Martin Luthers Wirken

Folge oder Voraussetzung der Verfassung?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

35 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Martin Luther und seine Theologie

3. Die deutsche Verfassung vor dem Wirken Luthers
3.1 Die Situation vor dem Reichstag zu Worms
3.2 Der Reichstag zu Worms
3.3 Zwischen Worms 1495 und dem Thesenanschlag

4. Martin Luthers Wirken
4.1 Vom Thesenanschlag 1517 bis zum Bann
4.2 Vom Reichstag zu Worms 1521 bis zum Reichstag in Speyer

5. Der weitere Verlauf der Reformation
5.1 Vom Reichstag zu Augsburg 1530 bis zu den Passauer Verträgen
5.2 Der Augsburger Religionsfrieden

6. Luthers Wirken und die langfristigen Entwicklungen für das Reich

7. Luther und die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches

8. Zusammenfassung

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Jahr 2003 ließ das ZDF seine Zuschauer für die Fernsehsendung „Unsere Besten“ die bedeu­tendsten Deutschen wählen. Im abschließenden Ranking belegten zahlreiche Politiker, Künstler und Gelehrte die vorderen Plätze. Obwohl dabei einige Entscheidungen sehr umstritten waren, blieb die Wahl Martin Luthers, der nach Konrad Adenauer den zweiten Platz belegte, unumstritten, zu offen­sichtlich waren die Einflüsse seines Wirkens auf die deutsche Geschichte.

Der Augustinermönch schlug der Legende nach im Jahr 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg und initiierte somit eine Bewegung, die nicht nur Kaiser und Reich am Beginn der Neuzeit, sondern ganz Europa langfristig verändern sollte: Die Reformation. Trotz des letztendli­chen Erfolgs der neuen Lehre war deren Durchsetzung lange Zeit nicht gesichert. Luther musste sei­ne Anliegen gegen den Widerstand der alten Kirche und in einem Reich, dessen Oberhaupt der Re­formation als entschiedener Gegner entgegenstand, etablieren. Dass der Protestantismus dennoch als gültige Lehre des Christentums anerkannt wurde, ist auf Luther und seinem Wirken in der politi­schen Wirklichkeit zurück zuführen. Dabei befand sich das Heilige Römische Reich, in dem der Re­formator lebte, bereits in einer Umbruchzeit. So wurden lediglich zwei Jahrzehnte vor Luthers Auf­treten Reformbeschlüsse verabschiedet, die die Verfassung des Reiches nachhaltig verändern soll­ten. Da Luther einerseits an diese rechtlichen Realitäten gebunden war, andererseits die von ihm ausgehende Reformation die Gestaltung der Verfassung ebenfalls langfristig modifizierte, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Luther und sein Handeln in Beziehung zu dieser Verfassung ste­hen. In dieser Arbeit wird deshalb erörtert, inwiefern das Vorgehen und der Erfolg des Reformators an die politische Wirklichkeit gebunden waren und Luthers Wirken somit eine Folge der Verfassung war. Da die protestantische Bewegung jedoch auch die Gesetze des Reiches veränderte, gestaltete und letztlich festigte, wird erläutert, ob Luthers Wirken zugleich eine Voraussetzung für die Durch­setzung der Verfassung darstellte.

Dafür wird zunächst die Biografie Martin Luthers und die für die Erörterung des Themas wichtigs­ten Aspekte seiner Theologie kurz vorgestellt. Anschließend werden die für diese Arbeit wichtigen Geschehnisse chronologisch erläutert und dabei in Beziehung zur Fragestellung gesetzt. So wird zu­nächst als Grundlage für die Bewertung von Luthers Wirken die Verfassung des Reiches skizziert. Dafür werden Voraussetzungen und darauf folgend die verfassungsrechtlich fundamentalen Be­schlüsse des Reichstags zu Worms 1495 sowie die weiteren Entwicklungen bis zu Luthers erstem Auftreten 1517 in je einem eigenem Kapitel dargestellt. Nachdem diese grundlegenden Vorausset­zungen für das Agieren Luthers veranschaulicht wurden, konzentriert sich die Darstellung auf das Wirken des Reformators. Dafür wird sein Wirken vom Thesenanschlag 1517 bis zum Bann 1521 und vom Reichstag zu Worms 1521 bis zum Reichstag zu Speyer 1529 erörtert und gezeigt, wie Luthers Handeln von der Verfassung des Reiches beeinflusst wurde.

