Revolution per Facebook. Das Social Network als Instrument des Netzaktivismus


Fachbuch, 2013

184 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Electronic Disturbance, Electronic Resistance und Netzaktivismus: Theorie und Praxis von Katharina Bergmaier
Einleitung
Definition des Netzaktivismus
Elektronischer ziviler Widerstand/Hackaktivismus
The Critical Art Ensemble (CAE)
The Electronic Disturbance Theater (EDT)
Beispiele für virtuelle Sit-Ins und FloodNet-Aktionen
Netzaktivismus: Freie Information, freier Zugang zu freier Information
Aktuelle Entwicklungen und Einschätzungen
Literaturverzeichnis

Facebook als Medium des Protests von Martin Sopko
Einleitung
„One Million Voices Against FARC“ ‒ Macht sozialer Netzwerke im Internet
Ziel der vorliegenden Arbeit
Netzwerke
Facebook ‒ Daten und Fakten
Macht
Fazit der bisherigen Theorien im Hinblick auf „One Million Voices Against FARC“
Erkenntnisse für die Soziale Arbeit und Ausblick
Literaturverzeichnis

Facebook und die soziale Kohäsion von Carina Wegmann
Einleitung
Leben im Zeitalter des Internets
Soziale Netzwerke
Facebook
Virtuelle Realität vs. Real Life
Soziale Kohäsion
Möglichkeiten und Grenzen von Facebook für den sozialen Zusammenhalt
Ausblick
Literaturverzeichnis

Electronic Disturbance, Electronic Resistance und Netzaktivismus: Theorie und Praxis von Katharina Bergmaier

2010

Einleitung

Mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Internets wurden auch große und neue Möglichkeiten der Gegeninformation und des Protests geboren ‒ der Netzaktivismus. Was ist Netzaktivismus und was beinhaltet dieser Begriff?

Netzaktivismus trennt sich in mehrere Bereiche, es werden jedoch von verschiedenen Autoren unterschiedliche Teilbereiche des Netzaktivismus definiert:

Definition des Netzaktivismus

Koch trennt Netzaktivismus in drei Bereiche:
1) herkömmlichen, unspektakulären Aktivismus durch Versenden von Informationen, Demoaufrufe, Petitionen etc.
2) Hackaktivismus/elektronischer ziviler Widerstand (setzt sich aus den Wörtern Hacking und Aktivismus zusammen): Seiten/Daten werden beim Hackaktivismus/elektronischen zivilen Widerstand blockiert (z. B. durch virtuelle Sit-ins) oder verändert (z. B. wird Jörg Haider ein Hitlerbärtchen aufgemalt), jedoch in Abgrenzung vom Cyberterrorismus wird bei Methoden des Hackaktivismus/elektronischen zivilen Widerstand nichts (keine Daten) zerstört.
3) Cyber-Terrorismus stellt schließlich jene Variante des Netzaktivismus dar, dessen Ziel darin besteht, möglichst viel Schaden auf einer Homepage/einem Server anzurichten. (Vgl. Koch, Holger (2008): Politik im Internet. Aktivismus, Hackaktivismus, Cyber-Terrorismus. In: URL: http://internettechnik-netzwerktechnik-suite101.de/article.cfm/politik_im_internet dl: 21.6.2010)

Inke Arns definiert hingegen zwei Stränge des Netzaktivismus:
1) Den blockierenden Ansatz des Hackaktivismus/elektronischen zivilen Widerstands und
2) den ermöglichenden Ansatz, welcher auf Vernetzung und die Schaffung von Kommunikationsbeziehungen abzielt. (Vgl. Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html
dl: 21.06.2010 )[1].

Der Begriff Hackaktivismus/elektronischer ziviler Widerstand umfasst Onlineproteste, welche eine Störung hervorrufen, wie z. B. virtuelle Sit-ins (Vgl. Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html
dl: 21.06.2010).

Da Hackaktivismus/elektronischer ziviler Widerstand meistens darauf abzielt, den ausgemachten Gegner zu stören und dessen Kommunikationsfähigkeit zu unterbrechen indem z. B. dessen Homepage durch Überflutung lahmgelegt wird, steht laut Arns diese Protestform „in eklatanten Widerspruch zum „Hacker-Primat“ des „möglichst optimalen, ungehinderten Datenflusses“. (siehe Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html dl:21.06.2010).

Aus diesem Grund werden Hackaktivisten wie das Electronic Disturbance Theater auch von Hackern kritisiert. Ein weiterer Kritikpunkt von Seiten der Hacker an den Hackaktivisten ist, dass durch deren verwendete Methoden des virtuellen Sit-ins nicht nur die intendierten, feindlichen Server lahmgelegt werden, „sondern auch die Router, also die Computer, die zwischen Angreifer und Angriffsobjekt liegen.“ (siehe Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html
dl: 21.06.2010)

Elektronischer ziviler Widerstand/Hackaktivismus

In diesem Text werden wir uns hauptsächlich mit Hackaktivismus/elektronischem zivilen Widerstand beschäftigen.

Hackaktivismus/elektronischer ziviler Widerstand setzt sich aus den Wörtern Hacking und Aktivismus zusammen.

Hackaktivismus/elektronischer ziviler Widerstand ist als elektronisches/virtuelles Pendant zum physischen zivilen, friedlichen Widerstand definiert. Diese Widerstandsform verwendet als häufigste Methode virtuelle Sit-ins, die wie eine reale physische Blockade für die Seite wirken. Es werden also Seiten/Daten beim elektronischen zivilen Widerstand/Hackaktivismus blockiert oder verändert, jedoch in Abgrenzung vom Cyberterrorismus werden im Rahmen von Maßnahmen des elektronischen Widerstandes/Hackaktivismus Daten oder Systeme nicht zerstört.

Die Gewaltfreiheit ist beim elektronischen zivilen Widerstand analog zum traditionellen passiven zivilen Widerstand ein zentrales Merkmal.

Der erste globale virtuelle Sit-in fand 1998 statt, als Solidaritätsaktion für die Ermordung zahlreicher Indigener in Chiapas. Die zu dieser Aktion mobilisierende italienische Aktivistengruppe The Anonymous Digital Coalition rief auf, mexikanische Homepages von Finanzinstitutionen zu besuchen und alle paar Sekunden den Reload-Button (Aktualisierungsbefehl) zu betätigen und dadurch eine Überforderung der Seite hervorzurufen und sie somit lahmzulegen, zu blockieren, sodass die Seite nicht mehr erreichbar ist.

Heute sind in der Öffentlichkeit „angekündigte und zeitlich begrenzte virtuelle Sit-ins die meistverwendete Methode des politischen Aktivismus im Internet.“ (Vgl. Koch, Holger (2008): Politik im Internet. Aktivismus, Hackaktivismus, Cyber-Terrorismus. In: URL: http://internettechnik-netzwerktechnik-suite101.de/article.cfm/politik_im_internet dl: 21.6.2010).

Gleichzeitig entwickeln Staaten und Firmen Gegenprogramme zu diesen FloodNet-Programmen.

Mehrere Aktivisten und Aktivistengruppen griffen nun dieses Konzept auf und entwickelten es weiter.

Aktivistenkollektive wie CAE (Critical Art Ensemble) und EDT (Electronic Disturbance Theater) haben einerseits die Theorie des elektronischen Widerstandes, andererseits aber auch Methoden zu dessen Umsetzung entwickelt. (Vgl. Spörr, Bettina: Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace.

Vom zivilen Ungehorsam zum elektronischen Widerstand.

In: http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2008/nichtallestun/spoerr.htm dl: 21.06.2010).

The Critical Art Ensemble (CAE)

Diese Gruppe hat maßgeblich zur Entwicklung der Theorie des elektronischen zivilen Widerstands beigetragen. Der Begriff Electronic Disturbance stammt von ihr. Schlüsselwerk ist die vom Kollektiv 1994 publizierte Theoriearbeit „Der elektronische Widerstand“, in welcher CAE postuliert, dass elektronischer ziviler Widerstand die gleichen Merkmale und Attribute beinhalten muss wie nicht-digitaler ziviler Widerstand. Anstatt also einen Gebäudeeingang durch eine Demonstration zu blockieren oder ein Büro zu besetzen, müssen diese Dinge virtuell geschehen. Straßenproteste erhielten in den 90ern immer weniger die Aufmerksamkeit der Medien, so wurde im elektronischen Widerstand auch eine Möglichkeit gesehen, aus dieser zunehmenden Isolation der Protestbewegung herauszukommen und dieser entgegenzuwirken.

