Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. „Kultur“ bei Georg Simmel
2.1 Georg Simmels Kulturbegriff
2.2 Die Tragödie der Kultur
3. Georg Simmel und Friedrich Schiller
3.1 Gemeinsamkeiten
3.1.1 Die Kulturkritik
3.1.2 Simmels „Kultur“ und Schillers „Kunst“
3.2 Unterschiede
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im September 2012 entschied sich die SPD dafür einzutreten, dass Kultur als Staatsziel im deutschen Grundgesetz aufgenommen wird. Unabhängig von den darauf folgenden emphatischen Diskussionen stellt dies einen Anlass dar, den Begriff „Kultur“ genauer zu analysieren. Dabei muss man sich bewusst machen, dass es Auffassungen von „Kultur“ gibt, die sehr stark divergieren, komplett Gegensätzliches beschreiben oder sich sogar gegenseitig ausschließen. Am nützlichsten erscheinen dabei noch Definitionen, die vom „engen“ und „weiten“ Kulturbegriff ausgehen. Dabei bezeichnet ersterer, von dem wohl die SPD bei ihrer Initiative ausgeht, vor allem die Abgrenzung der Hochkultur gegenüber dem Trivialen und letzterer die Unterscheidung des vom Menschen Geschaffenen gegenüber der Natur. Doch auch bei diesem Versuch der Beschreibung von „Kultur“ gibt es noch zahlreiche Diskussionen.
Ein Philosoph, der sich ebenfalls mit der Theorie der Kultur auseinandersetzte, war Georg Simmel, der in mehreren Texten seine Definition des Kulturbegriffs ausarbeitet. Dabei fällt bei der Auseinandersetzung mit seinen Schriften auf, dass viele Gedanken bereits von Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen formuliert zu sein scheinen. Da Schiller mit seiner Abhandlung einer der Begründer der modernen Kulturkritik ist, dessen Bedeutung „man kaum überschätzen“[1] kann und dem jedoch in dieser Hinsicht kaum Aufmerksamkeit zu teil wurde, soll hier zumindest ein kleiner Abschnitt seiner Wirkungsgeschichte geschrieben werden.
Dabei wird gezeigt, dass sich Simmel bei seiner Analyse von Kultur und der daraus entstehenden modernen Tragödie zu weiten Teilen auf Schillers Briefe und dessen Kulturkritik bezieht. Des weiteren soll dargestellt werden, dass Simmel zugleich wesentliche Aspekte von Schillers Theorie, die nicht der Entfremdungstheorie zugehören, verwirft und nicht in seinen Betrachtungen aufnimmt.
Damit dies gelingt, wird zuerst der Kulturbegriff Georg Simmels sowie die daraus folgende Tragödie der Kultur dargestellt. Mit dem Ziel, die Bezüge Simmels zu Schiller aufzuzeigen, werden anschließend in einer textnahen Analyse die Parallelen von Simmels und Schillers Kulturkritik und anschließend die Gemeinsamkeiten, die darüber hinaus gehen, aufgezeigt. Um das Verhältnis von Simmel und Schiller eindeutig bestimmen zu können, werden zudem die wesentlichen Unterschiede in beiden Darstellungen herausgearbeitet. In einer Zusammenfassung wird die abschließende Bewertung der Ergebnisse vorgenommen.
2. „Kultur“ bei Georg Simmel
2.1 Georg Simmels Kulturbegriff
Den Ausgangspunkt bei Georg Simmels Überlegungen zur „Kultur“ bildet die Tatsache, dass er dem Menschen im Gegensatz zum Tier die Fähigkeit einräumt, sich einer fraglosen Einordnung in die Natur zu widersetzen. Diese Kompetenz ermöglicht es dem Menschen, gegen die natürlichen Begrenzungen aufzubegehren und ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu führen.
Dieser ursprüngliche Dualismus Mensch-Natur bildet die Grundlage für die Kultur, da daraus der „endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt“[2] entspringt. Denn ein Widersetzen gegen die Natur gelingt nur dann, wenn der Mensch, den Simmel als Subjekt bezeichnet, Objekte schafft, die ihn über die Natur erheben und aus ihren Zwängen befreien.