Da sich, wie gezeigt werden wird, der Einfluss Luthers ab den 1530er Jahren deutlich verringerte, wird der weitere Verlauf der Reformation daraufhin in einem eigenen Kapitel dargestellt. Darin werden die weiteren Entwicklungen im Reich und die Durchsetzung der neuen Lehre vom Reichs­tag zu Augsburg 1530 bis zu den Passauer Verträgen 1552 sowie der Augsburger Religionsfrieden von 1555 beschrieben. Dies ist deshalb unerlässlich, da die Ereignisse zwar nicht mehr von Luther gesteuert werden, aber dennoch auf sein Wirken zurückgehen und sich als wesentlich für die Verfas­sung des Reiches erweisen.

Nachdem Luthers Wirken und dessen Folgen mittels konkreter Ereignisse und Handlungen erörtert wurden, werden in einem eigenen Kapitel die langfristigen Entwicklungen für Kaiser und Reich in der Frühen Neuzeit übersichtlich zusammengefasst. Auf den bisherigen Darstellungen aufbauend, widmet sich eine Erörterung der Frage, inwiefern Luthers Wirken Folge oder Voraussetzung der Verfassung des Reiches war. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit in einer Zusammenfas­sung resümiert.

Damit ein umfassendes Verständnis der Abhandlung gewährleistet ist, soll zunächst der Beginn und der Abschluss des betrachteten Zeitraums erläutert werden. Wie gezeigt werden wird, stellt die Reichsreform am Ende des 15. Jahrhunderts eine wichtige Voraussetzung für das Wirken Martin Luthers dar. Dabei wird der Reichstag zu Worms 1495 als das entscheidende Ereignis betrachtet. Dies entspricht zwar nicht den Darstellungen von Historikern wie Heinz Angermeier und Peter Claus Hartmann, die die Reichsreform 1486 auf dem Reichstag zu Frankfurt beginnen lassen, da Maximilian I. bereits Überlegungen für eine Veränderung der Verfassung äußerte.[1] Den Wissen­schaftlern ist jedoch zu entgegnen, dass diese lediglich auf Absichtserklärungen begründete Datie­rung wenig plausibel ist. Der Reichstag in Worms 1495 hingegen ist als Beginn der Reichsreform wesentlich nachvollziehbarer, da dort tatsächlich Beschlüsse verabschiedet wurden.

Ebenso wie der Beginn der vorliegenden Abhandlung wurde auch der Abschluss des hier betrachte­ten Zeitraums, der Reichstag zu Augsburger 1555, mit Bedacht gewählt. Zwar ist selbstverständlich auch die Epoche nach dem Augsburger Religionsfrieden noch von den Nachwirkungen von Luthers Handeln geprägt, allerdings stellt die beginnende Konfessionalisierung und deren Folgen sowie die weiteren politischen Ereignisse einen neuen Entwicklungsschritt dar. Zudem liegt das konkrete Handeln Luthers nach 1555 bereits so weit zurück, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Zeit­raum unter dem Aspekt des Wirkens des Reformators als wenig sinnvoll erscheint.

Weiterhin soll hier die Verwendung einiger Bezeichnungen kurz erläutert werden. In dieser Arbeit werden Wörter wie deutsch, Verfassung, Reich oder Nation benutzt. Dabei handelt es sich größten­teils um Begriffe, deren Bedeutung in der Gegenwart geläufig, für die Frühe Neuzeit jedoch oftmals wenig eindeutig sind. So war zum Beispiel noch im 16. Jahrhundert unklar, wer Deutscher war oder welche Gebiete zum Reich gehörten. Ebenso darf Verfassung nicht im heutigen Sinne verstanden werden, da sie meist weniger durch Festgeschriebenes als mehr durch Traditionen und Überliefe­rungen definiert wurde.[2] Trotz der beschriebenen Unsicherheiten werden diese Begriffe verwendet, da sie für eine Darstellung von Kaiser und Reich in der Frühen Neuzeit unabdingbar sind. Die für das Verständnis notwendigen Bestimmungen werden dann an entsprechender Stelle erläutert.

2. Martin Luther und seine Theologie

Damit ein umfassendes Verständnis darüber gewährleistet werden kann, ob Martin Luthers Wirken Folge oder Voraussetzung der deutschen Verfassung ist, wird hier der Reformator kurz vorgestellt. Zudem widmet sich dieser Teil der Abhandlung der Darstellung seiner Theologie. Da diese jedoch sehr umfangreich ist, wird sich hier auf die zentralen und die für die folgende Erörterung relevanten Theorien konzentriert.

Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben, Grafschaft Mansfeld, geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er im benachbarten Mansfeld, wo er von 1488 bis 1496 die Stadt­schule besuchte. Anschließend besuchte er für ein Jahr die Magdeburger Domschule und für drei Jahre die Pfarrschule in Eisenach, sodass er sich eine umfassende Bildung aneignen konnte. Nach­dem Luther von 1501 bis 1505 an der Erfurter Universität erfolgreich die septem artes liberales, die Sieben Freien Künste, studierte, trat er in den Augustinerorden ein. Bereits 1507 wurde der spätere Reformator zum Diakon und Priester geweiht. Aufgrund seiner großen Frömmigkeit durfte Luther dann ab 1508 an der Universität Wittenberg Theologie studieren.

Im Jahr 1511 unternahm Luther die längste Reise seine Lebens: Im Auftrag seines Ordens begab er sich nach Rom und zeigte sich entsetzt über den dortigen Sittenverfall und die für ihn wenig an­dächtige religiöse Praxis.[3] Diese Eindrücke prägten ihn nachhaltig und sollten sich in seiner späte­ren Kirchenkritik widerspiegeln.

Nach seiner Rückkehr begab sich Luther erneut nach Wittenberg, promovierte 1512 als Doktor der Theologie und übernahm bis zu seinem Lebensende eine Professur für Theologie, „die vor allem der Auslegung der Bibel (lectura in biblia) gewidmet war.“[4] Ab 1514 erhielt er zudem als Provinzi­alvikar eine leitende Funktion im Orden der Augustiner.

Im Jahr 1517 folgte die Handlung, die heute stellvertretend für den Beginn der Reformation steht: Luther schlug der Legende nach 95 Thesen, mit denen er die Bußpraktiken der Kirche kritisierte, an die Schlosskirche zu Wittenberg. In den folgenden Jahren entwickelte und verteidigte Luther seine neue Lehre und war damit der Initiator von nachhaltigen Entwicklungen im Reich. Damit die Be­deutung, die Voraussetzungen und die Folgen von Luthers Wirken verdeutlicht werden können, wird der Verlauf der Reformation sowie die für diese Erörterung bedeutenden Geschehnisse im Zu­sammenhang mit Kaiser und Reich zu Beginn der Frühen Neuzeit in den folgenden Kapiteln darge­stellt.

Obwohl Martin Luther mit seiner neuen Lehre in Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, konnte er sich dennoch seinem Familienleben widmen. So heiratete er 1525 Katharina von Bora, eine ehemalige Nonne, und zeugte mit ihr sechs Kinder.

Nachdem Luther zunächst die Formulierung der neuen Lehre wirkungsvoll prägte, zog er sich nach dem Reichstag von Augsburg 1530, „als die reformatorische Bewegung in etwas ruhigere Fahrwas­ser gelangt[e],“[5] von den weiteren Entwicklungen zurück. Er versuchte zwar weiterhin über einzel­ne politische und theologische Stellungnahmen den Verlauf der Reformation zu beeinflussen, konn­te aber keinen nachhaltigen Erfolg erzielen. Nachdem er noch bis 1545 Vorlesungen an der Witten­berger Universität gehalten hatte, starb Martin Luther am 18. Februar 1546 in Eisleben.

Nachdem die wichtigsten Stationen von Martin Luthers Biografie dargestellt wurden, werden nun die bedeutendsten theologischen Thesen erläutert, da so, mit dem Wissen um die zentralen Lehren, ein umfassendes Verständnis von Luthers Handeln und Wirken möglich ist.[6] Dabei ist zu beachten, dass hier lediglich die grundlegenden Komponenten von Luthers Theologie und deren essentiellen Aussagen dargestellt werden können. Eine vollständige Erörterung ist hier weder möglich noch not­wendig.

Als Grundlagen für Luthers Theologie gelten die drei sola-Prinzipien: sola scriptura, sola gratia und sola fide, die zusammen Luthers Rechtfertigungslehre beschreiben.[7] Dabei behauptet der Reforma­tor mit sola scriptura, dass allein die Bibel Auskunft über das Wissen von Gott und über moralische Regeln gibt. Aus dieser Annahme, dass „das Evangelium von Jesus Christus […] das Kriterium für die Wahrheit“[8] ist, entwickelte sich die intensive Bindung der protestantischen Lehre an die heilige Schrift als göttliche Offenbarung. Zugleich werden damit der Wahrheitsanspruch von überlieferten Traditionen und von Päpsten oder Konzilien festgelegten Glaubensgrundsätzen, die nicht mit der Bibel begründet werden können, negiert.

