Kommunikation und Inszenierung im Web 2.0


Thèse de Master, 2013

95 Pages, Note: 1,0


Extrait


1. Inhaltsverzeichnis

2. Einleitung

3. Internet und Web 2.0
3.1 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Internet
3.2 Der Weg zum Web 2.0
3.3 Web 2.0 versus Social Media
3.4 Lebensweltliche Schlussfolgerungen

4. Kommunikation
4.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen
4.1.1 N. Luhmann - Systemische Kommunikation
4.1.2 P. Berger/T. Luckmann - Gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion..
4.1.3 E. Goffman - Theatermodell und Rahmen(analyse)
4.2 Online-Kommunikation
4.3 Formen der Online-Kommunikation
4.3.1 Öffentlich virtuelle Kommunikation
4.3.2 (Teil-)Öffentliche Kommunikation in sozialen Netzwerken
4.4 Kommunikationskanäle auf Facebook
4.4.1 Chat
4.4.2 Nachricht/Instant-/Private Message
4.4.3 ,Post‘ Rainer Brandenburg Kommunikation und Inszenierung im Web 2.0
4.4.4 Einladung/Veranstaltung/App
4.5 Emotion
4.6 Kontext
4.7 Das Beispiel ,Xing‘

5. Inszenierung und Identität
5.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen
5.1.1 Identitätskonstruktion im Alltag
5.2 Das virtuelle Subjekt
5.2.1 Das ,Image‘
5.2.2 Der Kommentar
5.3 Entsubjektivierung und die Kontextfrage

6. Fazit

7. Ausblick

8. Literaturverzeichnis

2. Einleitung

War das Internet noch im Jahre 1969 ein gerade ins Leben gerufenes Projekt des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums mit dem vermeintlichen Zweck, Forschungseinrichtungen zu vernetzen, ist das ,Interconnected Network‘, so die ursprüngliche Bezeichnung, in der heutigen Zeit aus dem Alltag der allermeisten Menschen in modernen Gesellschaften gar nicht mehr wegzudenken, oft unterschätzt, und auch aufgrund seiner rasanten Evolution wahrlich schwer in den Entwicklung(en) zu prophezeien. So wurde die Technologie unter anderem von Microsoft-Gründer Bill Gates unterschätzt, der selbst nach zwei Jahren ,online‘, im Jahr 1995 noch über die Technologie urteilte: „Das Internet ist nur ein Hype.“ (s. Hansen 2012: Tagesspiegel- Online), und seine Mitarbeiter dazu anhielt, sich erst einmal um andere, wichtigere Dinge zu kümmern. Das ,Medium‘ erster Ordnung, wenn man so will, nimmt eine zentrale und umfangreiche Stellung in unserem alltäglichen Leben ein und erfasst gleichermaßen berufliche wie auch private Sphären. Es durchdringt, mindestens aber tangiert es, nahezu alle gesellschaftlichen Schichten und Felder und ist der Inbegriff der ,digitalen Revolution‘, die unsere Epoche spätestens seit dem Siegeszug des Internet Mitte der 1990er Jahre und der darauffolgenden ,New Economy Blase‘ maßgebend geprägt hat, weiterhin prägt und auch künftig prägen wird.

Im eigentlichen Sinne handelt es sich um Medien in einem Medium, da der Computer als ,universelle Maschine‘, bereits als Medium gesehen werden kann (vgl. Schröter 2004: 8 ff.). Auch betrifft das Internet, oder besser gesagt, alles das was sich über dieses Medium zweiter Ordnung vollzieht, geradezu alle Dimensionen der soziologischen Betrachtungsweisen, denn es handelt sich bei diesem ,Medium‘ nicht zuletzt um ein gesellschaftliches Metaprodukt. So könnte man bei dem über die ,Plattform‘ Internet Vollziehenden nämlich auch von einer Art ,Hybridmedium‘ sprechen, denn vereint es doch im Grunde alle anderen Medien in mehrdimensionaler, digitaler Weise.1 Es ist sozusagen eine kombinatorische Weiterentwicklung der vorherigen, oftmals ,singulär(er)‘ gearteten Medien. Damit ist das Internet eine noch nie dagewesene Schöpfung, mit all den Chancen und Risiken, die es gleichwohl dem Kollektiv Gesellschaft, als auch dem einzelnen Individuum bietet. Auch in seiner Kombinatorik ist es sicherlich noch keinesfalls erschöpft und wird auch in Zukunft unser Leben und die Gesellschaft durch seine Weiterentwicklungen in beträchtlicher Art und Weise, wie auch mit rasantem Tempo beeinflussen.

Das Internet ist in seiner Architektur und Struktur ein äußerst komplexes und schnelllebiges Massenmedium - bzw. die Plattform für sämtliche, (wie auch immer) verknüpfte Hybridmedien - in dem sich die Nutzer auch online ,bewegen‘ oder ,surfen‘ können.2 Surfen ist vielleicht (auch metaphorisch) ein fürwahr geeigneter Begriff, da die Inhalte und der Verlauf doch in irgendeiner Form ,flüssig‘ erscheinen und sich ,wellenartig‘ verbreiten. Das Internet bietet jedenfalls in vieldimensionaler Weise völlig neue Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation und mit allen damit verbundenen sinnstrukturellen Konsequenzen. Einerseits gehen damit oft Transformationen bereits tradierter Deutungsmuster einher, die auf lebensweltlich vorhandenen Mustern rekurrieren. Anderseits bilden sich auch ganz neue Interaktionsmuster und -Formen im und durch das Internet heraus und beeinflussen wiederum rückgekoppelt die alltäglichen, tradierten Sinnstrukturen. Wie allerdings schnell festzustellen ist, ist ein solches Forschungsfeld wie es das Internet darbietet, schier grenzenlos, was eine Eingrenzung, Konkretisierung und Zuspitzung der Thematik und Absicht zwingend erforderlich macht. Vorab soll deshalb bereits eine Eingrenzung erfolgen, vor allen Dingen aber auch im Verlauf dieser Arbeit, soll eine solche gegenstandsbezogene Kanalisierung perpetual hermeneutisch geschehen.