Darüber hinaus bezieht sich das CAE in seiner Theorie auf Hakim Bays Konzept der temporären und nomadischen autonomen Zonen:

Das CAE nimmt an, dass Macht im digitalen Zeitalter nicht mehr lokalisierbar und ortsgebunden, sondern überall und nirgends ist. Der Sitz der Unternehmens liegt im Cyberspace, dorthin hat sich die Machtelite zurückgezogen und deshalb muss der Widerstand dorthin verlegt werden, so das CAE. So hat die Straße keine Bedeutung mehr für den Protest, denn Großkonzerne können laut dem CAE durch körperlichen Widerstand und körperliche Blockaden nicht mehr behindert und gestört werden, sondern es muss nun beim elektronischen Widerstand darum gehen „nicht wie bisher Arbeitskraft sondern Informationen zu unterbinden“. (Vgl. Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html dl: 21.06.2010).

Der nomadische Informationsfluss, der die neue Macht darstellt, muss gehemmt werden, mit demselben Mittel: einer nomadischen Blockade. “To fight a decentralilized power you have to use decentralized means.[2] (Vgl. Critical Art Ensemble (1996): Electronic Civil Disobedience and other Unpopular Ideas, New York; S. 23)

Das CAE ging ursprünglich davon aus, dass digitale Protestformen die realen Straßenprotestformen total ersetzen würden und die althergebrachte Methode des physischen Protestes im digitalen Zeitalter sinnlos, nicht mehr effektiv und anachronistisch sei. „What CD [ Civil Disobedience] was, ECD [ Electronic Civil Disobedience] is now.“[3] (Vgl. Critical Art Ensemble (1996): Electronic Civil Disobedience and other Unpopular Ideas, New York; S. 18)

Mittlerweile sehen auch führende Netzaktivisten (so auch das CAE und das EDT) elektronischen Widerstand nicht mehr als die einzige legitime Form an; die Euphorie der Anfangszeit bezüglich der Wirksamkeit des elektronischen Widerstandes ist verflogen. Die dominierende Sichtweise besteht jetzt darin, dass elektronischer Widerstand lediglich eine Widerstandsform unter mehreren darstellt, und dass eine gleichzeitige Ausführung von elektronischen und traditionellen realen Protestformen, (also z. B. Onlinedemos/virtuelle Sit-ins, bei gleichzeitigem realem Straßenprotest) die angemessene und sinnvolle Protestform darstellt.

The Electronic Disturbance Theater (EDT)

Das EDT stellt eine Künstlergruppe und ein Aktivistenkollektiv dar, dass generell Methoden für Demokratie im Netz und die Theorie und Praxis von elektronischem zivilen Widerstand weiterentwickeln will. Gegründet wurde das EDT 1998 von Stalbaum/Wray/Karascis/Dominguez. (Vgl. Stefan Krempl: Netzaktivismus: Das Netz schlägt zurück. In: http://archives.openflows.org/hacktivism/hacktivism00945.html dl: 21.06.2010). Dominguez ist gleichzeitig und ebenfalls Mitglied beim CAE (Critical Art Ensemble).

Die Methoden des digitalen Widerstands sollen die physischen Protestformen ergänzen; somit wird das Internet vom EDT nicht nur als Kommunikations- und Informationsmedium verstanden, sondern ebenso als Medium des Protestes und der direkten Aktion. Das EDT entwickelte das FloodNet-Programm, die erste Version dieser Software stellt der Zapatista-FloodNet dar.

Die Hauptfunktion des vom EDT entwickelten FloodNet-Programms besteht darin, die virtuellen Sit-ins mittels einer vom Programm selbst automatisch durchgeführten permanenten Wiederbetätigung des Reload-Befehls wesentlich in ihrer Effektivität zu steigern, da es ohne diese, durch das Programm betriebene, automatisierte Anfragefunktion ja eine unvorstellbar große Menge virtueller Teilnehmer bedarf, um eine Seite zu überlasten. FloodNet potenziert also die Kraft der virtuellen Sit-ins, Server zu überlasten, indem diese mit Anfragen überflutet werden. FloodNet wird jedoch von vielen Netzaktivisten als kurzsichtige Strategie kritisiert.

Das EDT setzt viele Aktionen, welche unter dem Begriff „Digital Zapatismo“ subsumiert werden. Digital Zapatismo meint die Zapatista-Bewegung unterstützende Aktionen, sei es nun durch virtuelle Sit-in-Blockaden von z. B. Regierungsseiten oder durch Gewährung einer Kommunikationsplattform für die Zapatistas via basis- bzw. gegenmedialer Strukturen im Internet.

Beispiele für virtuelle Sit-Ins und FloodNet-Aktionen

Der erste virtuelle Sit-in (ohne FloodNet, da dies damals noch nicht entwickelt war) fand 1995 auf Seiten der französischen Regierung als Protestreaktion auf die von Frankreich durchgeführten Atomtests statt. (Vgl. Spörr, Bettina: Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace. Vom zivilen Ungehorsam zum elektronischen Widerstand. In: http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2008/nichtallestun/spoerr.htm dl: 21.06.2010).

Die ersten digitalen Demos/virtuellen Sit-ins mit FloodNet waren ein voller Erfolg: Die vom EDT verwendete FloodNet-Software schaffte es durch die gleichzeitige Beteiligung von 8.000 Menschen, die Homepage des damaligen mexikanischen Präsidenten lahmzulegen. (Vgl. Spörr, Bettina: Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace. Vom zivilen Ungehorsam zum elekronischen Widerstand. In: http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2008/nichtallestun/spoerr.htm dl: 21.6.2010)

Jedoch einen Monat später, bei einem von EDT initiierten FloodNet-Angriff auf die Homepage des Weißen Hauses, konnte der Server nicht erfolgreich überflutet und überlastet und dadurch blockiert werden, da diese Homepage eine enorme Anfragemenge verkraften und verarbeiten konnte.

Als dann wiederum einen Monat später (die Aktion wurde wieder vom EDT ins Leben gerufen) die Seite einer mexikanischen Regierungseinrichtung mit FloodNet angegriffen wurde, hatte die Regierungsseite ein Gegenprogramm zu FloodNet installiert, welches den Zusammenbruch der angreifenden Flood-Net-Browser hervorrief. (Vgl. Spörr, Bettina: Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace. Vom zivilen Ungehorsam zum elekronischen Widerstand. In: http://www.igbildenekunst.at/bildpunkt/2008/nichtallestun/spoerr/htm dl: 21.6.2010)

Als Protest auf das aufgrund der Klage der Internetspielzeugfirma etoy gegenüber einer Aktivistengruppe durchgeführte Deaktivieren der Homepage dieser verklagten Aktivistengruppe, entwickelte sich eine virtuelle Solidaritäts- und Protestbewegung mit dem Ziel, das Unternehmen etoy zu zerstören. (vgl. Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html dl: 21.06.2010 )

Bei den hierfür durchgeführten Sit-ins wurde eine neue vom Kollektiv EDT entwickelte FloodNet-Version verwendet, welche die Internetwarenkörbe der Onlinespielzeugfirma etoy unablässig füllte; was den etoy-Server überlastete. Auch wenn diese Sit-ins nur kurz dauerten, der Server also nur kurzzeitig lahmgelegt wurde (6mal 15 Minuten an 10 Tagen), hatten die Proteste Erfolg und die Firma etoy zog ihre Klage gegenüber den Aktivisten im Jahr 2000 zurück. Dieser Fall etoy zeigt, dass virtuelle Sit-ins und elektronischer ziviler Widerstand wirksam sein können. Im Falle etoys waren die Protestmaßnahmen vor allem deshalb erfolgreich, da das Unternehmen ausschließlich online präsent war und so unbedingt von der Aufrufbarkeit und Erreichbarkeit im Internet abhängig war. Deshalb versetzte die Überflutung und der damit verbundene Ausfall des Firmenservers dem Unternehmen etoy tatsächlich einen harten Schlag.

Auch die Straßenproteste während des WTO-Gipfels in Seattle wurden virtuell durch einen Sit-in begleitet, „an dem sich 500.000 Menschen beteiligten. 2001 gab es die erste Onlinedemo in Deutschland gegen das Abschiebegeschäft der Lufthansa“ (Vgl. Spörr, Bettina: Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace. Vom zivilen Ungehorsam zum elektronischen Widerstand. In: http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2008/nichtallestun/spoerr.htm dl: 21.06.2010).

Hier klagte Lufthansa gegen die Onlineaktivisten wegen Nötigung; diese wurden in zweiter Instanz freigesprochen.

Netzaktivismus: Freie Information, freier Zugang zu freier Information

Des Weiteren gibt es jene Formen von Netzaktivismus, der nichts mit Hackaktivismus/zivilem elektronischen Widerstand zu tun hat, sondern der unter die Kategorie ermöglichender, also Kommunikationsbeziehungen herstellenden Aktivismus fällt.