Obwohl das Objekt vom Subjekt erschaffen wurde, steht es diesem doch als Kontrast gegenüber. Denn das Subjekt besitzt die Eigenschaften, die dem Individuum angehören. Dazu gehören unter anderem der Wunsch nach einem autonomen Dasein, eine individuelle Entwicklung, die Ausbildung einer Persönlichkeit und der Seele. Dieses subjektive Leben beschreibt Simmel als rastlos, veränderlich und endlich.
Als Gegensatz dazu wird das vom subjektiven Geist erschaffene „Objekt“ als unbeweglich, unveränderlich und zeitlos beschrieben. Dabei impliziert der Begriff nicht nur Gegenstände, sondern auch Institutionen und somit all die vom Menschen geschaffenen Dinge, mit deren Hilfe er sich von der Natur emanzipieren will.
Aufgrund dieser verschiedenen Eigenschaften sind das lebendige Subjekt und das starre Objekt nicht miteinander vereinbar. Daher entsteht als Resultat aus den Bemühungen des Menschen, den Antagonismus Mensch-Natur zu überwinden, der neue Dualismus Subjekt-Objekt. Dieser ist für das bewegliche Subjekt deshalb unerträglich, weil es sich den von ihm geschaffen Objekt zwar noch verbunden fühlt, sich dieses jedoch aufgrund seiner Unbeweglichkeit „der subjektiven Seele entgegenstellt.“[3] Somit wird das Subjekt von den Objekten daran gehindert, die angestrebte Ausbildung seiner in ihm angelegten Möglichkeiten zu vollziehen.
Als Möglichkeit zur Überwindung des dargestellten Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt erklärt Simmel die Kultur, welche die Synthese zwischen den beiden Polaritäten ermöglichen kann.
Dies erläutert der Soziologe in der für sein Kulturverständnis grundlegenden Abhandlung „Der Begriff und die Tragödie der Kultur.“ Darin beschreibt er Kultur als „Weg der Seele zu sich selbst“ und als „das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten [...] Keimes.“[4] Diese für Simmels Theorie von Kultur zentrale Aussage besagt, dass für die Kultivierung eines Subjekts die Ausbildung der in ihm bereits vorhandenen Anlagen entscheidend ist. Daher kann man in diesem Zusammenhang auch von einem „Potential“ sprechen, das schon im Inneren eines Menschen angelegt sein muss.[5]
Als Beleg für diesen Aspekt nutzt Simmel das Beispiel eines Obstbaumes. Wird dieser zu einem Segelmast verarbeitet, so erfüllt er zwar auch einen Zweck, als kultiviert würde er allerdings nicht bezeichnet werden. Dies wäre er nur dann, wenn er sich, von einem Gärtner gepflegt, vom unfruchtbaren Gewächs zu einem Früchte tragenden Baum entwickeln würde. In diesem Fall wird seine innere Anlage entwickelt und nicht zu etwas gebraucht, was seinem Wesen als Obstbaum nicht entspricht.[6] „Der Begriff Kultur ist also [...] bei Simmel immer schon auf die inneren Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen bezogen und mit diesen untrennbar verbunden.“[7]
Die angestrebte Ausbildung seiner inneren Anlagen, die für Simmel gleichbedeutend mit Kultur ist, gelingt dem Menschen, indem er Hilfsmittel entwickelt, mit denen er sich der Natur entgegenstellt. Diese findet er in den vom ihm erschaffenen Objekte. Dazu gehören zweckgeformte Gegenstände ebenso wie Institutionen, Technik, Religion, Recht, Sitte und gesellschaftliche Normen.