Mit sola gratia verkündete Luther, dass das eschatologische Heil der Menschen nicht durch gute Werke oder ein sündenfreies Leben erlangt werden kann, sondern von der Gnade Gottes abhängig ist. Damit wendete sich der Reformator gegen die Lehre der katholischen Kirche, nach der gottge­fällige Taten das Seelenheil begünstigen. Eng verknüpft mit sola gratia ist das Prinzip sola fide. Demnach ist es, da gute Werke nicht als heilbringend anerkannt werden, allein durch den Glauben möglich, das Ewige Leben zu erlangen. Dieser Glaube wird wiederum von Gott als Akt der Gnade geschenkt. Daher drückt das sola fide das Vertrauen des Menschen in den göttlichen Willen aus. Grundsätzlich gilt dabei Jesus Christus als Heilsmittler und -bringer, sodass zusätzlich das Prinzip solus Christus als ein wichtiges Element der reformatorischen Lehre bezeichnet wird. Daraus resul­tiert die Ablehnung der in der katholischen Kirche weit verbreitenden Praxis der Marien- und Heili­genverehrung.

Neben diesen Grundprinzipien entwickelte Luther weitere Thesen, durch die eine Annäherung an die alte Kirche erschwert wurde. Als eines der wichtigsten Elemente kann dazu die Sakramentenleh­re gezählt werden, die er im 1520 veröffentlichten Werk „Vorspiel von der babylonischen Gefan­genschaft der Kirche“ erläutert. Dabei reduziert der Reformator die ursprünglich sieben Sakramente auf zwei, Taufe und Abendmahl, und ein sakramentales Zeichen, Buße. Als Begründung für ein Sa­krament wird lediglich die in der Bibel beschriebene Einsetzung durch Christus anerkannt. Daher werden bisherige Elemente wie Firmung oder Ehe von Luther nicht berücksichtigt. Da auch die Priesterweihe nicht mehr als Sakrament gilt, betont Luther das Priestertum aller Gläubigen,[9] das er 1520, neben politischen Inhalten, in der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ formu­lierte. Demnach bedarf ein Christ nicht mehr einen Geistlichen, um mit Gott zu kommunizieren, vielmehr ist er durch seinen Glauben dazu selbst in der Lage. Der Priester einer Gemeinde ist nun nicht mehr aufgrund einer Weihe für den Gottesdienst und die Seelsorge zuständig, sondern ledig­lich wegen seiner Ausbildung, die ihm die notwendigen Fähigkeiten vermittelt.

Daran anknüpfend lehnte der Reformator zudem das katholische Abendmahlsverständnis ab, nach dem Christus durch die vom Priester durchgeführte Transsubstantiation in Gestalt von Brot und Wein wahrhaftig gegenwärtig ist. Luther hingegen vertrat die Ansicht, dass nicht die Wandlung, sondern der gläubige Empfang der Kommunion die entscheidende Komponente beim Abendmahl ist. Als weitere Neuerung postulierte Luther, dass neben dem Brot auch der Wein an die Gläubigen ausgeteilt werden müsse. Auch wenn es zu der Sakramentenlehre innerhalb der protestantischen Be­wegungen zu zahlreichen Konflikten kam, blieb dies stets ein Aspekt, der eine Wiedervereinigung mit der katholischen Kirche stark erschwerte.

Ein für das Reich folgenreicher Aspekt der neuen Lehre stellt darüber hinaus Luthers Zwei-Reiche-Lehre dar.[10] So erklärte der Reformator bereits 1520 mit der Schrift „Von der Freiheit eines Chris­tenmenschen“, dass der Mensch in Gewissensdingen frei sei. 1522 postulierte er dann mit „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ ein göttliches und ein weltliches Reich. Demnach ist der Gläubige in Religionsfragen von allen weltlichen Zwängen frei und allein Gott unterstellt. Das weltliche Reich repräsentiert jedoch die göttliche Ordnung. Daher muss der Mensch der Obrigkeit in allen Belangen gehorchen, solange dies nicht aus Gewissensgründen un­möglich ist. Daraus ergibt sich, dass die Untertanen kein Recht auf Widerstand besaßen,[11] obwohl sie dies oftmals aus Luthers Schriften interpretierten. Allerdings bedeutet dies ebenfalls, dass kirch­liche Würdenträger keine weltliche Macht beanspruchen dürfen. Da das Reich in der Frühen Neu­zeit jedoch von einer Verflechtung der weltlichen und geistlichen Herrschaft gekennzeichnet war,[12] formulierte Luther vor allem auch mit der Zwei-Reiche-Lehre eine Sichtweise, die die politische Realität beeinflussen sollte.

