Soziale Rollen von Mann und Frau

Konstruktion der Geschlechtsrollen


Dossier / Travail, 1997

34 Pages, Note: 1


Extrait


Gliederung

Einleitung

1.0. Geschlecht und Geschlechtsrolle

2.0. Grundlagen und Entstehungsbedingungen von Geschlechtsrollen
2.1. Soziale Rolle und Schöpfungsgedanke
2.2. Soziale Rolle und Religion
▸ Die Stellung der Frau im frühen Christentum (1. Jh. n. Chr.)
▸ Weiblicher Status im frühen Mittelalter (4./5. Jh.)
▸ Hexenverfolgung (15. bis 18. Jh.)

3.0. Generierung eines sozialen Geschlechtsrollenkonzeptes ab dem 18. Jh.
3.1. Legitimationszwang: Entstehung eines neuen Orientierungsmusters
3.2. Herausbildung eines bürgerlichen Ideals für Mann und Frau
3.3. Mann und Frau als Gegenpole
3.4. Spezifische Wesenszuschreibungen im neuen Geschlechterverhältnis
3.5. Konstruktion der sexuellen geschlechtsrolle
3.6. 'Bem-Sex-Role-Inventory'

4.0. Reproduktion von Geschlechtsrollen
4.1. Geschlechtsspezifische Erziehung
4.2. Ausgrenzung der Frau von Bildung und Wissenschaft

5.0. Gegenentwicklungen - Organisierte Frauenbewegung in Deutschland
5.1. Der Beginn des Feminismus in Europa
5.2. Frauenbewegung in Deutschland
5.2.1. Die bürgerliche Frauenbewegung
5.2.2. Die proletarische Frauenbewegung
5.2.3. Rückschritt und Wiederbeginn
5.2.4. Die 'neue' Frauenbewegung
5.2.5. Männer in Bewegung?

6.0. Soziale Rollen von Mann und Frau: Eine kritische Betrachtung
6.1. Konstruktive Aspekte
6.2. Destruktive Aspekte
▸ Festlegung der Persönlichkeit via Geschlecht
▸ Das schwache Geschlecht: Bewertung der weiblichen Geschlechtsrolle
▸ Das starke Geschlecht: Die Bürde der männlichen Geschlechtsrolle
▸ Geschlechtsspezifische Erziehung und Bildung
▸ Sexismus und doppelte Moral
▸ Soziale Geschlechtsrolle und Identitätsverwirrungen

7.0. Ausblick

Literaturverzeichnis

Die sozialen Rollen von Mann und Frau

'Gefesselt an sein evolutionäres Erbe, gesteuert vom Diktat der Gene und Hormone, irrt der Mensch in seinem Triebleben umher', so zeichnet DER SPIEGEL in seiner Ausgabe vom Mai 1995 provokativ das Bild eines von biologischen Zwängen in seiner Entwicklung gefangenen Menschen. Ein biologischer Fundamentalismus, der aus den Ergebnissen neuerer Genforschung erneut Nahrung zu erhalten scheint, dessen Wurzeln jedoch weiter zurückreichen.

Bereits im 18. Jahrhundert wurde ein biologistisch geprägtes Denkmodell, das bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen von Menschen auf eine genetische Determination desselben zurückführt, im Bürgertum aufgegriffen. Damals diente es zur Generierung eines neuen bürgerlichen Familien- und Rollenverständnisses und rückte sog. 'geschlechtsspezifische Wesensmerkmale' von Mann und Frau in den Mittelpunkt des Interesses.

Die Zuweisung komplementärer Eigenschaften führte nach Hausen (1976) zu einer 'Polarisierung der Geschlechtscharaktere', die bis in die Gegenwart hinein zur Prägung geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens führt. Gerade die Selbverständlichkeit, mit der dieses Rollenverständnis über Generationen weitergegeben wurde, macht neugierig auf seine Entstehung, Funktion und die Konsequenzen für die sich an diesem Modell orientierenden Menschen einer Gesellschaft. Diesen Fragen soll in den folgenden Ausführungen nachgegangen werden.