Diese Dinge ermöglichen es dem Subjekt, sich zu entfalten, da diese eine Form der Selbstverwirklichung darstellen. Darüber hinaus erhält das Subjekt durch die von ihm geschaffenen Objekte Impulse, die es bisher nicht in sich trug. Das Subjekt könnte sich zwar auch aus sich selbst heraus und ohne Objekte entwickeln, doch entspricht dies nicht Simmels Kulturverständnis, denn „Kultur entsteht […], indem zwei Elemente zusammenkommen deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.“[8] Daher ist „Kultur […] immer Synthese“[9] aus dem Subjektiven und dem Objektiven.
Am deutlichsten formuliert Simmel seine Kulturdefinition am Beginn seiner Rede Die Krisis der Kultur:
„Ich verstehe sie als diejenige Vollendung der Seele, die sich nicht unmittelbar von sich selbst her erreicht […], sondern indem sie den Umweg über die Gebilde der geistig-geschichtlichen Gattungsarbeit nimmt: durch Wissenschaft und Lebensformen, Kunst und Staat, Beruf und Weltkenntnis geht der Kulturweg des subjektiven Geistes, auf dem er zu sich selbst, als einem nun höheren und vollendeteren zurückkehrt.[10]
Entscheidend ist dabei, dass das Subjekt auf dem Pfad der Entwicklung immer den „Umweg“ über die Objekte gehen muss, um dann höher entwickelt zu sich selbst zurückzufinden, wie Simmel auch mehrfach in weiteren Texten betont.[11]
Obwohl der Soziologe diese Tatsache häufig beschreibt, bleibt zunächst offen, warum Kultur nicht ohne den Umweg über die Objekte erreicht werden kann. Untersucht man jedoch Simmels Texte genauer, wird sichtbar, welche Funktionen den Objekten zugeschrieben wird, auf die das Subjekt angewiesen ist. So ist es der „spezifisch menschliche Reichtum, daß die Produkte des subjektiven Lebens zugleich einer nicht verfließenden, sachlichen Ordnung angehören.“[12] Das rastlose, endliche, bewegliche Subjekt hat demnach durch die Objekte die Möglichkeit, etwas Festes, Bleibendes zu schaffen. Das Objekt wird dadurch Träger subjektiver Werte und enthebt sie der „starren Isoliertheit.“ Gleichzeitig „fällt auf die Vergegenständlichung des Geistes ein Wertakzent, der zwar im subjektiven Bewußtsein entspringt, mit dem dieses Bewußtsein aber etwas meint, was jenseits seiner liegt.“ Dabei sind laut Simmel die Leistungen des Objekts noch nicht ausgeschöpft, „weil gerade nur die Selbstständigkeit des so vom Geiste geformeten Objekts die Grundspannung zwischen Prozeß und Inhalt und Bewußtsein lösen kann.“[13] Daraus folgen positive Empfindungen, die das Subjekt aus dem Schaffen eines Objektes gewinnen kann:
- das „Glück des Schaffenden an seinem Werk“
- die „Entladung der inneren Spannungen“
- der „Erweise der subjektiven Kraft“
- die „Genugtuung über die erfüllte Forderung“
- die „objektive Befriedigung darüber, daß das Werk nun dasteht, daß der Kosmos der irgendwie wertvollen Dinge nun um dieses Stück reicher ist“
- den „Genuß des eigenen Werkes, […] wenn wir es in seiner Unpersönlichkeit und seiner Gelöstheit von all unserm Subjektiven empfinden.“[14]
Der Nutzen, den das Subjekt aus dem Verwenden des Objektes gewinnt, ist demnach sehr komplex und kann als Beleg für Simmels These gelten, dass das Subjekt zur Kultivierung auf das Objekt angewiesen ist. Denn der Philosoph zeigt hiermit, dass es dem Subjekt nicht möglich ist, die aufgezählten Leistungen aus sich selbst heraus zu leisten.