Für die Entwicklung der Reformation und Martin Luthers Wirken im Reich stellen die erörterten Aspekte die wichtigsten Komponenten der neuen Lehre dar. Obwohl das einfache Volk den Großteil von Luthers Theologie nicht nachvollziehen konnte, sollte der Reformator mit seinen Überzeugun­gen und seinem Handeln einen wesentlichen Einfluss auf Kaiser und Reich zu Beginn der Neuzeit erlangen.

3. Die deutsche Verfassung vor dem Wirken Luthers

Das Verhältnis von Martin Luther und seinem Wirken zur deutschen Verfassung lässt sich nur dann adäquat erörtern, wenn zuvor die wichtigsten verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen für Kaiser und Reich in der Frühen Neuzeit elaboriert wurden. Daher erläutert dieses Kapitel Beschlüsse und Ereignisse des Reichstags zu Worms 1495, da dieser für die Verfassung des Reiches einen essentiel­len Entwicklungsschritt darstellt und somit wichtige Voraussetzungen für das Vorgehen des Refor­mators schuf.

3.1 Die Situation vor dem Reichstag zu Worms 1495

Damit die Bedeutung von Worms 1495 für die deutsche Verfassung und damit für das Wirken Lu­thers dargestellt werden kann, muss die Situation vor diesem entscheidenden Reichstag zusammen­gefasst werden.

Zunächst ist festzuhalten, dass „das in vielen Jahrhunderten entstandene Reich in kein staatstheore­tisches Verfassungs- und Souveränitätsschema“[13] einzuordnen ist. Somit kann das Heilige Römische Reich nicht mit einem Staatsbegriff erfasst werden, welcher in der Moderne geprägt wurde. Denn das Reich war

„ein über die Jahrhunderte des Mittelalters allmählich gewachsenes Gebilde, ein lose integrierter politischer Verbund sehr unterschiedlicher Glieder, die unter einem gemeinsamen Oberhaupt, dem Kaiser, standen, dem sie in einem persönlichen Treueverhältnis verpflichtet waren.“[14]

Deshalb kann auch die Verfassung des Reiches nicht mit heutigen Definitionen erklärt werden. Die Gesetzesgrundlagen waren nicht formell und rechtlich festgeschrieben, sondern durch eine lange Tradition und durch Überlieferung begründet. Diese wurden dann durch schriftliche Vorschriften er­gänzt. Somit war die deutsche Verfassung ein „Konglomerat aus geschriebenen und nichtgeschrie­benen Rechtsgrundsätzen.“[15] Eine Neugestaltung dieser Gesetze war deshalb auch nie ein groß an­gelegtes Reformwerk, sondern stets eine Auseinandersetzung mit aktuellen, konkreten Problemen.[16]

Eine umfassende Reform der deutschen Verfassung war jedoch notwendig, da Kaiser und Reich zu Beginn der Frühen Neuzeit mit zahlreichen Umwandlungen und Konflikten konfrontiert wurden. So musste sich das Reich außenpolitisch mit mehreren Bedrohungen auseinandersetzen. Die Gefahr durch die Türken sowie die Kriege mit den Hussiten, Burgund, Ungarn und Frankreich führten zu anhaltenden Konflikten und erforderten zahlreiche Ressourcen.

Des Weiteren kam es im Inneren zu nachhaltigen Veränderungen. Die Entwicklungen von Festungs­bau und Artillerie führten zu drastischen Veränderungen im Militärwesen, durch das Lehren des Rö­mischen Rechts kam es zu einer Professionalisierung der Justiz. Außerdem ist im Reich eine erstar­kende Geldwirtschaft und eine immer größere Marktverflechtung festzustellen, wodurch die Städte ihre Position als mächtige Handelszentren erheblich ausbauten.

Ein florierender Handel benötigt jedoch einen anhaltenden Frieden in einem möglichst großen Ge­biet. Diesen allerdings konnten weder Kaiser noch Fürsten gewährleisten, vor allem da der niedere Adel die militärische Fehde als legitimen Akt der Rechtsprechung ansah und zahlreich nutzte.[17]

Das Heilige Römische Reich stand demnach vielen Veränderungen im Inneren und anhaltenden Be­drohungen von Außen gegenüber. Obwohl im 15. Jahrhundert viele Konflikte zu einer „dichteren und häufigeren Zusammenarbeit als je zuvor“[18] führten und sich feste Verfahren sowie das Bewusst­sein einer politischen Zusammengehörigkeit entwickelt hatten, war eine umfassende und nachhalti­ge Reform der Verfassung unumgänglich.