1.0. Geschlecht und Geschlechtsrolle

Der Begriff 'Rolle' wird im Fachlexikon der sozialen Arbeit (1986) allgemein definiert als 'die Gesamtheit der mit einer sozialen Position verknüpften gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen. Als Träger sozialer Rollen orientiert sich das Individuum an diesen gesellschaftlichen Rollenanforderungen.'

Bereits in sehr frühem Alter lernen Mädchen und Jungen, sich mit dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zu identifizieren. Parallel hierzu entwickeln sie bereits Muster, sich in bestimmten Situationen 'wie ein Mann' oder 'wie eine Frau' zu benehmen, das heißt, die Ausprägung ihrer männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle zu verinnerlichen.

Die Geschlechtsrolle als Baustein der gesellschaftlichen Rolle und als sozial geprägtem Bestandteil der Sexualität eines Menschen, kann nach Money (aus: Haeberle 1983) folgendermaßen umschrieben werden:

'Alle die Dinge, die ein Mensch sagt oder tut, um sich, je nachdem, als Junge oder Mann, Mädchen oder Frau darzustellen. Das schließt Sexualität im Sinne von Erotik ein, ist aber nicht darauf beschränkt. Die Geschlechtsrolle wird nicht bei der Geburt festgelegt, sondern nach und nach durch Erfahrungen aufgebaut und vervollständigt; das geschieht durch zufälliges und ungeplantes Lernen, durch gezieltes Unterweisen und Verschärfen.'

Die Übereinstimmung mit bestimmten gelernten psychischen Eigenschaften bestimmt die Geschlechtsrolle, die Maskulinität bzw. Femininität eines Menschen. In der Regel übernimmt die Mehrheit der Menschen die ihrem biologischen Geschlecht entsprechende soziale Geschlechtsrolle. Männer oder Frauen sind in dem Maße maskulin oder feminin, wie ihr Charakter und ihr Verhalten in Einklang mit bestimmten kulturellen und sozialen Normen ist. Dagegen steht die Geschlechtsrolle beim Transvestismus und bei der Transsexualität im Widerspruch zum biologischen Geschlecht.

Kann bei der Geschlechtsrolle allgemein von einem eher maskulinen bzw. femininen Verhalten gesprochen werden, so soll an dieser Stelle auch auf die zwei möglichen Blickwinkel hingewiesen werden, nach welchen die Übernahme eines Rollenkonzeptes jeweils beurteilt werden kann. Jede Rolle kann aus zwei Perspektiven, entweder nach Einschätzung der Person selbst (Selbstbild) oder nach den Bewertungskriterien der Umwelt (Fremdbild), betrachtet und bewertet werden. Haeberle (1983, S. 312) spricht in diesem Zusammenhang von

- der Geschlechtsrolle (männliche oder weibliche soziale Rolle) und
- der Geschlechtsidentität (der Einschätzung der eigenen Person als maskulin oder feminin) eines Menschen.

Nachfolgend wird die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Aspekten in den Hintergrund treten, die Ausführungen beziehen sich auf die umfassenderen Begriffe von Geschlecht und Geschlechtsrolle.

Neben diesem Prozeß der sozialen Typisierung von Mann und Frau unterscheidet Haeberle in seinem Handbuch 'Die Sexualität des Menschen' (1983, S. 310) weitere zwei Aspekte, die bei der Betrachtung der sexuellen Entwicklung des Menschen Berücksichtigung finden müssen: Das biologische Geschlecht, d.h. die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit eines Menschen, läßt sich bis auf wenige Ausnahmen (z.B. bei Hermaphroditismus) auf der Basis von körperlichen Kriterien (Geschlechtsorgane, Chromosomen, Hormonspiegel, Gonaden) eindeutig bestimmen.

