu wendet sich dementsprechend gegen ‚Ökonomismus‘ und ‚Semiologismus‘. Der Ökonomismus ignoriere die spezifische Wirksamkeit der anderen Kapitalsorten und der Semiologismus die Tatsache der universellen Reduzierbarkeit auf Ökonomie durch die vorgeschlagene Reduktion sozialer Austauschbeziehungen auf Kommunikationsphänomene (Bourdieu 1983: 196). Umkämpft sind dabei v.a. die Wechselkurse der Kapitalarten, die sich je nach Kontext unterscheiden können (Fröhlich / Rehbein 2009: 139). Außerdem vollzieht sich bspw. die Übertragung von kulturellem Kapital Äin größerer Heimlichkeit, aber auch mit höherem Risiko als die des ökonomischen Kapitals“ (Bourdieu 1983: 198). Es besteht zudem ein gewisses Schwundrisiko, was insbesondere beim Beispiel der Bildung sichtbar wird: Volle Wirksamkeit entfaltet kulturelles Kapital nämlich erst in der Bestätigung des Bildungssystems; also durch legitime Titel (Bourdieu 1983: 198).

I. 2 Habitus

Nach Bourdieus Verständnis kann man den Habitus über ÄWahrnehmungs- und Bewertungsschemata [definieren], die Praktiken […] generieren und organisieren können. Sie werden inkorporiert […] und sind jene selbstverständlichen Voraussetzungen, die Konformität und Konstanz des Handelns bewirken […]“ (Stölting 2001: 62).

Unterschiedliche Existenzbedingungen erzeugen unterschiedliche Formen des Habitus; die sich als ÄAusdruck der Unterschiede [erweisen] […]“ (Bourdieu 1987: 278), die aus den differierenden Erfahrungen von besonderen Lagen im sozialen Raum hervorgebracht werden (vgl. Bourdieu 1987: 278f). Bourdieu betont die Gesellschaftlichkeit des Habitus: Er spiegelt nicht nur Ungleichheitsbeziehungen (z.B. durch differierendes Kapitalvolumen) wieder, sondern bringt diese zum Ausdruck und erhält ihre Wirksamkeit durch Reproduktion der Existenzbedingungen, auf die er selbst zurückgeht (Fuchs-Heinritz / König 2011: 114). Der Habitus wohnt dem Körper inne: er ist einverleibt, inkorporiert und umfasst ÄTendenzen, so zu handeln, wie man es gelernt hat“ (Fröhlich / Rehbein 2009: 111). Er konstituiert außerdem bestimmte kulturelle Praktiken (sog. ‚Lebensstile‘), die von der jeweiligen Position der Akteure im sozialen Raum abhängig sind (Bourdieu 1987: 278f). Hier wird Bourdieus ‚praxeologische‘ Erkenntnismethode wieder sehr deutlich vor Augen geführt: Der Habitus stellt Äein weiteres Instrumentarium dar, das auf theoretischer Ebene zwischen Objektivismus und Subjektivismus vermitteln und deren komplementäre Einseitigkeiten vermeiden soll“ (Schwingel 2003: 59).

Der Habitusbegriff ist bei Bourdieu außerdem zwingend für die Konstruktion des sozialen Raumes, der Klassen und der Felder von Nöten, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

I. 3 Sozialer Raum

Bourdieus Sozialraum-Modell wurde vor allem entwickelt, um die Äbis dahin in der Soziologie meist übliche, eher eindimensionale Vorstellung von gesellschaftlicher Hierarchie als schlichtes ‚oben‘ und ‚unten‘“ (Fröhlich / Rehbein 2009: 219f) durch ein mehrdimensionales und wesentlich differenzierteres Modell abzulösen. In seinem Werk ‚Die feinen Unterschiede‘ wurde dieses Modell auf Grundlage von empirischen Untersuchungen der französischen Gesellschaft der 60er- und 70er Jahre am komplexesten dargestellt (vgl. Abb. 2; Anhang).

Grundsätzlich ist zunächst eine Zweiteilung in zwei zueinander homologe Räume auszumachen: Der Raum der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile. Ersterer bildet materielle Existenzbedingungen ab und zwar auf Grundlage von sowohl ökonomischen als auch kulturellen und sozialen Ressourcen. Das Kapitalvolumen wird dabei auf der y-Achse abgebildet. Umso höher also der Umfang an ökonomischen, kulturellem und sozialem Kapital ist, über die eine Klasse2 gemäß erhobener Statistik verfügt, umso weiter oben befindet diese sich auf der y-Achse (Fröhlich / Rehbein 2009: 220; Schwingel 2003: 107). Auf der x-Achse wird unterschieden, wie groß der relative Anteil an ökonomischem bzw.

[...]


1 Gender: In dieser Arbeit ist die weibliche Form aus Gründen der einfacheren Handhabbarkeit und dem Lesefluss der männlichen gleichgestellt und somit selbstverständlich immer mit eingeschlossen.

2 Auf den Begriff der Klasse wird in Kap. II. genauer eingegangen; für die Darstellungen dieses Kapitels wird eine präzise Definition noch nicht für notwendig erachtet.

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
Gesellschaftliche Konfliktpotentiale. Pierre Bourdieu: Theoretische Grundlagen und deren Bedeutung für die Konfliktforschung
Université
University of Augsburg
Note
1,3
Auteur
Année
2013
Pages
19
N° de catalogue
V229881
ISBN (ebook)
9783656454861
ISBN (Livre)
9783656456223
Taille d'un fichier
1120 KB
Langue
allemand
Mots clés
Bourdieu, Strukturanalyse, Konflikt, Konfliktforschung, Friedens- und Konfliktforschung, Galtung, Pierre Bourdieu, Gesellschaft, Kapital, Habitus, Sozialer Raum, Soziale Felder, Gewalt, Symbolische Gewalt, Konfliktanalyse
Citation du texte
Sebastian Kuschel (Auteur), 2013, Gesellschaftliche Konfliktpotentiale. Pierre Bourdieu: Theoretische Grundlagen und deren Bedeutung für die Konfliktforschung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229881

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