3.2 Der Reichstag zu Worms 1495

Die Bedeutung des Wormser Reichstag 1495 für die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches und damit für das Wirken Luthers ist auf zwei Motive zurückzuführen: Zum einen auf die neue In­stitution „Reichstag“ selbst, zum anderen auf die dort verabschiedeten Beschlüsse.

Der Reichstag 1495 war „die erste Reichsversammlung, zu der König Maximilian I. nach dem Tod seines Vaters und seiner eigenen Thronbesteigung 1493 einlud.“[19] Die „reichsgrundgesetzliche Fun­dierung erhielt der Reichstag in der Wormser 'Handhabung Friedens und Rechts' vom 07. August 1495, die ihn zum Teilhaber an der königlichen Herrschaft machte und die ihn erst eigentlich schuf.“[20]

Dabei wurde zum ersten Mal der Begriff Reichstag für die Zusammenkunft der verschiedenen Stän­de mit dem Kaiser verwendet.[21] Vorher existierten lediglich der Königliche Hoftag und der Kurfürs­tentag, auf denen unabhängig voneinander beraten und mit denen das bisherige Gegenüberstehen von Reichslehensherr und Lehensmännern symbolisiert wurde.[22] Zum Wormser Reichstag 1495 je­doch kamen nahezu alle Ständegruppen zusammen,[23] sodass eine neue Form der Herrschaftsaus­übung gebildet wurde. Der neue Reichstag verdeutlichte somit, dass sich hier das gesamte Reich versammelte und über das gesamte Reich bestimmte.[24] Dies bot die Möglichkeit, die Mitglieder des Reiches eindeutiger festzulegen: Wer zum Reichstag erschien, zählte sich zum Reich dazu und konnte über dessen Gestaltung mitentscheiden. Im Gegensatz dazu waren die anwesenden Stände jedoch auch verpflichtet Beschlüsse mitzutragen und umzusetzen. Zugleich entschied „die zumin­dest tendenzielle Abschließung des Teilnehmerkreises, [...] de facto darüber [...], wer reichsunmit­telbar war oder nicht.“[25] Deshalb etablierte sich der Reichstag „ als die maßgebliche Instanz für die Gesamtsteuerung des föderalen Reiches“[26] und wurde seit der Versammlung in Worms 1495 „zu der wichtigsten Beratungs- und Entscheidungsinstitution des Heiligen Römischen Reiches in der Frü­hen Neuzeit.“[27]

Der Erfolg des Reichstags war jedoch nicht nur der Entwicklung dieser neuen Institution geschul­det, sondern zugleich ein Ergebnis der in Worms 1495 gefassten Beschlüsse, da diese nachhaltig Kaiser und Reich in der Frühen Neuzeit prägen sollten.

Der wohl bedeutendste Beschluss war die Verkündigung des Ewigen Landfriedens, „der diesen Reichstag so berühmt gemacht hat“[28] und dessen wichtigste Bestimmung das Verbot der vor allem vom niederen Adel zahlreich angewendeten Fehde beinhaltete. Damit wurde im Heiligen Römi­schen Reich „die Friedenswahrung im Innern zur absoluten Rechtsnorm“[29] erhoben. Während bishe­rige Friedensregelungen stets auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt wurden, galt der Ewige Landfriede seinem Namen entsprechend ohne Ausnahme und zeitlicher Einschränkungen. Somit wurde versucht, den inneren Frieden im gesamten Reich zu gewährleisten. Denn, so lautet der erste Paragraph des Ewigen Landfriedens, „niemand, von was Wirden, Stats oder Wesens der sey, den an­deren bevechden, bekriegen, berauben, vahen, überziehen, belegern […] sol.“[30] Obwohl die tatsäch­liche und vollständige Durchsetzung des Reichsabschieds nicht sofort erreicht werden konnte, denn „es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die neuen Regelungen weitgehend akzeptiert waren,“[31] wurde mit dem Ewigen Landfrieden einer der wichtigsten Beschlüsse für die Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches verabschiedet.