Bestimmte Vorlieben für sexuelle Partner definieren dagegen die sexuelle Orientierung eines Menschen, welche sich als Heterosexualität, Homosexualität oder Ambisexualität definieren läßt.

Sowohl biologisches Geschlecht, als auch die sexuelle Orientierung und die soziale Geschlechtsrolle können in den unterschiedlichsten 'Zwischentönen' entwickelt werden und ermöglichen somit eine breite Palette verschiendenartigster Ausprägungen der menschlichen Sexualität.

2.0. Grundlagen und Entstehungsbedingungen von Geschlechtsrollen

Der Mensch wird als soziales Wesen immer auch von den Gegebenheiten der Kultur mitgeprägt, in der er lebt. So sind auch Grundeinstellungen zur Sexualität immer von der jeweiligen Gesellschaft mitgeprägt und spiegeln Normen und Werte dieser sozialen Gruppe wider.

Von Interesse scheint in diesem Zusammenhang v.a. die Frage zu sein, worin eine Gesellschaft die Grundlage, den wahren Sinn von Sexualität und der sie umgebenden Werte und Rollennormen sieht und welche Konsequenzen, welche Bedeutung diese Rollendefinitionen für den einzelnen Menschen in der Gesellschaft haben.

2.1. Soziale Rolle und Schöpfungsgedanke

Es ist nicht bekannt, wann Menschen erstmals der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft bewußt wurde. In der Wissenschaft wird allerdings davon ausgegangen, daß dies schon vor relativ langer Zeit geschah und die unterschiedlichen Völker jeweils unterschiedliche Konsequenzen aus dieser Entdeckung ableiteten (Haeberle 1983, S. 318, Meier-Seethaler 1992).

Die Bewertungen, welche Rolle dem männlichen bzw. weiblichen Geschlecht am Fortbestehen der Menschheit zukam, variierten zum Teil sehr stark. Wurde in manchen Gesellschaften der weibliche Anteil am Zustandekommen neuen Lebens besonders groß gehalten, wurde Frauen in anderen Erdteilen eine eher untergeordnete Rolle zugesprochen. Fast in der gesamten Antike weiß man beispielsweise von Huldigungen großer lebensspendender Fruchtbarkeitsgöttinnen, wie es z.B. von Istar in Babylon, Astarte in Phönizien oder von Isis in Ägyten überliefert wurde. In unserer westlichen Zivilisation wurde bei der Fortpflanzung v.a. der männliche Beitrag als entscheidend angesehen, der weibliche Körper galt lediglich als 'Gefäß für den Lebenssaft' des Mannes, als 'passiver Nährboden, auf dem die Männer ihren Samen aussäten' (Haeberle 1983, S.318). Hierbei wurde von der Vorstellung ausgegangen, jeder Tropfen Samen enthalte ein 'winziges Menschenwesen (=Homunculus), das nach seiner Ablagerung im Leib der Frau wie eine Blume im Blumenbeet heranwachse' (Haeberle 1983, S. 318). Während sich Männer so als 'Schöpfer des Lebens' definieren konnten, wurden Frauen in eine eher untergeordnete Stellung gebracht, ihre Kinder gehörten in Wirklichkeit den männlichen Befruchtern.

Männer als Schöpfer, Frauen als Gefäße - diese Vorstellungen über Fortpflanzung spiegelten sich auch in der alttestamentlichen Religion wider, in welcher die großen weiblichen Gottheiten nach und nach von männlichen Ebenbildern übernommen wurden.

2.2. Soziale Rolle und Religion

Eine weitere Komponente - von jeher untrennbar mit Sexualität verknüpft - stellt die Religion und damit ein großer Teil der herrschenden Werte und Normen einer Gesellschaft dar. In der Religion offenbart sich meist sehr deutlich die Bedeutung der Sexualität und der mit ihr in Zusammenhang stehenden Geschlechtsrolle.