Seit dem einstigen ,Boom‘ privater Homepages, insbesondere aber nach der Entwicklung hin zum s.g. ,Web 2.0‘, einer neuen Generation des World Wide Web (WWW), und letztlich den im Zuge dessen entstandenen und bis dato sehr populär gewordenen sozialen Netzwerken - wie z.B. durch einen der wohl bekanntesten Anbieter Facebook - gilt hinsichtlich der Transformation von Kommunikation Selbiges, wie eingangs bereits angedeutet. Nämlich: unter Rückgriff auf bereits vorhandenes soziales Wissen bilden sich diesbzgl. neue Formen aus und weiter. Die hier letztgenannte Gattung der Webinhalte, die der sozialen Netzwerke, welche auch unter dem Pseudonym ,Social Media‘ bekannt sind, nimmt in der heutigen Gesellschaft einen ungeheuer signifikanten Stellenwert ein.3 Allein der Branchen-Primus Facebook vernetzte im Dezember 2012 nach eigenen Angaben die außerordentliche Zahl von über eine Milliarde Menschen. Das bedeutet, dass sich demnach ca. ein siebtel der Weltbevölkerung mindestens einmal im Monat auf Facebook einloggt, 618 Millionen tun dies täglich (vgl. Facebook-Online). Die Tendenz ist, zumindest momentan gesehen, auch weiterhin steigend.

Oft wird auch der Begriff Social Media synonym für eine weitere Entwicklungsstufe des Webs und als Ablösung von Web 2.0 verwendet. Diese Inhalte bilden allerdings lediglich einen Teil des WWW ab und greifen somit für die vorliegenden Absichten zu kurz.4 Innerhalb der Social Media-Angebote ist häufig eine Korrelation zwischen Alter und Nutzung, sowohl bzgl. der Plattform selbst, als auch der auf ihr angebotenen sozialen Netze, nicht von der Hand zu weisen. Diese Abhängigkeit hat zum einen mit der komplexen Struktur/Nutzung bzw. den voraussetzungsvollen Fähigkeiten der Nutzer, und zum anderen auch mit den altersbedingten Interessenlagen zu tun. Wobei sich letztere durch benutzerfreundlichere Hard- und Software auch immer weiter in Richtung älterer Nutzer öffnen. Jedenfalls bedeutet Web 2.0 nun in diesem Konnex eine seit einigen Jahren neuartige Möglichkeit der interaktiven Präsenz der Nutzer. Mit dem Begriff werden die neuen Angebote des Internets und eine veränderte Wahrnehmung sowie Nutzung der nicht mehr nur passiven Konsumenten, sondern nunmehr vielfach auch aktiven ,Prosumenten‘ beschrieben. Damit gehen die kommunikativen und inszenierenden Dimensionen gleichermaßen einher, die in dieser Arbeit von besonderem Interesse sein und näher beleuchtet werden sollen. Das schließt natürlich den Bereich Social Media ein und legt eine nähere Betrachtung ebendessen nahe, aber betrifft eben nicht ausschließlich jenen Bereich. Nicht zuletzt stellt man bei der Beobachtung des Weltmarktführers Facebook schnell fest, dass dort ständige Neuerungen bezüglich der Nutzungs-, Kontroll- und Sichtbarkeitseinstellungen und ebenfalls der -bedingungen, ob absichtlich oder nicht, vorgenommen werden und verschiedene, bedeutende Optionen fortan möglich oder eben nicht mehr möglich sind. Diese Politik stets vorgenommener Änderungen verkompliziert eine Untersuchung der Materie ungemein und kann in diesem Rahmen nur äußerst schwerlich nachvollzogen werden. Deshalb sollen zwar die auf Facebook gemachten Beobachtungen und gesammelten Erfahrungen in diese Arbeit einfließen, sie entbehren jedoch aufgrund der angesprochenen Problematik einer alleinigen Legitimität im Sinne objektiver Forschung.

Grundsätzlich sind in diesem bislang noch sehr grob skizzierten Feld und Konnex drei wesentliche und besonders interessante Forschungsrichtungen, die in diesem Umfang durch Zuspitzung und Vertiefung in die Materie lohnenswert eingeschlagen werden könnten, auszumachen. Trotzdem stehen natürlich alle in einem Gesamtzusammenhang und sind dahingehend verknüpft. Ihre Vor- und Nachteile sollen indes kurz erörtert und abgewogen werden:

Zum einen wären hier identitätsbildende Prozesse in der gesellschaftlichen Umwelt zu nennen. Damit sind all jene Abläufe gemeint, die dazu beitragen, dass individuelle Selbst zu beeinflussen und zu formen und das Ganze im Wechselverhältnis von online-spezifischen Milieu und lebensweltlicher Umwelt. Ansatzpunkte wären die kommunikativen Prozesse und inszenatorischen Darstellung(en) des Alter und Ego im Netz. Wie werden Identitäten auf die Metaebene projiziert und welchen Einfluss haben sie umgekehrt? Welche Rollenausprägungen werden auf der einen Seite virtuell, auf welche Weise durch das Selbst probiert und wie schlägt sich das lebensweltlich nieder? Welche gesellschaftliche Realität und die Auslegungen dessen tritt dadurch zu Tage? Diesen Fragen könnte durch die Einbeziehung und Abstraktion der Theoreme von u.a. Erving Goffman, Niklas Luhmann, Peter Berger/Thomas Luckmann sowie Lothar Krappmann (bzw. Erik H. Erikson) nachgegangen werden. Nicht ganz einfach wäre die Abdeckung möglichst aller Einflussfaktoren.

Zum anderen wären sicherlich Meinungs- und Konsensbildungsprozesse im digital vernetzten Raum eine lohnenswerte Untersuchungsrichtung. Im Fokus hierbei würden diverse Online-Präsenzen, wie bspw. Homepages und Ableger davon in sozialen Netzwerken von Berichterstattern, Unternehmen, Verkaufsportalen, wie auch private Präsenz in sozialen Netzen stehen. Welche Inhalte finden in welcher Form Anklang bzw. Ablehnung? Warum ist das so? Und kann man daraus möglicherweise gesellschaftliche Regelhaftigkeiten, Normen und Werte vor allem diskursanalytisch erfahrbar machen und ableiten? Hierzu wären möglicherweise die Theoreme von Michel Foucault, Norbert Elias und ebenfalls Erving Goffman besonders hilfreich. Sicherlich schwierig in einer solchen Ausrichtung ist schon Eingangs das Aufspüren und die Auswahl ,geeigneten‘ Materials.