Damit der Ewige Landfriede jedoch nachhaltig eingeführt werden konnte, benötigte es eine Rechts­instanz, die dessen Einhaltung überwacht. Zugleich musste die neue Institution die Möglichkeit bie­ten, Konflikte zu lösen, da dies mit der bisher üblichen Fehde nicht mehr möglich war. Dafür wurde das Reichskammergericht gegründet, das aus dem königlichen Kammergericht hervorging[32] und nun „weit überwiegend von den Ständen besetzt“[33] wurde. Es bildete die „effektive, professionelle und alle Regionen einbeziehende höchste Gerichtsbarkeit“ und „garantierte [...] Rechtseinheit und ein hohes Maß an Rechtssicherheit im ganzen Reich.“[34] Allerdings muss berücksichtigt werden, dass eine wirksame Exekutive für die Umsetzung der gefällten Urteile oft fehlte und ein militärisch ge­rüstetes Territorium nicht zur Einhaltung von Beschlüssen gezwungen werden konnte.[35]

Darüber hinaus wurde der Gemeine Pfennig eingeführt. Dieser stellte eine von allen Reichsbewoh­nern zu zahlende Steuer an den Kaiser und somit eine Form der Reichsunmittelbarkeit dar und soll­te von den Pfarrämtern eingezogen werden. Obwohl dadurch große Summen zusammen kamen, scheiterte das Vorhaben letztlich am Widerstand der Fürsten, die durch diese zentralistische Steuer, die ihrer Kontrolle entzogen war, eine Gefahr für ihren Einfluss auf die Politik des Reiches erkann­ten.[36]

Der Wormser Reichstag im Jahr 1495 wurde somit zur Grundlage für die Entwicklung von Kaiser und Reich in der Frühen Neuzeit, denn „König Maximilian I. und die anwesenden Stände unter Führung des Erzkanzlers Berthold von Henneberg [brachten] eine lange Konzentrations- und Inten­sivierungsbewegung zum Abschluss,“[37] die zu einer „Verstetigung des Reiches“[38] führte.

Für das spätere Wirken Martin Luthers sollten diese Entwicklungen nicht ohne Einfluss bleiben. Denn der Kaiser war zwar das Symbol für die Einheit des Reiches, regieren konnte er jedoch nur mit den Fürsten.[39] Durch diese föderale Struktur des Reiches „waren und blieben beide Seiten im Reichstag als Institutionen dualistischer Herrschaftsausübung aufeinander angewiesen.“[40] Somit kann „das 1495 verabschiedete Ordnungsprogramm als bewußte Privilegierung territorialer Staat­lichkeit gegenüber allen anderen Herrschaftsformen“[41] beschrieben werden. Damit konnten die Fürsten große Selbstbestimmungsrechte für ihre Politik und ihre Territorien erlangen. Welchen Ein­fluss diese Entwicklung der deutschen Verfassung jedoch auf Luthers Vorgehen bei der Verbreitung seiner Lehren erlangte und inwieweit sich dies für als eine entscheidende Komponente erwies, wird in den folgenden Kapiteln erörtert.

3.3 Zwischen Worms 1495 und dem Thesenanschlag 1517

Vom Reichstag zu Worms 1495 bis zum ersten öffentlichen Auftreten Luthers 1517 sollten noch 22 Jahre vergehen. Auch wenn es bis zum Thesenanschlag keinen ebenso wirkungsvollen Reichstag wie in Worms gab, wurden einige Gesetze erlassen, die ebenfalls die Verfassung des Heiligen Römi­schen Reiches prägen sollten.

Zunächst reformierte Maximilian I. 1498 den Reichshofrat. Dieser stellte das Gericht des Kaisers dar, da dieser ein Gegengewicht zum ständisch besetzten Reichskammergericht schaffen und ver­deutlichen wollte, dass er der oberste Richter im Reich sei.[42]

Im Jahr 1500 wurde das Reichsregiment gebildet. Dieses stellt den Versuch dar, eine ständisch ge­prägte Reichsregierung zu installieren. Allerdings wurde das Reichsregiment bereits 1502 aufgelöst, da der Kaiser die Institution selbstverständlich nicht unterstützte und sie für die Stände zu zentralis­tisch ausgerichtet war.[43]