Da die Objekte demnach für die Kultivierung des Subjekts von enormer Bedeutung sind, gilt es noch zu klären, wann ein Objekt ein kulturelles Objekt darstellt beziehungsweise wann es Bestandteil der Kultur ist. Simmel schreibt dazu in seiner Abhandlung Der Begriff und die Tragödie der Kultur, dass
„es für den kulturellen Sinn des Objekts, auf den es uns hier schließlich ankommt, das Entscheidende ist, daß in ihm Wille und Intelligenz, Individualität und Gemüt, Kräfte und Stimmungen einzelner Seelen (und auch ihrer Kollektivität) gesammelt sind.“[15]
Dies allein ist aber noch nicht ausreichend. Möchte ein Mensch ein kulturelles Objekt schaffen, so muss es „einen Beitrag zu dem ideellen, historischen, materialisierten Kosmos des Geistes leisten, damit es als wertvoll gelte.“[16] Folglich ist dafür entscheidend, ob ein Objekt kulturell wertvoll ist oder als Teil der Kultur angesehen wird, dass erstens ein Subjekt persönliche Empfindungen, Eindrücke, eine subjektive Botschaft oder dergleichen in das Objekt hat einfließen lassen und zweitens, dass das Objekt zur Kultivierung anderer Subjekte beiträgt. Das heißt, dass es in diesen Subjekten ebenfalls Stimmungen oder Überlegungen und somit eine innere Entwicklung hervorruft.
Vorsicht ist hingegen bei Objekten geboten, die reine Kulturwerte zu sein scheinen. Dazu gehören gesellschaftliche Normen und Regeln, die keinen Zweck erfüllen, außer dass sie eingehalten werden müssen. Diese stellen keine subjektiven Neuschöpfungen dar und fördern nicht die Entwicklung von Subjekten. Sie gehören demnach nicht zu den kulturellen Objekten.[17]
Simmel verbindet mit dieser grundlegenden Aufgabe der Kultur, der Ausbildung der inneren Anlage der Subjekte mithilfe von Objekten, noch eine weitere, bedeutendere Funktion. Denn wie zu Beginn gezeigt wurde, besteht zwischen Subjekt und Objekt ein grundlegender Dualismus, eine scheinbare Unvereinbarkeit, die im Wesen von Subjekt (endlich, rastlos) und Objekt (zeitlos, starr) begründet ist. Die Kultur stellt nun die Möglichkeit dar, diesen Gegensatz zu überwinden, da sie „ihre Einheit durch beide hindurch“[18] führt, „eine einzigartige Synthese des subjektiven und objektiven Geistes“[19] darstellt und daher eine Mittlerfunktion zwischen den beiden Polaritäten einnimmt. „Kultur“ bezeichnet demnach für Georg Simmel die Möglichkeit und bei richtiger Anwendung den Garant für ein gelingendes Leben, denn sie „ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.“[20]
Neben dieser grundlegenden Bestimmung untersuchte der Soziologe, welche Faktoren auf das Wesen der Kultur einwirken. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Einfluss des Geldes zu. Diesen beschreibt Simmel unter anderen in seinen zentralen Abhandlungen Philosophie des Geldes und Die Großstädte und das Geistesleben. Demnach hat das Geld, indem es den Menschen ermöglicht, den Wert von Gütern exakt zu bestimmen, vor allem eine objektivierende Funktion.[21] Es stellt somit eine Form der Kultivierung dar, die jedoch auch Gefahren birgt.
[...]
[1] Zelle (2005), 439
[2] Simmel (2001), 194
[3] Ebd.
[4] Simmel (2001), 195
[5] Vgl. Junge (2009), 55
[6] Vgl. Simmel (2001), 196
[7] Lichtblau (1997), 67
[8] Simmel (2001), 198
[9] Ebd., 206
[10] Simmel (2000), 190
[11] Vgl. Simmel (2001), 198; 206f; Simmel (1996) , 411
[12] Simmel (2001), 200
[13] Ebd.
[14] Ebd., 201
[15] Simmel (2001), 201
[16] Ebd., 203
[17] Vgl. Ebd., 205
[18] Ebd., 204
[19] Simmel (1996), 417
[20] Simmel (2001), 196
[21] Vgl. Jung (1990), 67f