Und weiterhin wäre eine Betrachtung der zweckgebundenen Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle, oder kommunikativer Gattungen und dahinter liegender Eigenheiten und insbesondere ihren jeweiligen Regelhaftigkeiten interessant. Warum werden welche Kommunikationsmittel eingesetzt und zu welchem Zweck? Welchen Inszenierungsgrad kommt dem jeweiligen Mittel zu und wodurch äußert sich das? Existieren möglicherweise bestimmte Rituale, die sich in Online- Kommunikationsmitteln spiegeln? Und was sagen diese rückschließend aus? Auch hier wären u.a. die Theoreme Goffmans und Luckmanns zu berücksichtigen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang bereits der imaginäre Versuchsaufbau und die (Aus-)Wahl geeigneter Grundlagen.

Diese drei Richtungen sind selbstverständlich nicht als jeweils autarke Stränge zu verstehen, sondern sie sind vielmehr auch verschiedenartig miteinander verquickt.

Insofern ist in der letztendlichen Ausrichtung und Auseinandersetzung der Gesamtbezug zu sehen und zu berücksichtigen, denn keine Richtung ist mit einer Entscheidung gegen sie gänzlich ausgeschlossen. Allerdings verschieben sich jeweilig Fokus und Erkenntnisgewinn.

Durch Abwägung und Einschätzung der verschiedenen Richtungen und aufgrund ihrer Eignung und Umsetzbarkeit, soll von hier an schwerpunktmäßig die Richtung identitätsbildender Prozesse anhand der kommunikativen und inszenatorischen Aspekte vertiefend verfolgt werden. In diesem Zusammenhang sind, wie bereits angeklungen ist, bestimmte erkenntnistheoretische Grundlagen und dessen schwerpunkt- und grundlagenrelevante Aufarbeitung notwendig. Diese sollen in den jeweiligen Abschnitten behandelt werden und adäquate Anwendung finden.

Eine rein deskriptive Bearbeitung dieses Untersuchungsfeldes, wie der Titel der Arbeit eventuell nahelegen könnte, würde zu kurz greifen und ist nicht und war nie beabsichtigt. Erst in einer Kontrastierung mit der ,realen Welt‘ wird im Sinne Goffmans das besondere der Kommunikation und Inszenierung in der virtuellen Welt trennscharf identifizierbar. In beiden Welten sind Vergesellschaftsprozesse konstitutiv, wie sie in den Theoremen Berger und Luckmanns näher definiert sind. Sie bestimmen das Handeln des Subjekts in ihnen, werden aber ebenso vom handelnden Subjekt determiniert, ausgefüllt und gegebenenfalls verändert. Als Schnittstelle für eine Beschreibung dieser wechselseitigen Wirkfaktoren scheint für die Absicht dieser Arbeit das theoretische Konstrukt der Identität besonders geeignet. Einer kontrastierenden Betrachtungsweise soll dadurch eine theoretische Fundierung gegeben werden, die hoffentlich verwertbare Aussagen und weiterführende Fragestellungen generiert.

Bevor die entsprechenden Einflussgrößen genau lokalisiert und erkenntnistheoretische Grundlagen aufgearbeitet werden, soll erst einmal die Entwicklungsgeschichte des Internet, des Web 2.0 und, aus aktuellem Anlass und zur Abgrenzung, die der Social Media in gebotener Kürze beleuchtet werden. Danach müssen dann für die zuvor formulierten Absichten die jeweils betreffenden forschungstheoretischen Grundlagen herausgearbeitet und dargestellt werden, um dann in der Folge fruchtbringend und kontextuell verknüpft angewendet werden zu können.

Das Vorgehen in dieser Arbeit ist durch eine Hermeneutik bestimmt die sich dadurch auszeichnet, dass bereits während der Grundlagenarbeit erste Verknüpfungen konstruiert werden, die dann im Folgenden von anderen Perspektiven erneut beleuchtet werden und somit möglichst eine höhere Tiefenschärfe generieren. Nach hermeneutischen Rückkopplungen werden die Ergebnisse schließlich resümierend zusammengefasst, bevor abschließend der Versuch unternommen wird, einen zukunftsorientierten Ausblick bzgl. des Themenfeldes zu geben und daran anknüpfend, mögliche gewinnbringende, weiterführende Forschungsfragen (für eine umfangreichere Arbeit) zu formulieren.

3. Internet und Web 2.0

Seitdem das Internet sein damalig vornehmlich militärisch forschungsrelevantes Schattendasein als ,Arpanet‘5 abgelegt hat und letztendlich auf dem Tableau der öffentlichen Massenmedien erschienen ist, hat es in kürzester Zeit eine rasante Verbreitung, einen nur schwer vergleichbaren Siegeszug hinter sich gebracht. Es ist zudem kaum abzusehen, wie es sich auch in Zukunft weiter entwickeln wird und welche Veränderungen und Konsequenzen dies noch alles mit sich führt. Doch wie ist es zu dem jetzig vorhandenen Status Quo in Sachen Internet gekommen? Ein kurzer Einblick in die Entwicklungsgeschichte ist deshalb eingangs unerlässlich.

Die schier unerschöpflich sprudelnde Datenquelle Internet gründet im Wesentlichen auf der womöglich unendlichen programmiertechnischen und physischen Kombinatorik und den zugrundeliegenden Weiterentwicklungen der Soft- wie auch Hardware. Die bis dato beobachtbare, vergleichsweise schnelle Entwicklung und Verbreitung des Internets ist jedenfalls äußerst bemerkenswert. So ist das Netz doch für die vielen Menschen und die allermeisten Mitglieder der Gesellschaft zu einem unverzichtbaren Medium und einem sehr bedeutsamen Kommunikations- und Darstellungskanal - auch im Alltäglichen - avanciert, welcher von der großen gesellschaftlichen Mehrheit akzeptiert ist und sehr regelmäßig genutzt wird.6

Zunächst einmal bedarf es einer genaueren Skizzierung dieser in vielen Belangen anspruchsvollen und vielschichtig strukturierten Materie Internet. So muss zuallererst einmal ein Blick auf die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser technisch, wie auch im erweiterten Sinne gesellschaftlich, komplexen Errungenschaft geworfen werden. Daran anknüpfend soll eine differenzierte Betrachtung der evolutionären Weiterentwicklung des Internet, hin zum Web 2.0 und eine Abgrenzung zu einem Teil des Web 2.0, der s.g. ,Social Media‘, vorgenommen werden. Diese Beleuchtung ist zwingend notwendig, um schon einmal vom technologisch- evolutionären Standpunkt her das Feld in diesem riesigen virtuellen Gebiet abstecken zu können, welches für spätere Untersuchungen die Grundlage bilden soll. Zu guter letzt sollen am Ende dieses Kapitels erste Rückschlüsse für die lebensweltlich reale Wirklichkeit gezogen werden.7