Immense Auswirkungen auf die Geschichte der westlichen Zivilisation hatte ein 'neuer' Glaube, der unter den hebräischen Nomaden Gestalt annahm und dessen Grundpfeiler sich später eng mit dem Christentum verknüpften: es war der Glaube an den männlichen Gott Jahwe, den Schöpfer der Welt und des ersten Menschen Adam. Eva dagegen, aus Adams Rippe ihm zur Gefährtin erschaffen und im Paradies für den Sündenfall verantwortlich gemacht, wurde ihrer kreativen 'Schöpferrolle' beraubt und - mit ihr das gesamte Geschlecht der Frauen - ein niederer sozialer Status in der jüdisch-christlichen Geschichte zugewiesen. Dies kommt beispielsweise in alten jüdischen Gebeten zum Ausdruck, wenn Gott 'gepriesen (wird), daß er mich nicht als Weib erschaffen hat' (Haeberle 1983, S. 319).

Sahen die alten Israeliten die natürliche Bestimmung der Sexualität in der Fortpflanzung, wurde sie im frühen Christentum in Anbetracht der asketisch erwarteten Wiederkunft Christi eher als notwendiges Übel angesehen. Besonders tugendhaft galt demnach die sexuelle Abstinenz. Grundüberzeugungen, die sich hieraus ableiteten (sex. Handlungen nur innerhalb der Ehe und wenn sie zu einer Schwangerschaft führen können) blieben lange Zeit gesellschaftlich unangetastet und akzeptiert

▸ Die Stellung der Frau im frühen Christentum (1. Jahrhundert nach Christus)

Die Christianisierung Europas veränderte den Status der Frau in der Gesellschaft keinesfalls. Ohne Mitspracherecht in öffentlichen oder religiösen Angelegenheiten galten sie weiterhin als minderwertiges Geschlecht, das 'sittsam und anständig' in den Gemeinden geduldet wurde. Besonders Apostel Paulus brachte diese Sichtweise zur Stellung der Frau in der Gemeinde in seinen Briefen an die Korinther deutlich zum Ausdruck, wenn er schreibt (Haeberle 1983, S. 319):

''Ich lasse euch aber wissen, daß Christus ist eines jeglichen Mannes Haupt; der Mann aber ist des Weibes Haupt ... der Mann aber ist Gottes Bild und Ehre; das Weib aber ist des Mannes Ehre. Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne.' (1. Korinther 11; 3-9) '... lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es stehet den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.' (1. Korinther 14; 34-35)

▸ Weiblicher Status im frühen Mittelalter (4./5. Jh.)

Kirchenvater Augustinus (430 n. Chr.) bezeichnete die Geschlechtsorgane gar als 'obszöne Teile' und 'fleischliche Wünsche' mit unverhohlener Abscheu und spricht in seinem Werk 'Gottesstaat' über die 'Scham, die jedem Geschlechtsverkehr innewohnt' (Haeberle 1983, S. 319, Kinder & Hilgemann 1982).

Auch für die Vorstellung der Frau als Verführerin und 'sexuell unersättlichem Tier, das den Opfern die lebenserhaltenden Säfte entzieht und es in ewige Verdammnis führt' (Haeberle, S. 319), lieferte die Bibel im alten Testament das entsprechende Basismaterial. So wurde in frauenverächtlichen Reden gerne auf folgenden Auszug des Prediger Salomon zurückgegriffen:

''... und fand, daß bitterer sei denn der Tod ein solches Weib, dessen Herz Netz und Strick ist und deren Hände Bande sind. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen.' (Prediger 7; 26)

▸ Hexenverfolgung (15. bis 18. Jh.)

