Eine Interpretation der ersten Szene "Verhaftung" aus "Der Proceß" von franz Kafka mit Einbeziehung der sprachlichen und erzählerischen Mittel. Untersucht wird u.a. das Verhalten der einzelnen Personen, die Denkweise Josef K.s, die Eigenarten der Verhaftung und die Frage nach der Schuld.
Kafka, Der Proceß: Interpretationsaufsatz zur ersten Szene „Verhaftung“
Übertritt man Grenzen im strafrechtlichen Bereich, so kann die Schuld anhand der Gesetze klar definiert und die angemessene Konsequenz gezogen werden. Ein ethisches Verschulden zu erkennen gestaltet sich um Einiges schwieriger, da das Maß hierfür – das eigene Gewissen und die gesellschaftlichen Normen – nicht niedergeschrieben ist. Je nach Ausprägung des moralischen Bewusstseins, mag man sich einer Schuld gar nicht bewusst sein, ein diffuses und nicht klar greifbares Schuldgefühl mit sich herumtragen oder sich eine Schuld vielleicht nicht eingestehen wollen.
Der Umgang mit persönlicher Schuld, Verantwortung und dem eigenen Gewissen beschreibt die zentrale Thematik des Romanfragments „Der Proceß“, das 1914 von Franz Kafka geschrieben und 1925 nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Zu Beginn des Romans wird der Protagonist Josef K. am Morgen seines dreißigsten Geburtstages überraschend in der Pension von Frau Grubach, in welcher er ein Zimmer mietet, von zwei Wächtern aufgesucht. Von der Anwesenheit der zwei Wächter erfährt Josef K., als er nach der Köchin von Frau Grubach läutet, die ihm normalerweise das Frühstück bringt, und statt ihrer ein Wächter im Zimmer erscheint. Die beiden Wächter und ein später hinzukommender Aufseher teilen K. mit, dass er verhaftet ist und ein Prozess gegen ihn stattfinden wird. Keiner kann K. sagen, welche Schuld ihm überhaupt vorgeworfen wird, doch K. besteht sofort auf seine Unschuld. Dies erscheint paradox, da deutlich wird, dass die Wächter keine gewöhnlichen Gerichtsbeamten sind, und nach Gesetzen handeln, die K. nicht kennt. Auch die genannte Verhaftung ist keine gewöhnliche. K. wird nicht abgeführt und in ein Gefängnis gebracht, sondern soll sich in seiner Arbeit und seiner gewohnten Lebensweise nicht gestört fühlen. Aufgrund dessen und aufgrund der Tatsache, dass sich K. keiner Schuld bewusst ist, nimmt er den Vorfall nicht sonderlich ernst und macht sich am Ende des Kapitels mit drei Bankangestellten, die der Aufseher in die Wohnung bestellt hatte, auf den Weg zur Bank, in der er Prokurist ist.
„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (S.7, Fischer) lautet der Initialsatz des Romans. Auffällig ist, dass der Satz einen Ausblick auf das Geschehen gibt, was in diesem ansonsten linear geschriebenen Roman in solcher Deutlichkeit nur an dieser Stelle vorkommt. Zudem ist der Satz teilweise im Konjunktiv geschrieben. Dem Leser wird die Handlung in Form eines personalen Erzählers beschrieben, doch er ist von Anfang an auf die Sicht K.s beschränkt. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben“ (S.7) ist die einzige Erklärung, die K. für seine Verhaftung zulässt. Dies ist seine Vermutung, alle anderen Möglichkeiten schließt er sofort aus bzw. lässt er gar nicht erst zu. Der Satzteil „ohne daß er etwas Böses getan hätte“ (S.7) lässt den Leser durch den verwendeten Konjunktiv „hätte“ sofort an der Wahrheit dieser Aussage zweifeln. Das Einzige, was als wirklich sicher erscheint, ist die Tatsache, dass K. eines Morgens verhaftet wird – die Hintergründe bleiben unklar.
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- Citation du texte
- Silvia Schilling (Auteur), 2012, Interpretation der ersten Szene aus Kafka's "Der Proceß", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230860