Sein Ziel ist es, zur Demokratisierung des Internets beizutragen und dessen ungehinderten Informationsfluss sicherzustellen bzw. diesen freien Informationsfluss auszubauen.

Beispiele für diese Form von Netzaktivismus sind Projekte, wie z. B. das Infrastruktur-Projekt Name.Space aus dem Jahr 2000.

Das Projekt wandte sich gegen die damals betriebene, künstliche Klapphaltung bzw. Verknappung an verfügbaren Domainnamen, was eine Beschneidung des freien Informationsflusses im Internet darstellte und zeigte, dass technisch eine unbegrenzte Anzahl an Domainnamen möglich ist. (Vgl. Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html dl: 21.06.2010 )

Eine weitere Aufgabe des elektronischen zivilen Widerstands war/ist es, die durch das Internet entstandenen Möglichkeiten der Gegeninformation und Gegenspionage optimal zu nutzen und Methoden hierfür zu entwickeln. Diese Projekte der Gegeninformation und Gegenspionage zielen ebenso darauf ab, freie Kommunikationsbeziehungen herzustellen und einen unabhängigen Informationsfluss im Internet aufzubauen.

Es wurden unabhängige, kleine Basis(-medien)netzwerke aufgebaut. Mit diesen kleinen, unabhängigen Medien kann Information von unten betrieben werden: Der Grundsatz ist, dass alle Informationen senden und auf die Seite stellen können, während hingegen dies bei herkömmlichen, hierarchischen Medien nicht möglich ist, da diese hochselektiv bei der Verbreitung von Informationen sind.

In diesem Sinne entstanden die (meist lokalen) freien und unabhängigen Medien (Radio, Fernsehen, Presse), Kultur-, Kommunikations- und Vernetzungsnetzwerke. In Linz existiert als Beispiel für diese Projekte z. B. das freie Radio FRO, dann existiert im deutschsprachigen Raum das unabhängige Basisinformationsnetzwerk Kanal B, wo jedermann Videos veröffentlichen kann und welches sich als Gegenfernsehen versteht.

Indymedia, als weiteres Beispiel, stellt das wohl größte und auch überregional am verbreitetsten, unabhängige (Gegen-)Mediennetzwerk dar, welches frei zugängliche und alternative Informationen (z. B: Berichte über soziale Proteste, Termine politischer Aktionen) bietet und wo wiederum jeder als Journalist akzeptiert wird, d.h. jeder Artikel und Informationen publizieren/hochladen kann.

Youtube, wo jedermann Videos (z. B. mitgefilmte Demoausschnitte) veröffentlichen kann, bzw. Livestreaming stellen ebenso Projekte für den unabhängigen, freien Informationsfluss im Internet dar.

Aktuelle Entwicklungen und Einschätzungen

All diese freien und unabhängigen Informations- und Kommunikationsnetzwerke stellen heute eine wesentliche Informationsquelle und Koordinierungsstelle für politische Aktivisten dar.

Die Bedeutung des Internets für soziale Proteste wurde auch während der Studentenproteste 2009 in Österreich (wo über Facebook Termine für Besetzungen vereinbart wurden), sichtbar. Generell gibt es eine steigende Anzahl an Demonstrationen, die ausschließlich über Facebook mobilisieren (so zum Beispiel Demos gegen das österreichische Asylgesetz). Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung des Internets als Koordinierungsstelle und Informationsquelle für politischen Widerstand stellen die Proteste im Iran dar, wo durch die Zensur des Regimes die einzige Informationsmöglichkeit freie Onlineportale wie Youtube, Twitter etc. darstellen. Deshalb sind diese Seiten auch oft der Zensur ausgesetzt und werden vom Staat gesperrt. Dies passiert natürlich auch in anderen Ländern. So zum Beispiel in Griechenland, wo während der großen Massendemonstrationen 2009/10 der Staat mehrmals indymedia (wo in Minutenabständen wichtige Informationen live aus den Demos hochgestellt wurden) vom Netz genommen hat und ebenso die Handynetze ausgeschaltete, damit sich die Demonstranten nicht mehr via Handy koordinieren konnten. Diese Beispiele zeigen die Wichtigkeit von gleichzeitigen, begleitenden elektronischen Kampfmaßnahmen zu physischen Straßenprotest auf.

Literaturverzeichnis

Critical Art Ensemble (1996): Electronic Civil Disobedience and other Unpopular Ideas, New York.

Arns, Inke: This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet. In: http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/notoywar.html , dl: 21.06.2010.

Dieser Text wurde auch publiziert in: Stefan Münker,/Roesler, Alexander (Hrsg.) (2002): Praxis Internet, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 37-60

Koch, Holger (2008): Politik im Internet. Aktivismus, Hackaktivismus, Cyber-Terrorismus. In: http://internettechnik-netzwerktechnik.suite101.de/article.cfm/politik_im_internet, dl: 21.06.2010

Krempl, Stefan: Netzaktivismus: Das Netz schlägt zurück.

In: http://archives.openflows.org/hacktivism/hacktivism00945.html, dl: 21.06.2010

Spörr, Bettina: Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace. Vom zivilen Ungehorsam zum elekronischen Widerstand.

In: http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2008/nichtallestun/spoerr.htm, dl: 21.06.2010

Facebook als Medium des Protests
von Martin Sopko

2012

Einleitung

Soziale Online-Netzwerke wie Facebook sind häufiges Thema in den Medien. Besonders zum aktuellen Zeitpunkt erregen groß angelegte Facebook-Aktionen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Ob das Nutzen der Seite als öffentliche Plattform zur Mobilmachung gegen Menschenrechtsverletzungen („Kony2012“), oder den Protesten von Tierschützern gegen die anstehende Europameisterschaft 2012 in der Ukraine und Polen – verschiedene Interessengruppen versuchen mithilfe des sozialen Netzwerkes im Internet, gesellschaftliche und politische Veränderungen herbeizuführen.

Ein US-Admiral bemerkte unlängst, dass es „[v]ier große Mächte […] derzeit auf der Welt [gebe]: China, Indien, die USA – und Facebook“ (Wefing, 2012. S. 1). Das soziale Online-Netzwerk ist „zum Zentralnervensystem der globalen Kommunikation geworden“ (ebd.).

In der wissenschaftlichen Fachliteratur wird das Thema Facebook einerseits mit der Fragestellung der Veränderungen von Beziehungen bearbeitet, andererseits liegt ein weiterer Hauptaugenmerk auf dem bewussten und sicheren Umgang von Kindern und Jugendlichen mit sozialen Online-Netzwerken.

Diese Arbeit ist phänomenologisch aufgebaut und beginnt mit dem Beispiel einer Facebook-Gruppe (Kapitel 2), die sich mit dem Ziel gegründet hat, Widerstand gegen die Guerilla-Organisation FARC zu leisten. Diese Gruppe hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einer weltweiten Protestbewegung ausgeweitet.

Im dritten Kapitel wird die zentrale Fragestellung dieser Arbeit erörtert und die These aufgestellt, dass Facebook einen öffentlichen Raum darstellt, in dem Politik stattfindet.

Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit gliedert sich in drei große Themenblö />

„One Million Voices Against FARC“ ‒ Macht sozialer Netzwerke im Internet

„NO MAS SECUESTROS, NO MAS MENTIRAS,
NO MAS MUERTES, NO MAS FARC”
(www.facebook.com/onemillionvoices?sk=info)

„Keine Entführungen mehr, keine Lügen mehr, keine Morde[4] mehr, keine FARC mehr“ – diese Formulierung prangt auf der kolumbianischen Flagge, die als Logo auf der Startseite der Facebook-Gruppe „One Million Voices Against FARC“ abgebildet ist. Oscar Morales, ein Bauingenieur aus der kolumbianischen Stadt Barranquilla, gründete am 04. Januar 2008 diese Gruppe auf Facebook (www.facebook.com/onemillionvoices?sk=info).