3.1 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Internet

An dieser Stelle soll also in gebotener Kürze die geschichtlich evolutionäre Entwicklung des Internet skizziert werden. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, handelte es sich ursprünglich um eine vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium (DoD - Department of Defense) iniziierte Entwicklung, die es vor allem ermöglichen sollte, verschiedene autark funktionierende Netzwerke zu verbinden und in einem dezentral operierendem Netzwerk zu bündeln. Daher auch die Wortschöpfung ,Internet‘, abgeleitet von der originären Bezeichnung: ,Interconnected Networks‘. Doch gehen wir zunächst noch einen Schritt zurück.

Die amerikanische Behörde ARPA bzw. -DARPA- (-Defense- Advanced Research Projects Agency) musste sich gegen Ende der 1950er gezwungenermaßen, aufgrund neuer Anweisungen, neu strukturieren und machte sich nach einer Reflexion bisheriger Arbeitsweisen und -strukturen fortan zum Ziel, die verschiedenen Fachbereiche all jener US-Universitäten, die für das DoD forschten, zu vernetzen. Damit sollten primär Prozesse beschleunigt und verschlankt, ja die Forschung insgesamt effizienter gestaltet werden, nicht zuletzt um auch allgemeine Synergieeffekte freizusetzen. Das Vorgängermodell des Internet, anlehnend an das Kürzel der Behörde auch als ,Arpanet‘ bezeichnet, wurde bereits zu seiner damaligen Zeit, wie jedoch auch im späteren Verlauf ihr Nachfolger, das frühe Internet, über die bereits vorhandene

Telekommunikationstechnik aufgebaut, genauer gesagt über Telefonleitungen. Im Jahr 1969 wurde das Arpanet dann erstmals an der University of California in Los Angeles erfolgreich vernetzt und eingesetzt. Die Inbetriebnahme erfolgte über lediglich vier s.g. Netzknoten (miteinander verbundene Netzelemente) und wurde bis Ende der 1980er Jahre auf ca. 100.000 verbundene Universitätsrechner ausgebaut. (vgl. Beißwenger 2000: 12). Mittlerweile ist das Internet dank neuer Technologien ebenfalls via Satellit oder Mobilfunk, m.a.W. ,wireless‘, verfügbar.

Die technische Infrastruktur stützt sich größtenteils auf die Datenprotokolle TCP/IP. Die Rechner kommunizieren somit über ein gemeinsames Protokoll (häufig http) und verfügen über eine jeweils einmalige und eindeutige Netzwerkkennung (IP- Adresse). Die in diesem Bezug relevanten evolutionären Neuerungen spielen sich nun im Bereich der Anwendungen ab. Bemerkenswert ist auch die technische Rollenverteilung im Internet, denn ein Nutzer (Client) kommuniziert letztlich niemals selbst mit den anderen Interaktionspartnern. Dieser Prozess läuft stets über Server, was bedeutet, dass immer auch Dienste und damit auch mindestens ein Provider in der Kommunikation ,zwischengeschaltet‘ ist. Das funktioniert dergestalt, dass der Client etwas anfordert, was ihm dann mittels Server übertragen wird, wie bspw. im Falle von Chat, Facebook, E-Mail, Webseite, usf., d.h. die Daten liegen auf Servern vor, was einen Abruf i.d.F. relativ geräteunabhängig gestaltet, aber prinzipiell auch immer (und) durch Dritte abrufen lässt.

3.2 Der Weg zum Web 2.0

Der Begriff Web 2.0 umfasst gleichwohl eine ganze Reihe technischer Neuerungen, als auch dadurch ermöglichte, gänzlich neue Anwendungen, die unter anderem eine erweiterte Partizipation der User zur Folge hatten und heutzutage im Umgang mit sozialen Netzwerken gipfelt. Es geht also um weiterentwickelte Nutzeranwendungen. Welchen Umfang der Begriff Web 2.0 umfasst und was genau er definiert, ist auch heute noch umstritten, selbst in Informatikerkreisen.8 Aber die technische Seite der Medaille soll auch hier nicht vordergründig von Interesse sein. Festzuhalten ist allerdings, dass sich ein Prozess stetiger Verbesserung, Vergünstigung und gesteigerter Verbindungsmöglichkeit/Konnektivität vollzieht, genauso auf Server- wie auch auf Client-Seite, was eine sehr verbreitete sich weiter verbreitende Nutzung (zumindest in Industrienationen) möglich macht (vgl. Behrendt/Zeppenfeld 2008: 17).

Vielmehr als die technischen Angelegenheiten sind in diesem Zusammenhang die sozialwissenschaftlichen Determinanten sowie Folgen und Konsequenzen die dadurch hervorgerufen werden, von Bedeutung. Internetnutzern zufolge hat das frühere Web (1.0) Computer verbunden, während das Web 2.0 Menschen verbindet (vgl. ebd.: 16). Das zeigt einen gleichzeitigen Paradigmenwechsel an. Diese auf die sozialen Komponenten anspielende Sichtweise spiegelt sich in der Folge auch in den Angeboten und im Nutzen und Nutzung von bspw. sozialen Netzwerken, s.g. ,Communities‘ oder auch ,Blogs‘ wider (vgl. ebd.: 16 f.). Der zunehmend scheinbar ,soziale‘ Charakter von Online-Inhalten wird durch diese Aussage unterstrichen. Wie ,sozial‘ i.S.v. gesellschaftsdienlichen kommunikativen und inszenatorischen Aspekten solche Inhalte tatsächlich sind, wird noch zu zeigen sein. Außerdem muss man sich stets vor Augen führen, dass die allermeisten Services im Web 2.0, mehr oder weniger offensichtlich, ,kommerzielle Medienangebote‘ von gewinnorientierten Providern sind und durch deren Interessen mit strukturiert werden (vgl. Döring 2010: 162).