Gestützt auf die sog. Hexenbulle von Innozenz VIII. (1484) und die 1484 entworfene Prozeßordnung 'Malleus Maleficarum' (der Hexenhammer) der Kölner Dominikaner Institorius und Sprenger schlägt die Angst vor der Frau als Verführerin in offene Aggression um und mündet in einen Hexenwahn, dem bis zum 18. Jahrhundert über 1 Million Frauen zum Opfer fallen (vgl. Kinder & Hilgemann 1982). Ein Auszug aus der Kölner Abhandlung über Hexerei spiegelt die Feindseligkeit und Furcht vor der Frau wider:

'Was sonst ist die Frau, als ein Widersacher der Freundschaft, eine unentrinnbare Strafe, ein notwendiges Übel, eine natürliche Versuchung ... ein Übel der Natur, gemalt in schönen Farben! ... Intellektuell sind Frauen wie Kinder .. ein natürlicher Grund ist, daß Frauen fleischlicher sind als Männer ... Und es sollte beachtet werden, daß bei der Gestaltung der ersten Frau ein Fehler gemacht wurde, denn sie wurde aus einer krummen Rippe geformt, das heißt einer Brustrippe, die so gekrümmt ist, daß sie in die entgegengesetzte Richtung des Mannes weist. Da sie aber durch diesen Mangel ein fehlerhaftes Tier ist, täuscht sie immer. Frauen haben auch ein schlechtes Gedächtnis und ihnen wohnt ein natürlicher Feind inne, der nicht zu züchtigen ist' (aus: Haeberle 1983, S. 320).

Erst im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, bewirken Philosophen und Schriftsteller das Verschwinden der Angst vor der Frau. Das gesellschaftliche Bild der Frau wandelt sich und sieht in ihr nun mehr und mehr die erfreuliche und nützliche Gefährtin des Mannes, der Bewunderung und Höflichkeit - wenngleich nicht Gleichwertigkeit - entgegengebracht werden soll.

3.0. Generierung eines sozialen Geschlechtsrollenkonzeptes im 18. Jahrhundert

Die Typisierung der männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle, von Hausen (1976) auch als eine 'Polarisierung der Geschlechtscharaktere' bezeichnet, stellt mittlerweile eine gängige Bezeichnung für eine Theorie dar, die im 18. Jahrhundert v.a. von der bürgerlichen Bewegung her konstituiert wurde. Die darin proklamierte Arbeitsteilung von Mann und Frau gab es zwar auch in früheren Jahrhunderten, jedoch mit dem großen Unterschied, daß spezifische Aufgaben - bis auf wenige Ausnahmen, wie das Stillen - nicht am Geschlecht festgemacht wurden. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge einer 'Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben' (Hausen 1976) konnte diese Idee, die in engem Zusammenhang mit den sozialen Entwicklungen im Bürgertum gesehen werden muß, auf bereiten Boden fallen.

3.1. Legitimationszwang: Entstehung eines neuen Orientierungsmusters

Der Begriff 'Geschlechtscharaktere' bildete sich im 18. Jahrhundert heraus und wurde im 19. Jahrhundert allgemein verwandt, um die 'mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale zu bezeichnen' (Hausen 1976). Schon damals war man bestrebt, die Natur bzw. das Wesen von Mann und Frau zu erfassen, gegeneinander abzugrenzen und in ein Ordnungsschema zu bringen.

Im Rahmen der Neuordnung der Geschlechterbeziehungen, bei welcher ganz im Sinne der Aufklärung und der Ideen der französischen Revolution auch eine Gleichstellung und -wertigkeit von Mann und Frau gefordert wurde, stand 'Mann' plötzlich auch vor einem Legitimationszwang für die männliche Herrschaft, das Sexualmonopol und die Unauflösbarkeit der Ehe. Die Neuinterpretation der sozialen und räumlichen Position der Frau, eine Emanzipation aus dem ehemännlichen Regiment und eine gleichberechtigte Integration der Frau in die bürgerliche Gesellschaft wurde jedoch als Bedrohung der etablierten Ordnung und spezifischen Familienverhältnisse gesehen.