Nachhaltiger war jedoch die Bildung von Reichskreisen. So wurden zunächst im Jahr 1500 sechs Reichskreise mit regionalen Zuordnungen geschaffen, 1512 wurde deren Zahl auf zehn erhöht. Ur­sprünglich sollten sie lediglich die gerechte Besetzung des Reichsregiment garantieren, übernahmen aber bald die exekutive Aufgaben. So waren sie verantwortlich für Angelegenheiten, die für einen Landesherren zu aufwändig und zugleich für das Reich nicht händelbar waren.[44] Dazu zählten die Vollziehung von Gerichtsurteilen und die Umsetzung von Reichstagsbeschlüssen. Die Reichskreise waren eine notwendige und spätestens nach einer Phase der Etablierung erfolgreiche Institution des Reiches, denn „angesichts mangelnder Exekutivorgane war man für die Durchführung zentraler Be­schlüsse stets auf die Mitwirkung derer angewiesen, die sie betrafen.“[45]

Obwohl sich das Heilige Römische Reich somit immer mehr zu einem institutionalisierten und komplementären Reichs-Staat entwickelte[46], war das Mit-, Neben- und Gegeneinander von Kaiser und Fürsten stark ausgeprägt, kompliziert und oftmals nur schwer zu durchschauen. So beschreibt auch der Florentiner Nicolò Machiavelli die deutsche Verfassung dahingehend, „daß die Macht des Reiches zwar groß sei, aber so beschaffen, daß sich ihrer keiner bedienen könne.“[47]

Somit war die deutsche Verfassung geprägt von einer steigenden Verstaatlichung des Reiches einer­seits und von auf ihre Selbstständigkeit bedachten Einzelterritorien andererseits. Es ist folglich fest­zustellen, dass sich Kaiser und Reich zwischen dem Wormser Reichstag von 1495 und Martin Lu­thers Thesenanschlag 1517 in einer Phase des Umbruchs und der Veränderung befanden.

[...]


[1] Vgl. Hartmann (2005), 17f

[2] Vgl. Hartmann (2005), 38

[3] Vgl. Lexutt (2008), 31

[4] Korsch (2007), 30

[5] Lexutt (2008),33

[6] Vgl. Lexutt (2009), 211

[7] Vgl. Möhrke (2005), 7f

[8] Lexutt (2008), 38

[9] Vgl. Lexutt (2008), 81

[10] Vgl. Korsch (2007), 129

[11] Vgl. Schmidt (1999), 67

[12] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 51

[13] Hartmann (2005), 38

[14] Stollberg-Rillinger (2006), 7f

[15] Hartmann (2005), 38

[16] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 40

[17] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 36f

[18] Ebd., 38

[19] Stollberg-Rillinger (2008), 23

[20] Herbers (2010), 197

[21] Vgl. Schmidt(1999), 33

[22] Vgl. Herbers (2010), 197

[23] Vgl. Burkhardt (2009), 13

[24] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 40

[25] Stollberg-Rillinger (2006), 46

[26] Burkhardt (2009), 14

[27] Herbers (2010), 195

[28] von Ranke (1933 A), 64

[29] Burkhardt (2009), 10

[30] Buschmann (1994), 160

[31] Willoweit (2009), 106

[32] Vgl. Hartmann (2005), 18

[33] Schmidt (1999), 34

[34] Burkhardt (2009), 15

[35] Vgl. Schmidt (1999), 35

[36] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 44; Burkhardt (2009), 14f

[37] Schmidt (1999), 33

[38] Ebd., 39f

[39] Vgl. Burkhardt (2009), 19

[40] Herbers (2010), 199

[41] Schmidt (1999), 37

[42] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 43

[43] Vgl. Burkhardt (2009), 16

[44] Vgl. Stollberg-Rillinger (2006), 49

[45] Ebd., 49f

[46] Vgl. Schmidt (1999), 40ff

[47] Herbers (2010), 196

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Martin Luthers Wirken
Untertitel
Folge oder Voraussetzung der Verfassung?
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Frühe Neuzeit: Kaiser und Reich am Beginn der Neuzeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
35
Katalognummer
V231084
ISBN (eBook)
9783656470090
ISBN (Buch)
9783656470649
Dateigröße
552 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
martin, luthers, wirken, folge, voraussetzung, verfassung, mittelalter, frühe neuzeit, reich, deutsch, heilig, römisch, kaiser, fürst, 16. jahrhundert, reformation, konfession, melanchton, confessio augustana, religion, christ, katholisch, katholizismus, evangelisch, stadt, nation, beginn, neuzeit, theologie, these, worms, reichstag, 1495, speyer, bann, thesenanschlag, 1521, augsburg, passau, 1529, 1530, verträge, passauer, 1552, religionsfrieden, frieden, 1555, entwicklung, entstehung, verfestigung
Arbeit zitieren
Sebastian Silkatz (Autor:in), 2012, Martin Luthers Wirken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231084

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