3.3 Web 2.0 versus Social Media

Warum es sich in dieser Arbeit um die Inhalte und Angebote des Web 2.0, dies explizit als Begriff verwendet wird und eben nicht ausschließlich den der Social Media handelt, ist bereits angeklungen, soll nun jedoch noch einmal konkret formuliert werden. Nach der hier gültigen Definition, beinhaltet der Web 2.0-Inhalt die Social Media, aber nicht umgekehrt, da so ein nicht unerheblicher Teil von (kommunikativen) Anwendungen außen vor bleiben würde. Außerdem ist der Begriff an sich in seiner Semantik eher irreführend, denn auch wenn man womöglich mehr und vermeintlich auch intensiver zu interagieren scheint, bleibt es doch ein meist asynchroner, körperloser Datentransfer. Der ,Prototyp Vis-à-vis-Situation‘ (vgl. Berger/Luckmann 2010: 31) bleibt die fundamental gesellschaftlich soziale Situation. Deshalb sollen ganz bewusst, entgegen des allgemeinen Trends, in dieser Arbeit der Begriff ,Web 2.0‘ statt ,Social Media‘ benutzt werden und dessen Inhalte ebenfalls zur Grundlage genommen werden. Allenfalls könnte man aus soziologischer Sicht von so etwas wie ,metasozialen Netzen‘ reden, was zumindest deren überbaulichen Charakter berücksichtigen würde. Durch die Benutzung des Terminus ‘Web 2.0‘ bleibt eine Abgrenzung begrifflich und in der gedanklichen Sinneinheit schärfer und betont diese zugleich, weshalb dieser hier und auch im Folgenden genutzt werden soll.

3.4 Lebensweltliche Schlussfolgerungen

Als ,lebensweltliche Schlussfolgerungen‘ soll am Ende diesen Abschnittes all das zusammengefasst werden, was aus der bisherigen Eingrenzung der Thematik für die weitere Untersuchung, für realgesellschaftliche Umstände rückschließend resultiert und in Zuge dessen festzuhalten bleibt. Ferner sollen schon einmal die daraus folgenden Konsequenzen in groben Zügen dargestellt werden, die für die weitere Arbeit von Bedeutung sein werden.

Das Medium Internet kann als eine Art technische Plattform angesehen werden, über die andere Medienformate, gewissermaßen im Mediennetz, als verschlüsselte Datenpakete empfangen und gesendet werden können (vgl. Beck 2010: 17). Die Kommunikationsübertragung ist also wirklich buchstäblich ,codiert‘. Aber nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch (medienabhängig) in inhaltlichen Belangen. In diesem Konnex soll nicht die physikalische Funktionsweise fokussiert werden, sondern sozusagen die ,inhaltliche‘ Ebene. Hierbei ist festzuhalten, dass es sich um eine weitere Entwicklungsstufe von kombinatorisch verwobenen ,Texten‘ als Zeichensysteme handelt (vgl. ebd.: 17 f.). Ein ,Web‘ im wahrsten Sinne des Wortes.

Betrachtet man im Weiteren die Grundlagen auf die es im späteren Verlauf noch ankommen wird, also die Angebote des Web 2.0, wie bspw. u.a. auch Facebook, können dazu bereits ebenso basale Sachverhalte festgehalten werden. Im Grunde handelt es sich auch bei Profilen in sozialen Netzwerken um eine Art von Homepage, was sich u.a. auch darin äußert, dass man das Profil mit einer individuellen URL besetzen kann, den s.g. ,User-Generated-Content‘ auf einer ,Provider-Generated-Surface‘.

Zweifelsohne geht mit einer Verschiebung der lebensweltlichen Realität in virtuelle Welten auch eine Verschiebung der damit zusammenhängenden Deutungsmuster virtueller Interaktion einher. Selbstdarstellung, Kommunikation, Organisation, sprich allgemeine Kulturmerkmale und konkrete Ausprägungen sozialen Lebens, nehmen veränderte Formen an, indoktrinieren unter Rekurrieren bereits vorhandener Deutungsmuster neue Typen von sinnkonstitutiven Gefügen. Sie gilt es zu identifizieren und zu entschlüsseln. Die Dimensionen die zur Entschlüsselung primär herangezogen werden sollen, seien mit Kommunikation und Inszenierung identifiziert und sollen besonders in den späteren Abschnitten vier und fünf behandelt werden.

4. Kommunikation

Kommunikation, welcher Art sie auch immer sein mag, ist der Knotenpunkt von allen (lebendigen) Kollektiven.9 Somit ist sie zentraler und konstitutiver Bestandteil der Gesellschaft und folgerichtig auch der ,Netzgemeinde‘. Doch zunächst sind grundlegende und für diese Arbeit relevante Aspekte der (originär zumeist synchron verlaufenden) Kommunikation zu beleuchten, ohne die auch eine Betrachtung der virtuell vermittelten Interaktion nicht auskommen kann. Dazu wird der systemische Kommunikationsansatz von Niklas Luhmann beleuchtet und hinsichtlich der Online- Interaktion und ihren wesentlichen Dimensionen transformiert. Des Weiteren soll das Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann herangezogen werden. Dies wird vor allen Dingen für eine spätere Untersuchung der Rückkopplung metaproduktioneller Kommunikation in realgesellschaftliche (Kommunikations-)Verhältnisse eine Rolle spielen. In beiden Ansätzen ist jedenfalls das vis-à-vis bzw. die face-to-face Situation die prototypische Ausgangsbasis für weitere kommunikative Prozesse. Außerdem scheint Erving Goffmans Theatermetapher aus „Wir alle spielen Theater“ , auch und gerade in Kombination mit seinem weiterführenden Rahmenmodell, eine lohnenswerte Basis darzustellen. Sie beide sollen ebenfalls beleuchtet und für die Netzumgebung passend transformiert werden.

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels sollen die verschiedenen Interaktionsformen, die via Online-Kommunikation bzw. im Web 2.0 möglich sind, dezidiert dargestellt werden. Darunter fällt sowohl der Modus der öffentlichen, als auch der graduell abgestuften (teil-)öffentlichen Kommunikation mit ihren Unterschieden. Danach wird den Fragen nach der zumeist fehlenden Körperlichkeit der klassisch prototypischen nicht ,face-to-face‘ Kommunikation und den Emotionen nachgegangen. Dieser Abschnitt führt dann direkt zum anknüpfenden Aspekt des Kontextes und der

Konstruktion dessen selbst im (womöglich kontextarmen?) Online-Milieu. Damit soll am Ende eine ausreichende Grundlage kommunikativer Aspekte und ihren Dimensionen dargelegt sein. Doch nun sollen und müssen die erkenntnistheoretischen Grundlagen erst einmal erarbeitet werden.