Die FARC-EP („Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo“), ist eine Guerilla-Organisation, deren Geschichte bis in die 1950er Jahre reicht (vgl. Zelik, 2000, S. 176). Anfangs war sie „vor allem als Selbstschutzorganisation gedacht, die Gewerkschaftler und Aktivisten der Bauernorganisation für den Fall einer Repressionswelle den Rückzug sichern sollte“ (ebd., S. 58). Mittlerweile hat sich die FARC „radikalisiert [und ist] eine kleine Armee, die auf dem Land […] als Autorität anerkannt ist“ (ebd., S. 180). Aktuell besitzt „die FARC […] etwa 8.000 bis 10.000 Kämpfer, Frauen und vielfach zwangsrekrutierte Kinder eingeschlossen“ (Jost, 2011, S. 4). Aus „einer Bewegung mit durchaus sozialem und politischem Anliegen in den 1960er Jahren“ (Wieland, 2008, S. 4) ist die FARC durch „Drogenhandel, Erpressung und Entführungen“ zu einer terroristischen Organisation verkommen (ebd.). Der Rückhalt in der Bevölkerung ist weitgehend verloren gegangen; „laut Umfragen haben nur ein Prozent der Kolumbianer ein positives Bild der FARC“ (ebd.).

Im Jahr 2008 hielt die FARC „insgesamt 700 Geiseln, darunter die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt, die 2002 […] zusammen mit Clara Rojas gekidnappt wurde“ (Kirkpatrick, 2011, S. 1), fest. Während ihrer Zeit als Geisel bekam Clara Rojas einen Sohn namens Emanuel (ebd.). Dieser verbrachte seine ersten vier Lebensjahre bis zur Gründung der Facebook Gruppe in der Gefangenschaft der FARC.

Kurz vor Weihnachten kündigten die Rebellen überraschend an, einige Geiseln freizulassen. Darunter sollten sich auch Clara Rojas und ihr Sohn Emanuel befinden. Diese Nachricht löste in der Bevölkerung große Begeisterung und Hoffnung aus, „die Leute sehnten sich nach einem Geschenk, einem Wunder“ (ebd., S. 1f.). Die Freilassung ließ jedoch auf sich warten, bis Anfang Januar 2009 der kolumbianische Präsident Alvaro Uribe bekannt gab, dass sich Emanuel scheinbar gar nicht mehr in der Gewalt der FARC befand (ebd., S. 2). Emanuel war einige Zeit vorher, nachdem er schwer erkrankt war, von seiner Mutter getrennt und einem Landarbeiter und seiner Familie übergeben worden und befand sich demnach bereits in staatlicher Obhut (ebd.).

Zu diesem Zeitpunkt war für Oskar Morales der Moment gekommen, an dem er nicht mehr nur zusehen wollte. Die Bevölkerung fühlte sich „von der FARC angegriffen, […] sie waren stinkwütend“ (ebd.) und konnten es nicht fassen, dass die FARC „um das Leben eines Kindes verhandelt, das sie gar nicht hatten“ (ebd.). Morales besaß bereits einen Account auf der damals nur in englischer Sprache existierenden Facebook Homepage.

Die Suche nach dem Begriff „FARC“ ergab zum damaligen Zeitpunkt keine Ergebnisse. So entschloss Morales sich, eine eigene Gruppe zu gründen. Sein Ziel war der Aufbau einer „engagierte[n] Gemeinschaft, die sich für unsere Ziele einsetzt“ (ebd., S. 3). Die Resonanz, die er auf die Gruppe erhielt, konnte er selbst kaum glauben: „We expected the idea to resound with a lot of people but not so much and so quickly“ (Rheingold, 2008, o. S.). Der Gruppe waren innerhalb der ersten sechs Stunden bereits 1.500 Menschen beigetreten (vgl. Kirkpatrick, 2011, S. 3). Nach 24 Stunden hatte die Gruppe schon „3.000 supporters“ (Neumayer & Raffl, 2008, S. 3). Derzeit besitzt die Seite auf Facebook 630.940 Unterstützer (www.facebook.com/onemillionvoices?sk=info, Stand 22.01.12).

Anfangs wurde die Gruppe von Morales nur dazu genutzt, um seine Empörung über die FARC (auf der Pinnwand) zum Ausdruck zu bringen. Zwei Tage nach Gründung rief er zu einer Kundgebung auf (vgl. Kirkpatrick, 2011, S. 4). Zu den Unterstützern der Gruppe zählten von Anfang an nicht nur in Kolumbien lebende Menschen. Es waren viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern Mitglied, die auf den Vorschlag einer Kundgebung in Kolumbien begeistert reagierten und am gleichen Tag Solidaritätsproteste organisierten. Der Tag der Kundgebungen sollte der 04. Februar 2008 werden, genau einen Monat nach Gründung der Gruppe (ebd., S. 4). An diesem Tag nahmen „über vier Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer an Demonstrationen gegen […] FARC“ (Huhle, 2008, S. 2) teil. In rund 165 Städten weltweit fanden am gleichen Tag Protestkundgebungen statt, welche sich solidarisch mit den kolumbianischen Protestierenden zeigten. Verschiedenen Medienberichten zufolge nahmen außerhalb Kolumbiens zwischen 500.000 und 2.000.000 Menschen daran teil (vgl. Neumayer & Raffl, 2008, S. 1).

Aus Angst wagten es bis dahin nur wenige, sich offen gegen die FARC auszusprechen. Sie waren zwar alle wütend, aber auch gleichzeitig eingeschüchtert (Kirkpatrick, 2011, S. 2). Durch Facebook wurde den „jungen Leuten Kolumbiens eine einfache, digitale Möglichkeit [gegeben], im Schutz der Masse ihre Empörung zu äußern“ (ebd., S. 5).

Facebook spielte für die Organisatoren von Anfang an eine sehr wichtige Rolle. Laut dem Gruppengründer Morales war „Facebook […] unser Hauptquartier. Es war unsere Zeitung, unsere Kommandozentrale, unser Labor – einfach alles. Facebook war all das für uns, vom ersten bis zum letzten Tag“ (ebd.).

Ziel der vorliegenden Arbeit

Der oben beschriebene Fall der Facebook-Gruppe „One Million Voices Against FARC“ zeigt, wie schnell und einfach es möglich sein kann, viele Menschen zusammen zu schließen und gemeinsam zu handeln. Das gemeinsame Interesse der Menschen waren die Wut und der Missmut gegenüber dem Auftreten und den Handlungsweisen der FARC sowie die Machtlosigkeit der Regierung gegenüber den Rebellen. Das Ziel des Gruppengründers Morales war die Gründung einer engagierten Gemeinschaft, die sich gemeinsam gegen die FARC einsetzt. Facebook war ihr Medium, mittels dem sie sich organisierten, gemeinsame Aktionen durchführten und Druck auf die FARC und die kolumbianische Regierung ausübten. Facebook ermächtigte die Menschen, sich für ihre Interessen einzusetzen.

In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie die Ereignisse in Kolumbien erklärt werden können und welchen Nutzen die Soziale Arbeit aus den Erkenntnissen ziehen kann?

Im Sinne einer sehr umfassenden Definition bezeichnet Politik „jegliche Art der Einflussnahme und Gestaltung sowie der Durchsetzung von Forderungen und Zielen, sei es im privaten oder öffentlichen Bereichen“ (Frantz & Schubert, 2005, S. 7). Ausgehend von diesem Verständnis von Politik wird folgende These aufgestellt: Wenn Facebook ein Ort ist, der es Usern ermöglicht, sich im öffentlichen Raum zusammenzuschließen, um gemeinsame Gedanken auszutauschen, im Sinne von Arendt gemeinsam zu handeln ‒ dann ist Facebook ein öffentlicher Raum, in dem Politik stattfindet.

Der deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. (DBSH) definiert Soziale Arbeit in Anlehnung an die International Federation of Social Workers (IFSW) folgendermaßen:

„Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ (DBSH, 2009, S. 13).

In Bezug auf die Anti-FARC Bewegung in Kolumbien beinhaltet das Selbstbild der Sozialen Arbeit besonders die Befähigung der Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten sowie die Förderung des sozialen Wandels hervorzuheben. Wenn die These zutrifft, dass Facebook ein öffentlicher Raum ist, in dem Politik stattfindet, dann bietet dieses Netzwerk der Sozialen Arbeit eine Plattform für ihren politischen Auftrag: auf Ungerechtigkeiten, auf Wertverletzungen, auf verhinderte Bedürfnisbefriedigung hinzuweisen und für ein selbstbestimmtes Leben zu kämpfen.

Netzwerke

Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit taucht immer wieder der Begriff des „Netzwerks“ auf. Dieser ist die Grundlage für Virtual Communitys, soziale Online-Netzwerke und damit auch für Social Network Sites wie zum Beispiel Facebook.

1.1.1 Soziales Netzwerk

Für Holzer spielen „[w]eder individuelle Motive noch Bestandsprobleme sozialer Systeme [die] geeignete[n] Ausgangspunkte für die Erklärung sozialer Sachverhalte“ (Holzer, 2009, S. 253). Es sind „die Beziehungen, in die Individuen und andere soziale Einheiten eingebunden sind.“ (ebd., im Original kursiv). Diese sozialen Beziehungen bezeichnet Weber als ein „aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ und sagt nichts darüber aus, „ob »Solidarität« der Handelnden besteht oder […] das gerade Gegenteil“ (Weber, 1976, S. 37, im Original kursiv). Durch ein Geflecht verschiedener Beziehungen entsteht ein soziales Netzwerk, welches jeden Menschen umgibt.