Intention war daher - entgegen aufklärerischen Einflüssen - ein System zu entwerfen, das die im Alltag des 'ganzen Hauses' schon vielfach praktizierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Rollenzuschreibung normativ aufrechterhalten und neu legitimieren sollte. Prädestiniert für diese wegweisende Aufgabe schien in dieser gesellschaftlichen Umbruchssituation vor allem das Großbürgertum zu sein. Um die Entfaltung der weiblichen Persönlichkeit mit zugleich wünschenswerten Ehe- und Familienverhältnissen zu verbinden, bot die 'Polaristische Geschlechterphilosophie' eine ideale, weil 'naturgegebene', Grundlage, die demnach auch sehr schnell ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte und bei der Entwicklung des neuen Liebes- und Eheideals grundlegende Funktion innehatte.

Ziel war es, 'den nach der göttlichen Weltordnung für Mann und Frau verschiedenen Naturzweck und die dementsprechend von der Natur eingerichteten und verschiedenen Naturbegabungen herauszuarbeiten' (Hausen 1976). In der Literatur taucht 1789 die von J.H. Campe (aus: Hausen 1976) verwendete Formel von der 'Bestimmung des Weibes zur Gattin, Hausfrau und Mutter' auf, die fortan für die Mädchenerzeihung wegweisend sein wird.

3.2. Herausbildung eines bürgerlichen Ideals für Mann und Frau

Die Bezeichnung 'Geschlechtscharaktere' ist in zahlreichen Abhandlungen bis ins 20. Jahrhundert hinein unter Stichwörtern wie 'Geschlechtstypologie', '- spezifika', 'Weib', 'Geschlecht' u.ä. zu finden. Zwei Lexikonauszüge, fast 100 Jahre liegen zwischen ihnen, sollen an dieser Stelle das damals für selbstverständlich gehaltene unterschiedliche Wesen von Mann und Frau kurz skizzieren. Folgende Abhandlung, entnommen aus dem Brockhaus von 1815, verdeutlicht die grundlegende Unterscheidung von männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen:

'Daher offenbart sich in der Form des Mannes mehr die Idee der Kraft, in der Form des Weibes mehr die Idee der Schönheit Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aus sich heraus in das Weite hineinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Plänen geneigter; unter den Leidenschaften und Affecten gehören die raschen, ausbrechenden dem Mann, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten' (aus: Hausen 1976).

Unter dem Stichwort 'Geschlechtseigentümlichkeiten' kann man 1904 - fast ein Jahrhundert später - in Meyer's Großem Konversationslexikon (aus: Hausen 1976) folgenden Kommentar zu psychischen Unterschieden nachlesen:

'Auch psychische Geschlechtseigentümlichkeiten finden sich vor; beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand; die Phantasie des Weibes ist lebhafter als die des Mannes, erreicht aber seltener die Höhe und Kühnheit wie bei letzterem.'

Diese pseudowissenschaftlichen Ausführungen dienten u.a. als Grundlage für die Herausbildung eines bürgerlichen Familienideals mit normativen Vorstellungen und Zuweisungen für die Rolle des Mannes und der Frau in der Gesellschaft.

Ähnliche Vorstellungen und Wesenszuschreibungen von Mann und Frau haben sich bis weit hinein in unser 20. Jahrhundert behaupten können und nehmen - mehr oder weniger bewußt - nach wie vor Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklungsbedingungen von Jungen und Mädchen. So beschreibt Seelmann 1970 die Rolle von Vater und Mutter in seinem 'kleinen Buch zum Vor- und Selberlesen für 9 bis 14-jährige Mädchen und Buben' ganz im Sinne der 'Polarisation von Geschlechtscharakteren'. Ein Auszug zur Position des Vaters in der Familie soll hier in gekürzter Form wiedergegeben werden:

'Der Vater hat noch etwas sehr Wichtiges zu leisten: er geht zur Arbeit und verdient das Geld, wovon die Familie lebt... Der Vater sichert damit das tägliche Leben für alle.. Er denkt über eure Zukunft nach und paßt auf, was für Begabungen bei euch sichtbar werden... Er macht mit euch Ausflüge Der Vater wird oft von den Kindern nicht so geliebt...Aber man hat ihn in anderer Weise gern. Man schätzt sein Wissen und seine Gerechtigkeit. Fast immer ist der Vater sportlicher als die Mutter. Er ist der Mann der öffentlichen Welt. Er arbeitet außerhalb der Familie. Deshalb weiß er von vielen Dingen der großen Welt, vom Berufsleben, von der Politik usw. meist besser Bescheid als die Mutter... Er hat schon viel gesehen und erlebt und hat sich viele Gedanken darüber gemacht... Wenn er gut aufgelegt ist, läßt er leicht einmal ein paar Mark springen und ist oft großzügiger als die sparsame Mama...Vielleicht entschuldigt die Mutter leichter und verteidigt das Kind vor dem Vater. Er aber sieht wie der Richter das übertretene Gesetz und redet dann ernste Sätze mit Sohn und Tochter und straft auch, weil er seine Kinder zu richtigen Menschen erziehen will...So ist die Mutter unsere Vertraute und der Vater unser Vorbild. Von der Mutter lernt man das Lieben und Einfühlen, vom Vater das Denken und Sich-Beherrschen. Der Vater sorgt für unsere Lebenssicherheit und das Geld; die Mutter aber bringt es fertig, daß es bei uns zuhause recht gemütlich und erfreulich ist und daß sich alle wohl fühlen'

3.3. Mann und Frau als Gegenpole

Ausgehend von einer naturgegebenen 'Entgegensetzung zusammengehöriger und zu gemeinschaftlichem Produktionszweck wirkender Kräfte' (Hausen 1976) im Tierreich wurde synonym hierzu ein ähnliches Kontrastprogramm für den Menschen entworfen, das geschlechtsspezifische Zuschreibungen für Mann und Frau vorsieht. Dieses Aussagesystem geht von einer naturgegebenen Rollenteilung aus, bei welcher dem Mann, der für das öffentliche Leben bestimmt ist, jeweils die Aufgabe der gesellschaftlichen Produktion zukommt, welche er nur mit seiner geschlechtstypischen Aktivität und Rationalität zu bewältigen vermag. Demgegenüber steht die Frau, die zur privaten Reproduktion im häuslichen Bereich bestimmt ist und deren Wesen eher als passiv und emotional beschrieben werden kann.

Eine Zusammenstellung der polarisierten Merkmalsgruppen, jeweils nach männlich und weiblich differenziert, findet sich im Anschluß wieder. Sie ist den Ausführungen von Hausen (1976) entnommen, die Abhandlungen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen sowie 'diverse Lexika' nach dieser Polarisierung durchforstet hat und zu folgender Aufstellung (Tab. 1) gelangt ist:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1 - Zusammenstellung häufig beschriebener Geschlechtsspezifika nach Merkmalsgruppen (Hausen 1976)

[...]

Fin de l'extrait de 34 pages

Résumé des informations

Titre
Soziale Rollen von Mann und Frau
Sous-titre
Konstruktion der Geschlechtsrollen
Université
University of Bamberg
Cours
Sexualität: Geschlechtsrollen
Note
1
Auteur
Année
1997
Pages
34
N° de catalogue
V230705
ISBN (ebook)
9783656475361
ISBN (Livre)
9783656476443
Taille d'un fichier
591 KB
Langue
allemand
Mots clés
soziale Rollen, Mann und Frau;, bürgerliches Rollenideal;, soziales Geschlecht;, biologisches Geschlecht;, Gender;, Geschlechtsrollen;, soziales Geschlechtsrollenkonzept;, bürgerliches Ideal;, Mann und Frau als Gegenpole;, geschlechtsspezifische Wesenszuschreibungen;, Konstruktion der Geschlechtsrolle;, Bem-Sex-Role-Inventory;, Reproduktion von Geschlechtsrollen;, geschlechtsspezifische erziehung;, Frauenbewegung in Deutschland
Citation du texte
Ulrike Roppelt (Auteur), 1997, Soziale Rollen von Mann und Frau, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230705

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