4.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen

Gesellschaft und Individuum stehen in ständigem dialektischen Verhältnis zueinander, wobei sie sich gegenseitig beeinflussen. Durch die Schnittstellen und ihre Austauschprozesse lassen sich Rückschlüsse auf die Sinnkonstruktion der Realität ziehen, damit diese entschlüsselt werden kann. Dieses Verhältnis ist einem steten Wandel unterzogen, ein Prozess der vornehmlich durch die Entwicklung und Einführung neuer Plattformen und Medien begünstigt sowie beschleunigt werden kann. Das Internet ist eine solche Plattform. Insofern scheint ein grundsätzlicher Blick auf die Theorien von Niklas Luhmann, sowie von Berger und Luckmann und nichtsdestoweniger Erving Goffman sehr lohnend.

4.1.1 N. Luhmann - Systemische Kommunikation

Die Arbeiten des deutschen Soziologen Niklas Luhmann bzgl. kommunikativer und damit verbunden auch systemischer Theorien sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Sie liefern nicht unbedingt per se, jedoch auf/für diesem/s Gebiet fruchtbringend erschlossen eine passende Ausgangsbasis, für die spätere Untersuchung der kommunikativen Sphären digitaler Interaktion. Eine sinnvolle Einordnung kann dann erfolgen, wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt und der Prämisse folgt, dass das Hybridmedium Internet bzw. dieses gesellschaftliche Metaprodukt als ein eigenes System i.S.v. Luhmanns Ausführungen verstanden wird.

Mit Hilfe von Luhmanns Systemtheorie soll die Gesellschaft in all ihrer Komplexität als System von Kommunikation beschreibbar werden und das gesellschaftlich-strukturierte Funktionieren verstehbar werden (vgl. Sanders/Kianty 2006: 266). Kommunikation zeichnet sich durch drei selektive Komponenten aus, die Luhmann mit der Information, dem Mitteilungsakt (die Übertragung der Information) und darüber hinaus auch dem Verstehen (das differenzierte Wahrnehmen von Information und Mitteilung) definiert (vgl. ebd.: 266 & 273). Kommunikation produziert sich permanent im System selbstreferentiell, bleibt dabei dennoch für umweltlichen Anschluss offen (vgl. ebd.: 265).

Wenn man nun das Internet bzw. das Web 2.0, wie anfangs beschrieben, als ein gesellschaftliches Metaprodukt begreift, kann man es ebenso als einen ,Systemüberbau‘, ergo als ein Metasystem ansehen. Natürlich ist hier genauso, auch wenn sie sich in diesem Medium etwas anders verhält, die Kommunikation das sinnkonstitutive Element. Als solches betrachtet, lässt sie sich selbstverständlich auch dahingehend untersuchen.

Luhmann unterscheidet weiterhin drei Systemarten, die er mit organisch, psychisch und sozial betitelt (vgl. ebd.: 266). Die Menschen nehmen über ihr Bewusstsein, in Form vom psychischen System, durch Kommunikation am sozialen System teil (vgl. ebd.: 265 f.). An dem zirkulären Prozess sind mit geringstenfalls Alter und Ego mindestens zwei psychische Systeme beteiligt, die im Kommunikationsverlauf die drei Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen synthetisieren (müssen, um erfolgreich zu sein) (vgl. Ziemann 2008: 159). Diese beiden Systeme sowie der zirkuläre Prozess, bilden für die spätere Betrachtung der dialektischen Identitätskonstruktion eine wichtige Rolle. Erst durch das Verständnis, wobei es keine Rolle spielt was genau letzten Endes verstanden wird, entstehen neue Interaktions- und Handlungsoptionen, was die Kommunikation in der Folge selbst als autopoietisch kennzeichnet (vgl. Brodocz 1998: 185 f.). Zu den Optionen gehört ebenso wie die Annahme auch eine Ablehnung, ergo ein möglicher Abbruch der Kommunikation (vgl. ebd.: 186).10 Individuen werden dem psychischen System mit Gedanken als Operatoren des Bewusstseins untergliedert und stellen in der Systemumwelt eine eigene Klassifikationseinheit dar, die mit dem sozialen System im dialektisch beeinflussenden Verhältnis zueinander stehen und beide strukturell gekoppelt sind (vgl. Miebach 2007: 33 f.). Trotz dieser Kopplung ist das psychisch-neuronale und das soziale System autopoietisch. Ihre Autopoiesis bedeutet, dass sie operativ in sich geschlossen sind und Handlungsabläufe selbstreferentiell ablaufen, m.a.W. sich selbst produzieren bzw. reproduzieren, jedoch aus der systemischen Umwelt durch Irritationen (lediglich) beeinflusst werden können und somit nicht in sie eingreifen, wohl aber Veränderungen im eigenen System hervorrufen (vgl. ebd.: 34 f.). Bezogen auf den vorliegenden Gegenstand ist festzuhalten, dass nun im überbaulichen Sinne eine weitere, oft asynchrone Dimension hinzukommt und weitere Rückkopplungsmechanismen mitbringt und erforderlich macht. Der zuvor als dyadisch beschriebene Prozess erweitert sich demnach strukturell um die dazukommenden Aspekte. Außerdem ist genau hiermit der wechselseitige Prozess beschrieben, wie er auch später in Teil 5.1.1 vorkommt, und der dort bspw. mit ,Objektivation‘ gemeint ist.

Die Grenzen des (jeweiligen) Systems entwickeln sich ebenso autopoietisch, zeichnen ein System gegenüber seiner Umwelt ab und machen sie untereinander unterscheidbar, wobei die autopoietischen Systeme ihre Informationen für ihre Selbst- (re)produktion aus der Umwelt beziehen, d.h. sie sind mit anderen Systemen strukturell gekoppelt und interpenetrieren sich wechselseitig (vgl. Sanders/Kianty 2006: 267). Das bedeutet, dass sich das System operativ autonom und durch autopoietische Elemente innerhalb seiner Grenzen konstituiert, sich jedoch zugleich keineswegs autark, wenn auch different gegenüber seiner Umwelt verhält (vgl. Brodocz 1998: 185). Wiederum bezogen auf das Online-System bedeutet dies einen ungleich intensiveren systemischen Austausch. Das liegt nicht zuletzt auch an der physikalischen Systembeschaffenheit des Internets i.S.v. ,Hybridmedium‘ bzw. ,Plattform‘ als überbauliches Konstrukt selbst.