Der Begriff des sozialen Netzwerks wurde von John Barnes geprägt ‒ er gilt somit als dessen Urheber (vgl. Bögenhold & Marschall, 2007, S. 15). Er untersuchte die kleine relativ isolierte Gemeinde Bremnes auf einer Insel in Norwegen und entdeckte dabei, dass das soziale Gefüge der Gemeinde neben dem territorial hierarchischen administrativen und dem industriellen ein drittes System beinhaltete – die soziale Beziehungen der Bewohner, welche aus Freundschafts-, Bekanntschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen bestanden (Barnes, 1954b, S. 237; Bögenhold & Marschall, 2007, S. 15). Während die ersten beiden Systeme klar gegliedert und hierarchisiert waren, besaß das letztere „keinerlei vereinheitlichende Organisation, keine Unterteilungen und keine Grenzen“ (Penkler, 2008, S. 89; vgl. Barnes, 1954b, S. 237).

Aufgrund seiner Beobachtungen beschrieb Barnes ein Netzwerk folgendermaßen:

“Each person is, as it were, in touch with a number of other people, some of whom are directly in touch with each other and some of whom are not. Similary each person has a number of friends, and these friends have their own friends; some of any one person’s friends know each other, others do not. I find it convenient to talk of a social field of this kind as a network. The image I have is of a set of points some of which are joined by lines. The points of the image are people, or sometimes groups, and the lines indicate which people interact with each other. We can of course think of the whole of social life as generating a network of this kind” (Barnes, 1954a, S. 43).

Der Begriff des Netzwerks impliziert dabei das Bild eines Spinnen- oder eines Fischernetzes. Die einzelnen Knoten des Netzes bilden die Menschen, manchmal auch Gruppen, die wiederum mit unterschiedlich vielen anderen Knoten bzw. Menschen/Gruppen durch Linien verbunden sind. Persönliche Merkmale der einzelnen Mitglieder, also nominale Attribute wie Alter und Geschlecht, sind hierbei ausgeklammert (vgl. Jansen, 2006, S. 22).

Die sozialen Beziehungen sind nach Barnes’ Aussage nicht zwangsweise von Dauer, manche sind längerfristig, andere lösen sich auf oder schlafen einfach ein, während wieder andere neu entstehen – das soziale System wird dadurch kontinuierlich verändert (ebd. S. 237).

Netzwerke können egozentriert, auf Basis der Dyade, der Gruppe und dem Gesamtnetzwerks analysiert werden (Müller & Gronau, 2010, S. 8ff.). Beim egozentrierten Netzwerk bildet ein Knoten den Mittelpunkt, von dem die Verbindungen ausgehen und die Beziehungen zu anderen Knoten darstellen (ebd., S. 9). Bei der Dyade werden jeweils zwei Punkte als Paar und deren Beziehung zueinander untersucht (ebd.). Die darüber liegende Analyseebene behandelt einzelne Gruppen. Dabei werden mehrere Knoten analysiert, die untereinander eine engere Beziehung haben als der Rest des Netzwerkes (ebd.). Dabei kann auch die soziale Position einzelner Knoten im Vergleich zur Gruppe untersucht werden (ebd.). Das Gesamtnetzwerk bildet sich aus der Summe aller Elemente und ihren Beziehungen (ebd.).

Luc Boltanski und Eve Chiapello (1996) haben nach der Analyse von Managementliteratur und -diskursen der 1990er Jahre herausgearbeitet, dass Netzwerke, deren Organisation auf flachen Hierarchien beruht, die freie Entfaltung der Fähigkeiten und Kapazitäten der Mitarbeiter ermöglichen (Boltanski & Chiapello, 1996, S. 91 ff., zitiert nach Penkler, 2008, S. 113f.). Diese Netzstrukturen sind partizipationsfreundlicher, da sich die Mitarbeiter autonom selbst regulieren können (ebd.).

Facebook bietet nun die Möglichkeit, sich online mit Freunden und Bekannten zu vernetzen und miteinander zu kommunizieren. Das soziale Netzwerk der norwegischen Insel, welches Barnes beschrieben hat, wird mittels Facebook auf den virtuellen Raum im Internet verlagert. Zeit- und Ortsgebundenheit sind dabei nicht mehr entscheidend. Das soziale Netzwerk kann einfacher über (staatliche, geografische, kulturelle, familiäre, usw.) Grenzen hinweg aufgebaut und gepflegt werden – vorausgesetzt die technischen Möglichkeiten sind vorhanden. Die eingangs beschriebenen Proteste gegen die FARC wurden über Facebook organisiert und zeichneten sich durch flache Hierarchien aus. Jeder Teilnehmer nahm freiwillig und aus persönlicher Überzeugung teil; der Grad der Mitarbeit variierte vom Gründen der Gruppe und dem Organisieren der Demonstrationen über deren Teilnahme bis hin zur passiven Bekundung der Solidarität mittels eines Klicks auf der Homepage. So konnten die Interessen, Motivationen, Kapazitäten und Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder der Gruppe optimal genutzt werden.

Die Reichweite sozialer Netzwerke, die Stärke der schwachen Bindungen sowie das durch Netzwerkarbeit generierte Sozialkapital eines Menschen werden in den nächsten Abschnitten näher beleuchtet.

1.1.1.1 „Small World“-Phänomen

Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram (1967) stellte Ende der 1960er Jahre die These auf, dass jeder Mensch auf der Welt jeden anderen über eine geringe Anzahl von Ecken kennt.

„Any two people in the world, no matter how remote from each other, can be linked in terms of intermediate acquaintances, and that the number of such intermediate links is relatively small“ (Milgram, 1967, S. 63)

Er stellte fest, dass sich eine Verbindung zwischen zwei beliebigen Menschen auf der Erde mithilfe persönlicher Bekanntschaften im Durchschnitt über nicht mehr als sechs Zwischenschritte konstruieren lässt (Holzer, 2005, S. 315). Im Rahmen seiner Untersuchung wurden Einwohner des mittleren Westens der USA aufgefordert, einen Brief an eine ihnen unbekannte Person zu übergeben (ebd., S. 316). Diesen Brief sollten sie dabei an Personen weitergeben, von denen sie annahmen, dass diese der Zielperson näher standen als sie selbst (ebd.). Die Anzahl der Zwischenpersonen variierte dabei zwischen 2 und 10, der Median lag bei fünf Kontakten (Milgram, 1967, S. 65).

In neueren Studien wurde die Zahl sechs bis sieben bestätigt (Heidemann, 2010. o. S.). Leskovec und Horvitz analysierten 240 Millionen Instant Messenger Accounts und kamen zu dem Ergebnis, dass jeder jeden über 6,6 Ecken kennt (Leskovec & Horvitz, 2007, S. 23). Diese geringe Zahl ist dadurch zu erklären, dass bei „sozialen Netzwerken […] die Verbindungen nicht gleich über alle Knoten verteilt sind“ (Heidemann, 2010, o. S.). Es existieren einzelne stark vernetzte Akteure, in Abbildung 1 der Knoten C, sowie viele wenig vernetzte Akteure,
in Abbildung 1 Knoten I (ebd.).

Für soziale Online-Netzwerke wie Facebook bedeutet das, dass der einzelne Nutzer über wenige Ecken mit sehr vielen Menschen aus der ganzen Welt Kontakt aufnehmen kann, selbst wenn er Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltendiese nicht persönlich kennt. Analog zu dem in Milgram’s Experiment verschickten Briefen kann es sich im Internet-Zeitalter beispielsweise auch um Informationen bezüglich eines gesellschaftlichen Konfliktes handeln. Durch soziale Online-Netzwerke können solche Informationen schnell die Aufmerksamkeit von sehr vielen, auch geografisch weit entfernten Menschen erregen.

1.1.1.2 Stärke schwacher Bindungen

Die Beziehungen der einzelnen Menschen in einem Netzwerk können in Anlehnung an Granovetter (1973) in schwache und starke Beziehungen (strong ties und weak ties) aufgeteilt werden.

Kennzeichen starker Beziehungen (strong ties) sind häufige Kontaktaufnahme, Intimität, Stabilität und emotional intensive Verbindung (Döring, 2003, S. 407). Diese Personengruppe ist uns in der Regel ähnlich und kennt sich meist auch untereinander (Schilliger, 2010, S. 17). Schwache Beziehungen (weak ties) beschränken sich meist auf gemeinsame Interessen oder Aktivitäten und sind weniger emotional und intim (ebd.). Bei weak ties sollte das Prinzip des Gebens und Nehmens rasch ausgeglichen werden, „da ein Fortbestand der Beziehung unsicher ist (z. B. würde man guten Freunden eher größere Geldsummen leihen als Urlaubsbekanntschaften)“ (Döring, 2003, S. 407).

In Granovetters Studie (1973) zur Suche eines Arbeitsplatzes im System der Erwerbstätigkeit, wurden diejenigen befragt, die über informelle Kontakte zu ihrem neuen Job kamen (Bögenhold & Marschall, 2007, S. 18). Es stellte sich dabei heraus, dass der Kontakt zum neuen Arbeitgeber oft über Personen lief, „die nicht zum engeren Kreis des Befragten gehörten“ (ebd.). Granovetter erklärt dies folgendermaßen:

„Those to whom we are weakly tied are more likely to move in circles different from
our own and will thus have access to information different from that which we receive“ (Granovetter, 1973, S. 1371).

Weak ties sind deswegen von großer Bedeutung, weil sie für den Einzelnen eine „Brückenfunktion“ übernehmen (Müller & Gronau, 2010, S. 5).
Diese schwachen Bindungen können „Informationen und Ressourcen außerhalb des eigenen sozialen Kreises“ (ebd.) generieren und sind vor allem dann vorteilhaft, wenn dabei „besonders unterschiedliche soziale Bereiche verb[unden]“ (ebd.) werden.

Auf soziale Online-Netzwerke bezogen bedeutet das, dass gerade die schwächeren Beziehungen (z. B. Freundesfreunde) Zugang zu neuen Informationen (z. B. offene Arbeitsplätze, andere Sichtweisen zu bestimmten Sachlagen) bieten (Heidemann, 2010, o. S.). Dadurch können einzelne Gruppen nicht gänzlich isoliert sein. Sobald schwache Beziehungen zu Nichtmitgliedern der eigenen Gruppe bestehen, werden bewusst oder unbewusst neue Informationen und Ansichten in die Gruppe eingebracht. Auch eine bereits vorherrschende Meinung innerhalb einer Gruppe wird durch Informationen und Sichtweisen von Externen verändert und weiterentwickelt. So ist es zudem möglich, dass bestimmte Informationen auch Menschen erreichen, die sie normalerweise nicht erfahren würden. Lokale Ereignisse können globale Reaktionen auslösen, wie geschehen im Fall der Anti-FARC Bewegung auf Facebook.

1.1.1.3 Sozialkapital und soziale Online-Netzwerke

Netzwerkarbeit bedeutet Beziehungsarbeit, also das Knüpfen von Verbindungen, um das eigene Netzwerk zu erweitern (Penkler, 2008, S. 114). Aus Sicht der Einzelperson bildet das sie umgebende Netzwerk an Kontakten das Sozialkapital (Müller & Gronau, 2010, S. 6). Eine engere Definition versteht darunter „die Ressourcen […], auf die Individuen durch ihre Zugehörigkeit zu Netzwerken zugreifen können“ (Franzen & Pointner, o. J., S. 21). Bei weiter gefassten Definitionen zählt auch „das generalisierte Vertrauen in Personen und Institutionen“ (ebd., S. 6) sowie „allgemeine Normen, wie die Fairness- oder Reziprozitätsnorm“ (ebd.) zum Sozialkapital. Die folgende Abbildung zeigt die verschiedenen Dimensionen des Sozialkapitals:

Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die netzwerkbasierten Ressourcen wichtig, da diese über soziale Online-Netzwerke sehr gut gepflegt werden können.

Für Bourdieu (1983) ist Sozialkapital die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes […] von Beziehungen […] verbunden sind“ Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Bourdieu, 1983, S. 191). Damit stehen nicht die Personen an sich im Vordergrund, sondern die Beziehungen zwischen ihnen. Die Menge des Sozialkapitals für den Einzelnen hängt einerseits von der „Ausdehnung des Netzes von Beziehungen“ (ebd., S. 192) und andererseits vom „Umfang des Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht“ (ebd.), ab.

Sozialkapital erlaubt es einer Person auf die Ressourcen anderer Mitglieder ihres Netzwerkes zugreifen zu können (Ellison et al., 2007, S. 1145). Die Prämisse von Sozialkapital ist dabei recht einfach und unkompliziert: „investment in social relations with expected returns“ (Lin, 1999, S. 30).

Dass die Nutzung von sozialen Online-Netzwerken positive Auswirkungen auf das Sozialkapital einer Person hat, haben Ellison et al. (2007) in einer Studie herausgefunden: „[T]here is a positive relationship between certain kinds of Facebook use and the maintenance and creation of social capital“ (Ellison et al., 2007, S. 1161). Zu diesen positiven Auswirkungen zählt, dass latent vorhandene Beziehungen, die praktisch möglich, aber sozial noch nicht aktiviert sind, in schwache Beziehungen umgewandelt werden können (ebd., S. 1162). Den Nutzern von sozialen Online-Netzwerken fällt es leichter, Bekanntschaften und Freundschaften aufrecht zu erhalten und in Kontakt zu bleiben, auch wenn das reale Leben dies beispielsweise durch den Umzug in eine andere Stadt erschwert (ebd., S. 1165).

Man kann Bourdieus Begriff des Sozialkapitals mit Granovetters Theorie der starken und schwachen Beziehungen mit folgendem Ergebnis verbinden: Bei starken Beziehungen steigt das soziale Kapital mit der Intensität der Beziehungen. Bei den schwachen Beziehungen – und damit für die Nutzer sozialer Online-Netzwerke – steigt hingegen das Sozialkapital, je mehr Kontakte der Einzelne zu anderen Netzwerkteilnehmern hat, die untereinander nicht verbunden sind.

Wenn das Geflecht persönlicher Beziehungen, welches das soziale Netzwerk darstellt, auch im virtuellen Raum (Internet) besteht bzw. sich dort entwickelt, dann spricht man von Virtual Communities.

1.1.2 Virtual Community

Der Ausdruck „virtual community“ wurde erstmals von Howard Rheingold (1994) beschrieben. Er stellt dabei den Menschen als Träger der computervermittelten Kommunikationstechnologie in den Vordergrund (Bühl, 2000, S. 35).

Seine Definition stützt sich auf „WELL“ (Whole Earth ´Lectronic Link, weltweiter elektronischer Zusammenschluss), ein 1985 gegründeter Dienst für Computerkonferenzen, welcher die Möglichkeit zur Unterhaltung und zum E-Mail-Versand bietet und als früher Vorgänger von heutigen sozialen Netzwerken im Internet (z. B. Facebook, StudiVZ, Wer-kennt-wen) gelten kann.

Das „Netz“ ist für Rheingold ein „nicht näher definierter Begriff, um die lose miteinander verbundenen Computernetze zu bezeichnen, die die CMC-Technologie[5] verwenden, um Menschen auf der ganzen Welt zu öffentlichen Diskussionsrunden zusammenzuschließen“ (Rheingold, 1994, S. 16). Virtuelle Gemeinschaften stellen für ihn „soziale Zusammenschlüsse [dar], die dann im Netz entstehen, wenn genug Leute diese öffentlichen Diskussionen lange genug führen und dabei ihre Gefühle einbringen, so daß im Cyberspace ein Geflecht persönlicher Beziehungen“ (ebd.) entsteht. Und er fügt hinzu: „Wo auch immer Menschen Zugang zu CMC-Technologie erhalten, sie damit unweigerlich virtuelle Gemeinschaften gründen“ (ebd., S. 17).

Rheingold sieht diese Entwicklung als eine positive soziale Errungenschaft an. Die Grundlage virtueller Gemeinschaften sind nicht „verwandtschaftliche Verhältnisse oder räumliche Nachbarschaft, sondern allein gemeinsame Interessen im Netz“ (Bühl, 2000, S. 36). Dadurch entsteht ein enormes Kommunikationspotential, das über nationale und ideologische Grenzen hinweg besteht.

1.1.2.1 Merkmale virtueller Communities

Für Rheingold war 1994 die Grundlage für die Bildung virtueller Communities eine lang genug geführte Diskussion und die Einbringung persönlicher Gefühle. Die neueren Definitionen von Deterding (2008) und Döring (2001) ersetzen die persönlichen Gefühle mit dem gemeinsamen Interesse, welches neben der Kontinuität der Interaktion die Basis für die Bildung virtueller Communities darstellt.

Die Zeit- und Ortsunabhängigkeit als besondere Merkmale virtueller Gemeinschaften ermöglicht den Mitgliedern maximale Flexibilität – „not tied to time, place and other physical or material circumstances, other than those of the people and media enable them” (van Dijk, 1999, S. 199, zitiert nach Kneidinger, 2010, S. 45). Durch den nicht notwendigen face-to-face Kontakt der Mitglieder haben virtuelle Communities „ein breites Einzugsgebiet“ (Winkler & Mandl, 2004, S. 3) und in der Folge die Tendenz zu einer „großen Mitgliederzahl“ (ebd.).

Ein weiteres Kennzeichen von virtuellen Communities ist die Anonymität der Nutzer. Nach Winkler und Mandl (ebd., S. 5f.) besteht diese aus der möglichen „Verschleierung von Identitätsmerkmalen“. Die Teilnehmer können ihre Identitätsmerkmale, wie Name oder Alter beliebig und nach Bedarf ändern. Oft werden auch Fantasienamen, sogenannte Nicknames, verwendet um die eigene Identität zu verbergen.

Die gemeinsamen Interessen sowie die Zeit- und Ortsunabhängigkeit waren die Basis für die in Punkt 2 geschilderte Geschichte der Anti-FARC Bewegung. Weiterhin wirkt sich die Möglichkeit, erst einmal anonym bleiben zu können, positiv auf das Entstehen einer größeren Bewegung aus. Solange die Gruppe noch klein und überschaubar ist, können die Teilnehmer unter falschen Namen partizipieren. Die direkte reale Konfrontation findet durch den virtuellen Raum nicht statt und der Einzelne muss negative Folgen seines Engagements weniger fürchten. Ist eine bestimmte Gruppengröße erreicht, bietet schon allein die Masse Schutz und Selbstvertrauen. Ab dieser Phase war es für die Menschen in Kolumbien möglich, die virtuelle Welt des Internets zu verlassen und zu Demonstrationen auf die Straße zu gehen und für ihre Belange zu kämpfen.

1.1.2.2 Kritik an Virtual Communities

Ein Kritikpunkt der ursprüngliche Definition ist das „Othering“ (Deterding, 2008, S. 117): Es gibt nicht nur das eine oder das andere (online vs. offline) Leben. Räume, Bekanntschaften oder Beziehungen sind nicht nur real oder virtuell, sondern beides gleichzeitig. Durch das Internet werden andere Kommunikationsformen nicht verdrängt. Zum Beispiel werden „Beziehungen […] online und offline gleichzeitig geführt“ (ebd.). Die Geschichte der Anti-FARC-Bewegung in Kolumbien ist ein Beispiel dafür, dass eine zunächst rein virtuelle, nur im Internet existierende Gruppe zu einer realen Bewegung auf der Straße wurde, im Internet aber parallel weiterexistierte.

Eine weitere Schwäche von Rheingolds Definition ist eine ungerechtfertigte Vereinfachung, da es nicht DIE virtuellen Communities gibt. Diese unterscheiden sich von ihren Eigenschaften und Wirkungen, je nachdem ob sie geschlossen oder für jeden frei zugänglich sind. Auch die Gründe für deren Bildung sind verschieden – vom multikulturellen Informationsaustausch über dem Einsatz für einen bestimmten Zweck (z. B. Tierschutz) bis hin zu terroristischen rechts- und linksradikalen Netzwerken (ebd.).

Weiter fehlt der ursprünglichen Definition von Rheingold die Emergenz (ebd., S. 118). Virtuelle Gesellschaften sind im Gegensatz zu realen Gesellschaften sehr dynamisch und flexibel, da sie keine direkte reale Interaktion und keine realen Kontakte benötigen. Die Mitglieder können eine bestehende Gemeinschaft ohne großen Aufwand und eventuelle soziale Schuldgefühle verlassen (vgl. Kneidinger, 2010, S. 45).

Deterdings Definition von Virtual Community ist folgende:

„Virtual Community bezeichnet die (1) um ein geteiltes Interesse organisierte (2) anhaltende Interaktion von Menschen (3) über einen oder mehrere mediale Knoten im Web, aus der (4) ein soziales Netzwerk aus Beziehungen und Identitäten mit (5) einer geteilten Kultur aus Normen, Regeln, Praxen und Wissensvorräten emergiert“ (Deterding, 2008, S. 118).

Eine weitere Definition stammt von Döring:

„Eine virtuelle Gemeinschaft ist ein Zusammenschluss von Menschen mit gemeinsamen Interessen, die untereinander mit gewisser Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit auf computervermitteltem Wege Informationen austauschen und Kontakte knüpfen“
(Döring, 2001, o. S.).

Für das Entstehen einer virtuellen Gemeinschaft muss jedes einzelne Gemeinschaftsmitglied über die notwendigen technischen Geräte verfügen bzw. Zugang zu diesen besitzen sowie die Möglichkeit haben, sich mit dem Internet zu verbinden. Weiter braucht eine virtuelle Gemeinschaft einen gemeinsamen Ort, an dem sie sich treffen und Informationen austauschen kann. Social Network Sites (SNS), die im Folgenden näher dargestellt werden, bieten die technische Plattform für virtuelle Gemeinschaften. Mit ihrer Hilfe kann der Austausch zwischen den einzelnen Teilnehmern erfolgen.

1.1.3 Social Network Sites (SNS)

Die erste Online-Community im Internet war „The Well“. Dieser Dienst war noch nicht vergleichbar mit den heutigen Social Network Sites (SNS). Nach Boyd und Ellison (2007) sind die Unterschiede zwischen früheren und heutigen Communities folgende:

„Early public online communities […] were structured by topics or according to topical hierarchies, but social network sites are structured as personal (or "egocentric") networks, with the individual at the center of their own community“ (Boyd & Ellison, 2007, o. S.).

In den Communities der Anfangszeiten waren demnach die Grundlagen einer Community im Internet ein gemeinsames Thema. Die aktuellen SNS sind eher egozentriert, daher steht das Individuum im Mittelpunkt des Interesses.

Beschreiben kann man SNS als web-basierte Dienste, welche deren Benutzern die Möglichkeit geben, eigene Inhalte zu erstellen und diese mit anderen Nutzern zu teilen. Diese Inhalte werden „User Generated Content“ genannt. Der Begriff stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum und ist ein
Sammelbegriff für „alle von einem Internetnutzer erzeugten medialen Web-Inhalte“ (Bauer, 2011, S. 7). User Generated Content markiert auch den „Ausgangspunkt für den grundlegenden Wandel des Internets“ (ebd., S. 8), weg vom „rein statischen „Informations-Web“, […] auch „Web 1.0“ genannt“ (ebd.), hinzu zum heutigen sogenannten „Web 2.0“, bei dem der Fokus darauf liegt, die „Anwendungen für die Nutzer interaktiver und damit noch interessanter zu gestalten“ (ebd.).

Bei den SNS handelt es sich um „eine besondere Form von Gemeinschaft“ (Heidemann, 2010, o. S.), bei der „die Interaktion und Kommunikation […] durch eine technische Plattform und die Infrastruktur des Internets unterstützt“ (ebd.) wird und ein „gemeinsames Ziel, Interesse oder Bedürfnis [ein] verbindendes Element“ darstellt (ebd.).

Boyd und Ellison (2007) verstehen SNS folgendermaßen:

„We define social network sites as web-based services that allow individuals to (1) construct a public or semi-public profile within a bounded system, (2) articulate a list of other users with whom they share a connection, and (3) view and traverse their list of connections and those made by others within the system.” (Boyd & Ellison, 2007, o. S.).

SNS können in die Kategorien themenbezogen, austauschbezogen, transaktionsbezogen und unterhaltungsbezogen unterteilt werden (vgl. Röll, 2010, S. 209). Weiter können „Freundesnetzwerke (wie Facebook oder Myspace) und professionelle Netzwerke (z. B. Xing oder LinkedIn)“ unterschieden werden (ebd.; Heidemann, 2010, o. S.).

1.1.3.1 Funktionsweise und Verbreitung von SNS

Aktuelle SNS funktionieren laut Boyd und Ellison (2007, o. S), Deterding (2008, S. 123), Kneidinger (2010, S. 51) und Heidemann (2010, o. S.) nach dem gleichen Prinzip:

Der Nutzer meldet sich mit seinem Namen oder einem Fantasienamen (Nickname) an. Danach erstellt er zur Selbstdarstellung ein Profil, zu dem Fotos, Interessen, ggf. ein kurzer Text über sich und Ähnliches gehören. Danach können Freundschaftsanfragen an bestehende Nutzer versendet werden bzw. Nichtmitglieder in den Freundeskreis eingeladen werden. Die Bezeichnung „Freund“ ist dabei irreführend, „because the connection does not necessarily mean friendship in the everyday vernacular sense“ (Boyd & Ellison, 2007, o. S.). Nachdem eine Anfrage angenommen wird, erscheint der neue Freund in der eigenen Freundesliste mit seinem Profilfoto und Namen. Alle Freunde der eigenen Freundesliste können angeklickt werden und führen direkt zu den jeweiligen Profilseiten. Die Aktivitäten der Freunde können dann innerhalb der SNS beobachtet und kommentiert werden. Es können auch Nachrichten, Fotos, Videos etc. auf deren Pinnwänden hinterlassen werden. Auch der Freundeskreis des jeweiligen Freundes kann erkundet und bekannten Personen wiederum eine Freundschaftsanfrage geschickt werden.

Die Verbreitung der SNS funktioniert dabei nach dem Schneeballsystem. Der Nutzer lädt Freunde und Bekannte zur Teilnahme an dem Netzwerk ein, diese wiederum laden eigene Freunde und Bekannte ein (Pichler, 2005, S. 12). Durch das gleiche Prinzip konnte z. B. die Facebook-Gruppe „One Million Voices Against FARC“ so schnell wachsen.

Die folgende Übersicht zeigt den Start von verschiedenen Web-Seiten bis 2008, die vom Aufbau und der Funktionalität her als SNS gelten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zwischen 2002 und 2006 gab es einen Boom mit den meisten Neugründungen von SNS und stark steigenden Nutzerzahlen (Dyrenko, 2011, S. 3f.).

Derzeit gibt es bei den SNS eine Konzentrierung auf wenige Anbieter (Wanhoff, 2011, S. 18). Die Abbildung 4 zeigt die im Dezember 2011 meistbesuchten sozialen Online-Netzwerke in Deutschland.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie in der Abbildung zu erkennen ist, vereint Facebook die größte Anzahl an Nutzern deutschlandweit (Stand Dezember 2011). Ein sicherlich bedeutender Grund diese Konzentrierung ist, dass ein Netzwerk umso besser funktioniert, je mehr Menschen es nutzen. Wenn sämtliche Freunde einer Person bei Facebook angemeldet sind, macht es für die Person keinen Sinn, einen anderen SNS-Anbieter zu wählen, bei dem kaum jemand Mitglied ist. Heinrich Wefing (2012) vermerkt in einem Artikel vom 02. Februar 2012 in „DIE ZEIT“ die Schwierigkeit, sich der Nutzung von Facebook zu entziehen, in dem er fragt: „Aber wer will sich schon freiwillig vom Gespräch mit potenziell 800 Millionen Mitmenschen ausschließen?“ (Wefing, 2012. S. 1).

1.1.3.2 Nutzertypologien von SNS

Gerhards et al. (2008) untersuchten die Nutzertypologien, die sich bei Usern von SNS zeigen und gingen dabei von zwei Dimensionen aus: dem Gestaltungsgrad und den Kommunikationsgrad (Gerhards et al. 2008, zitiert nach Kneidinger, 2010, S. 51). Der Gestaltungsgrad reicht dabei von der rein betrachtenden, eher passiven Nutzung (z. B. Nachrichtenportale) bis hin zur aktiven Nutzung, bei der der User selbst Inhalte herausgibt (z. B. Foto- und Video-Communities) (ebd.). Der Kommunikationsgrad erstreckt sich zwischen den Polen der individuellen Kommunikation (z. B. dem Schreiben von E-Mails) und der öffentlichen Kommunikation (z. B. Webblogs) (ebd.). Folgende Nutzertypen konnten ermittelt werden (Gerhards et al. 2008 zitiert nach Schilliger, 2010, S. 19ff.; Kneidinger, 2010, S. 52f):

Produzenten (aktiv partizipierende Nutzer) veröffentlichen in erster Linie eigene Inhalte. Bei ihnen handelt es sich beispielsweise um Künstler, Fotografen oder Journalisten. Die Kommunikation und Vernetzung dienen der Verbreitung der Werke. Bei Facebook werden hierzu Seiten erstellt, um Fans und Gruppenmitglieder zu generieren.

Selbstdarsteller (aktiv partizipierende Nutzer) veröffentlichen ebenfalls Inhalte, der Fokus liegt dabei jedoch nicht auf einem künstlerischen Produkt, sondern auf der eigenen Person. Allerdings ist die Selbstdarstellung selten das einzige Motiv. Facebook bietet die Möglichkeit der Selbstdarstellung mit Hilfe des vom Nutzer erstellten Profils.

Bei spezifisch Interessierten (aktiv partizipierende Nutzer) liegt die Nutzung von SNS für bestimmte Hobbys und Interessensgebiete im Vordergrund. Möglichkeiten der Mitgestaltung und Kommunikation finden vorwiegend mit anderen Interessenspartnern statt. Hier sind spezifische, thematisch geordnete Facebook-Gruppen ein Beispiel.

Von Netzwerkern (aktiv partizipierende Nutzer) wird das Internet besonders stark genutzt. Ihr Ziel ist vorrangig die Kontaktpflege. Das beinhaltet das Kennenlernen neuer User und den Austausch mit bestehenden Usern, um das eigene Netzwerk zu pflegen und zu erweitern. Dies ist der klassische Facebook-Nutzer, welcher neue Freunde sucht und mit bestehenden Freunden Kontakt hält bzw. wissen will, was diese machen und wie es ihnen geht.

Profilierte Nutzer (aktiv partizipierende Nutzer) nutzen die Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Kommunikation des Internets voll aus. Sie stellen sich selbst dar, nehmen Kontakt zu anderen auf und veröffentlichen eigene und fremde Inhalte. Dieser Typ entspricht dem des Netzwerkers, nur dass er zusätzlich noch Inhalte veröffentlicht. Es handelt sich ebenfalls um einen typischen Facebook-Nutzer.

Kommunikatoren (aktiv partizipierender Nutzer) nutzen das Internet zur generellen Beziehungsarbeit, die Veröffentlichung von Inhalten ist nachrangig. Ziel der Kommunikation ist nicht, neue Leute kennen zu lernen, sondern ein Informationsaustausch über bestimmte Themen. Dabei beteiligen sich Kommunikatoren häufig mit Statements an öffentlichen Diskussionen. Bei Facebook werden Beiträge anderer Nutzer, auch prominenter, häufig kommentiert.

Infosucher (passiv partizipierende Nutzer) beteiligen sich nicht kommunikativ und gestaltend, sondern nutzen das Internet rein betrachtend. Facebook ist nicht als Wissenspool konzipiert und bietet ihnen daher wenig Funktionalität. Infos kommen lediglich von Freunden und werden nicht kommentiert, sondern nur konsumiert.

Unterhaltungssucher (passiv partizipierende Nutzer) sind, wie die Infosucher, ebenfalls passive Nutzer, bei denen jedoch die Unterhaltung im Vordergrund steht. Facebook ist in erster Linie kein Unterhaltungsportal, bietet aber den Unterhaltungssuchern die Möglichkeit, Videos hochzuladen und Social Games zu spielen.

Facebook ist aktuell die SNS mit den weltweit meisten Nutzern und wird im nächsten Kapitel genauer dargestellt.

[...]


[1] Dieser Text wurde auch publiziert in: Münkler, Stefan/ Rösler, Alexander (Hrsg.) (2002): Praxis Internet, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 37-60

[2] Übersetzung: Um eine dezentralisierte Macht zu bekämpfen, muss man dezentralisierte Mittel anwenden.

[3] Übersetzung: Was ziviler Widerstand war, ist jetzt elektronischer ziviler Widerstand.

[4] „no mas muertes“ wird eigentlich mit „keine Tode mehr“ übersetzt. In diesem Zusammenhang eignet sich die Übersetzung „keine Morde mehr“ besser. (Anmerkung des Autors)

[5] CMC = Computer Mediated Communication, Computervermittelte Kommunikation

Ende der Leseprobe aus 184 Seiten

Details

Titel
Revolution per Facebook. Das Social Network als Instrument des Netzaktivismus
Autoren
Jahr
2013
Seiten
184
Katalognummer
V229934
ISBN (eBook)
9783656448914
ISBN (Buch)
9783956870057
ISBN (Buch)
9783656450252
Dateigröße
1401 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
revolution, facebook, social, network, instrument, netzaktivismus
Arbeit zitieren
Katharina Bergmaier (Autor:in)Martin Sopko (Autor:in)Carina Wegmann (Autor:in), 2013, Revolution per Facebook. Das Social Network als Instrument des Netzaktivismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229934

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