An Personen, als Elemente ‚kommunikativer Rekonstruktion‘ psychischer Systeme, sind Erwartungen in Form von Rollen (bzw. Normen) geknüpft, die sich als individuelle Merkmale ausdrücken (vgl. Miebach 2007: 35). Aus den Erwartungen können Rollenkonflikte entstehen, die ausgehend vom psychischen System in sozialen Systemen über die Konstruktion der Person kommunikativ greifbar werden (vgl. ebd.: 35). Die individuelle Identität entsteht durch psychisch-systemisch bedingte Ansprüche (vgl. ebd.: 35). „Das soziale System hält Rollen als generalisierte Verhaltenserwartungen bereit, die von unterschiedlichen Personen ausgefüllt werden können.“ (s. Miebach 2007: 35).

Das gilt natürlich ebenso übertragen auf das Online-System, wo Rollen möglicherweise adaptiert werden und was vor allem an den Schnittstellen sehr deutlich wird, aber eben (mittlerweile) auch vermehrt durch Rollenkonflikte der (z.T. verschiedenen?) Avatare selbst. Der Tatsache geschuldet, dass das Internet, wie gezeigt, ein Hybridmedium und technisch plattformhafter Natur ist, möchte ich für den künstlich dargestellten Stellvertreter einer realen Person im Cyberspace, die Internetpersona, den Begriff Avatar verwenden. Kommunikation als Problemlösung verstanden, bedeutet umgemünzt auf das Internet, dass es Probleme einer defizitären Informationslage und das Erreichen von Adressaten lösen kann (vgl. Ziemann 2008: 160 f.). Bei der Netzkommunikation und -inszenierung ergibt sich allerdings durch die schwierige Prüf- und Nachvollziehbarkeit von Authentizität ein basales ,Vertrauens-Dilemma‘11, welches ursächlich nur durch einen Perspektiv-/Systemwechsel, also lebensweltlicher Rückkopplung im Grundsatz gelöst werden kann. Annäherungsweise ist dies bereits, wie gesagt, auch über die Avatare im Online-Milieu möglich. Diese Problematik wird jedenfalls dadurch verstärkt, indem die Nutzer in diverse Rollen schlüpfen und so verschiedene Identitäten ausprobieren können. Durch die Online verschiedenartig angebotenen bzw. dargebotenen Normen, werden gleichzeitig Verpflichtungen und Erwartungen an die Avatare - bzw. Schöpfer ebendieser - und Inhaber von Online- Rollen herangetragen. Und gerade auch in der jüngsten Evolutionsstufe im Netz, dem Web 2.0 mit den systemimmanenten sozialen Netzwerken wie z.B. Facebook und Google+, kann dem Dilemma (zumindest in Ansätzen) abgeholfen werden.

Psychische Systeme sind nach Luhmann nicht fassbar, können allerdings dahingehend untersucht werden, indem man ihre Kommunikation als bzw. zwischen Personen innerhalb der sozialen Systeme zum Gegenstand macht (vgl. Miebach 2007: 36). Personen und schließlich auch ihre Avatare sind auf lange Zeit gesehen identitätsbedingt möglicherweise eben doch erstaunlich konstant, weshalb ein Blick auf die retrospektiven und gleichzeitig prognostizierenden Motivlagen und deren ständige Erneuerung, gleichermaßen als systemisches Gedächtnis und Lern-Pool, mit all seinen Konsequenzen herangezogen werden könnte (vgl. ebd.: 36 f.). Das deshalb, weil die diversen personenbezogenen Motivlagen die systemische Kommunikation in prekärer Weise beeinflussen (vgl. ebd.: 38). Motive sind nach Luhmann „Formen der Kommunikation, explizite oder implizite Zuweisung von Gründen für bestimmte Handlungen.“ (s. Luhmann 2006: 94 f.). Im Online-System muss die identitäre Konstanz jedoch definitiv relativiert werden. In dem System verhält es sich demnach nicht ganz so einfach, denn durch die vermeintliche ,Kontextarmut‘12 und den spielerischen Umgang mit Identität und ihren Facetten, sind neben der Konstanz auch die Motivlagen vor allem kurzfristig, nicht unbedingt einfach auszumachen bzw. zu interpretieren.

Neben dem Kommunikationsaspekt ist nach Luhmann ein nächster Mitgliedschaftsfaktor die Integration, wodurch sich soziale und psychische Systeme ihren Freiraum zur Autopoiesis wahren und welche eine reziproke Schmälerung der systemischen Freiheiten meint (vgl. Miebach 2007: 38). Indirekt werden somit die Operationsopportunitäten der (beiden) Systeme eingeschränkt, woraus sich jedoch Freiheitsgrade für die Mitglieder ergeben (vgl. ebd.: 38). Integration in einem System wie bspw. Facebook hat einen prozesshaften Charakter, der mit dem Startpunkt Registrierung seinen Lauf nimmt, damit aber nicht gleichzusetzen ist.

Die verschiedenen Systeme stellen daneben ihre eigenen Identitäten durch Abgrenzung gegenüber ihrer Umwelt her, was im Falle des Internet nicht ganz einfach erscheint, denn produziert sich ein solches System zwar einerseits autopoietisch und rekursiv-geschlossen, doch dies über die Kommunikation ihrer Mitglieder, wobei die Bestimmung der Mitgliedschaft(en) selbst nicht ganz ersichtlich und unter Rücksichtnahme eben zunehmend verschwimmender Abgrenzungen problematisch bleibt (vgl. Preisendörfer 2005: 60). Dabei wäre die Frage nach den Akteuren (Identitäten), trotz der damit verbundenen Problematik der Grenzziehung für eine empirische Untersuchung signifikant (vgl. ebd.: 61).

Eine Entscheidung läuft nach Luhmann ebenfalls über Kommunikation ab und ist demnach die gewählte Handlungsoption zu der es auch bekannte Alternativen gegeben hätte, wobei bspw. Gruppendynamiken o.ä. an ihnen untersucht werden können und das auch hinsichtlich ihrer situativen Handlungsalternativen (zu einer Zielerreichung, sofern diese vorhanden und erkenntlich ist) (vgl. Sanders/Kianty: 275). Auch das Online-System (re-)produziert sich selbst und ist operativ geschlossen, wodurch sich ein operationaler Raum und relative Autonomie gegenüber der äußeren Umwelt ergeben und wodurch das Internet in Gänze gewissermaßen stabil ist (vgl. ebd.: 276). Weiterhin sind die selbstreferentiellen Ziele, z.B. in Gruppen bzw. s.g. ,Communities‘, konkretisierte Formen von Sinn(-gebung) (vgl. ebd.: 278). Darüber hinaus hat Kommunikation auch immer mit mehr oder minder offensichtlichen Machtverhältnissen zu tun, die es auch genauso wie (vor-)gegebene Rollen, vermögen, Handlungen (vor) zu strukturieren (vgl. Brodocz 1998: 187 ff.).13

Ob ein System vorliegt bestimmt sich durch die Relationen bzw. die Verknüpfungen, welche in der Online-Kommunikation durch die wechselseitigen Interaktionen bestimmt werden und man in dem Fall von einer doppelten Kontingenz sprechen kann (vgl. Sanders/Kianty: 270). Ihre Umwelt beeinflusst eine Person, ein Avatar oder eine Gruppe nur dann, wenn daraus Ereignisse in der Kommunikation der Mitglieder beachtet werden, die Gruppe somit von der Umwelt ‚irritiert‘ wird (vgl. ebd.:

[...]


1 Eine differenziertere Betrachtung bzgl. der Mediendarstellung und Einteilung in erste und zweite Ordnung von Internet findet sich bei u.a. bei Beck 2010: 19 f..

2 Das was ich in dieser Arbeit als ʻKombinatorikʻ der Medien bzw. ,Hybridmediumʻ (i.S.v. Internet als Plattform verschiedener, kombiniert simulierter Medien) auf Metaebene meine, wird in der medientheoretischen Literatur vielfach diskutiert und dort u.a. auch als „Meta- Intermedialität“ (Beate Ochsner), „Transmedialität“ (Roberto Simanowski) oder „Inframedialität“ (Michael Wetzel) bezeichnet (vgl. Blättler et. al. 2010: 7 ff. & 41 ff.). Eine weitere Vertiefung in den Diskurs der Medien- und Intermedialitätstheoretiker -die auf andere Aspekte abzielen- und die damit verbundenen Folgen, würden jedoch zu weit von den hier vorliegenden Absichten entfernen, ohne das eine solche einen entsprechenden Nutzen für das Feld zu versprechen vermag. Es geht nicht um diverse Medienspezifika, vielmehr um das, was sich über ebenjene interaktionistisch vollzieht. Dennoch sei die alleinige Schwierigkeit einer Einordnung des digitalen, transformierten und überlappenden Gegenstandes der Inter(net) medien erwähnt.

3 In gewisser Weise sind die individuellen Nutzerprofile wie sie bei Facebook & Co. üblich sind, nichts anderes als ein Konglomerat vernetzter Homepages, wobei der Aspekt der Vernetzung die entscheidende Rolle spielt. So war eine private Homepage vor den Zeiten von ,Social Mediaʻ meist nur ein Sandkorn in der unendlichen Wüste digitaler Präsenz, was sich durch die Plattform empfindlich geändert hat.

4 Außerdem ist der Begriff an sich problematisch und zu Teilen irreführend, aber dazu mehr in Kapitel 3 bzw. 3.3.

5 Zur Begriffsklärung s. Abschnitt 3.1.

6 Dazu muss erwähnt werden, dass das Internet trotzdem (und immer noch) ein in mehrfacher Hinsicht exkludierendes Medium ist. Seine Zugangsvoraussetzungen machen in erster Linie sowohl finanzielle, als auch infrastrukturelle und technische Gegebenheiten und Fähigkeiten erforderlich. Es sei hinzugefügt, dass das Internet für einige Akteure nahezu omnipräsent ist, und für manche ist der digitale ,Datenhighwayʻ gar zur Sucht geworden.

7 Nicht das sich via Internet Vollziehendes nicht Realität ist, sogar sehr wohl ein Teil, ein virtueller Teil der Realität ist. Dennoch bedarf es einer (begrifflichen) Abgrenzung.

8 Dazu vgl. Behrendt/Zeppenfeld 2008: 10.

9 Daneben existiert noch eine andere Dimension von computervermittelter Kommunikation, die mit Mensch-Agent-ʻInteraktionʻ z.B. via Embodied Conversational Agents (ECA) identifiziert ist und bspw. von Antonia Krummheuer (2008) und Chris Stary (2008) untersuchen, hier jedoch lediglich erwähnt werden soll. Dabei treten Mensch und Maschine in Interaktion. Diese Sphäre muss allerdings i.S. der hier vorliegenden Absichten vernachlässigt werden.

10 Daraus resultiert, so Brodocz weiter, ein Moment der Macht innerhalb der Kommunikation, welches gewisse Folgehandlungen implementieren kann, aber nicht muss. Eine zu weite Vertiefung hinsichtlich einer „mächtige(n) Kommunikation“ (s. Brodocz 1998: 187), soll hier jedoch nicht erfolgen, da sie einerseits im Online-Milieu schwierig auszumachen ist und andererseits nicht im Fokus stehen soll.

11 Dazu mehr in Abschnitt 4.3.

12 Ausführlicher dazu in Teil 4.6.

13 In diesem Zusammenhang soll der Verweis auf den genannten Konnex reichen. Für eine genauere Darstellung s. Brodocz 1998: 187 ff..

Fin de l'extrait de 95 pages

Résumé des informations

Titre
Kommunikation und Inszenierung im Web 2.0
Université
Justus-Liebig-University Giessen
Note
1,0
Auteur
Année
2013
Pages
95
N° de catalogue
V230070
ISBN (ebook)
9783656453482
ISBN (Livre)
9783656453949
Taille d'un fichier
743 KB
Langue
allemand
Mots clés
Kommunikation, Inszenierung, Identität, Social Media
Citation du texte
Rainer Brandenburg (Auteur), 2013, Kommunikation und Inszenierung im Web 2.0, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230070

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Kommunikation und Inszenierung im Web 2.0



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur