Familienpolitik aus der Gender-Perspektive: Deutschland, Schweden und Frankreich im Vergleich


Tesis de Máster, 2012

133 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Familie - Definitionen und Vorstellungen

3. Was ist Gender?

4. Die Theorie des Neo-Institutionalismus
4.1. Drei Richtungen des Neo-Institutionalismus
4.2. Woher kommen Leitideen? Der akteurszentrierte Institutionalismus nach Mayntz/Scharpf

5. Theoretische Überlegungen zur Konzeption von Geschlechterrollen
5.1. Wie entsteht der Wandel von Geschlechterrollen?
5.2. Geschichte und gesellschaftlicher Einfluss des Feminismus auf die Familienpolitik aus länderübergreifender Perspektive

6. Das egalitäre Doppelversorgermodell Schwedens
6.1. Leitbild und staatliche Anreize
6.1.1. Geschichte der schwedischen Familienpolitik
6.1.2. Steuermodell
6.1.3. Elternversicherung
6.1.4. Kinderbetreuungssituation
6.2. Gesellschaftliche Einflüsse
6.2.1. Länderspezifische Eigenheiten
6.2.2. gesellschaftliche Rollenvorstellungen
6.3. Vereinbarkeit von Familie und Beruf
6.3.1. Vätermonate
6.3.2. Frauenerwerbstätigkeit
6.3.3. Exkurs: Frauenquote
6.4. Zwischenfazit: maßgebliche Akteure der schwedischen Familienpolitik

7. Die familienpolitische Situation in Deutschland
7.1. Leitbild und staatliche Anreize
7.1.1. Geschichte der deutschen Familienpolitik
7.1.2. Steuermodell
7.1.3. Elternzeit und Elterngeld
7.1.4. Kinderbetreuungssituation
7.1.5. Diskussion um das Betreuungsgeld
7.2. Gesellschaftliche Einflüsse
7.2.1. Länderspezifische Eigenheiten
7.2.2. Gesellschaftliche Rollenvorstellungen
7.3. Vereinbarkeit von Familie und Beruf
7.3.1. Frauenerwerbstätigkeit
7.3.2. Exkurs: Frauenquote
7.4. Zwischenfazit: maßgebliche Akteure der deutschen Familienpolitik

8. Frankreich - Wahlfreiheit als Leitbild
8.1. Leitbild und staatliche Anreize
8.1.1 Geschichte der französischen Familienpolitik
8.1.2. Steuermodell
8.1.3. Leistungsgerechtigkeit und Wahlfreiheit
8.1.4. Kinderbetreuungssituation
8.2. Gesellschaftliche Einflüsse
8.2.1. Länderspezifische Eigenheiten
8.2.2. Gesellschaftliche Rollenvorstellungen
8.3. Vereinbarkeit von Familie und Beruf
8.3.1. Frauenerwerbstätigkeit
8.3.2. Exkurs: Frauenquote
8.4. Zwischenfazit: maßgebliche Akteure der französischen Familienpolitik

9. Das Wechselverhältnis von Rollenvorstellungen und familienpolitischen Leitideen in Deutschland, Schweden und Frankreich im Vergleich – ein Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In Frankreich kommt die Quote – in Deutschland das Betreuungsgeld. Bis zum Jahr 2017 sollen in Frankreich 40 Prozent der Vorstandsmitglieder größerer Unternehmen weiblich sein. Das hat die damals konservative Regierung im Jahr 2011 beschlossen. Einen ersten Schritt in diese Richtung liefert die Zielvorgabe die Frauenquote bis 2014 auf 20 Prozent anzuheben.[1] In Deutschland hingegen wird über die Einführung einer solchen Frauenquote für Unternehmensvorstände noch immer debattiert. Eine Einigung konnte bislang nicht erzielt werden. Dafür hat das CDU/CSU-geführte Bundeskabinett im Juni dieses Jahres einen Gesetzesentwurf zur Einführung eines Betreuungsgeldes für Kinder unter drei Jahren beschlossen. Ab 2013 sollen Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kita schicken sondern zu Hause betreuen vom Staat eine monatliche Unterstützung in Höhe von 100 bis 150 Euro erhalten. Laut einer Umfrage des Magazins Stern und des Fernsehsenders RTL sind 60 Prozent der Deutschen gegen diese neue familienpolitische Leistung, da sie diese als einen Anreiz zur Erhaltung tradierter Rollenmodelle auffassen (vgl. Hildebrandt/Niejahr 2012: 2). Von Kritikern wird diese Maßnahme deshalb auch abschätzig als „Herdprämie“ bezeichnet.[2] Ein Land, das diese „Herdprämie“ bereits seit vier Jahren in seine Familienpolitik integriert hat und dennoch als Vorreiter in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gilt ist Schweden. Dort wurde der so genannte „vårdnadsbidrag”, wie das Betreuungsgeld auf Schwedisch bezeichnet wird, von der konservativ-bürgerlichen Koalitionsregierung mit dem Argument, Familien die Entscheidungsfreiheit bei der Kinderbetreuung zu ermöglichen, eingeführt. Frankreich hat dieses Element der Wahlfreiheit sogar als einen Grundpfeiler in seiner Familienpolitik verankert. Eltern sollen dort selbstbestimmt zwischen familiärer und außerhäuslicher Kinderbetreuung wählen können um sich somit zwischen unterschiedlichen familiären Rollenmodellen zu entscheiden (vgl. Salles 2009: 3-8.).

Die vorliegende Arbeit betrachtet das Politikfeld (Policy) der Familienpolitik im innereuropäischen Vergleich aus der Gender-Perspektive. Anlass für diese Themenwahl ist die steigende Importanz der Familienpolitik im institutionellen Kontext politischer Systeme in Europa. Deutschland belegt mit einer Geburtenrate[3] von 1,39 Kindern pro Frau im Jahr 2010 einen Platz im untersten Drittel innerhalb der EU.[4] Eine dauerhaft niedrige Geburtenrate wird in absehbarer Zukunft negative Folgen für das Renten- und Sozialsystem haben (vgl. Kühn 2004: 13-14.). Blicken wir auf unsere europäischen Nachbarn, so ist festzustellen, dass neben Island, Irland und Großbritannien insbesondere Frankreich und die skandinavischen Länder mit Geburtenraten zwischen 1,87 und 2,20 Kindern pro Frau im Jahr 2010 der demografischen Entwicklung der Bundesrepublik weit voraus sind.[5] Das aktuelle Demografieproblem hat die Bundesregierung zum Ausbau und zur Erweiterung familienpolitischer Maßnahmen veranlasst. Betrachtet man die deutsche Familienpolitik aus einer gesamteuropäischen Perspektive wirft dies die Frage auf, was Deutschland von seinen europäischen Nachbarländern hinsichtlich seiner institutionellen Strukturen (polity) und unterschiedlichen policy-Orientierungen im Bereich der Familienpolitik lernen kann.

Für den komparativen Vergleich werden dazu mit Deutschland, Schweden und Frankreich beispielhaft drei europäische Länder, die ein jeweils unterschiedliches wohlfahrtsstaatliches Modell aufweisen, herausgegriffen. Ein Klassiker in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist dabei das 1990 erschienene Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ des dänischen Politikwissenschaftlers und Soziologen Gøsta Esping-Andersen. Gemäß der Einteilung Esping-Andersens gibt es drei verschiedene wohlfahrtsstaatliche Modelle. Das Erste ist das Modell des liberalen Wohlfahrtsstaates, welcher nur ein Minimum an sozialstaatlichen und familienpolitischen Leistungen bereitstellt. Dieser Klassifizierung sind vor allem Nicht-Mitglieder der EU wie die USA, Kanada oder die Schweiz zuzurechnen. Der zweite Regime-Typus ist der konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaat, der durch ein traditionelles Familienbild und dem Festhalten am Subsidiaritätsprinzip[6] geprägt ist. Sowohl Deutschland als auch Frankreich werden diesem wohlfahrtsstaatlichen Regime-Typus zugeordnet (vgl. Esping-Andersen 1990: 26-27.). Allerdings sind diese beiden Länder durch unterschiedliche Familienleitbilder und familienpolitische Regulierungen geprägt. Während in Frankreich am häufigsten das „modifizierte männliche Ernährermodell“, welches aus zwei erwerbstätigen Eltern mit einer geringeren Erwerbstätigkeit der Frau besteht, praktiziert wird, kennzeichnet sich Deutschland noch immer durch das „modernisierte Ernährermodell“. Das auch unter der Bezeichnung „modernisierte Versorgerehe“ bekannte Modell hat einen hohen Anteil an teilzeiterwerbstätigen Frauen (vgl. Hülskamp/Seyda 2004: 33.). Ein Kennzeichen des französischen Familienmodells ist neben der erhöhten Geburtenrate und dem Prinzip der Wahlfreiheit die als vorbildlich geltende Vereinbarkeit von Familie und Beruf (vgl. Salles 2009: 3.). Schweden allerdings ist als sozial-demokratischer Wohlfahrtsstaat von Universalismus und Gleichberechtigung geprägt (vgl. Esping-Andersen 1990: 26-29.). Als Leitbild schwedischer Familienpolitik fungiert das so genannte „Doppelversorgermodell“ welches in der Soziologie auch als „universales Ernährermodell“ bezeichnet wird (Hülskamp/Seyda 2004: 32.). Dieses Modell impliziert, dass sowohl Männer als auch Frauen innerhalb eines Haushaltes in gleichem Maße erwerbstätig sind. Die schwedische Familienpolitik hat sich mit der Einführung des Elterngeldes im Jahre 1974 bereits früh an einem egalitären Rollenmodell ausgerichtet, sodass es in den 1990er Jahren sogar zum Land mit der größten Geschlechtergerechtigkeit in Europa erklärt wurde (vgl. Kolbe 2002: 200-252. und Gould 2001: 110.). Bei der Einführung des Elterngeldes in Deutschland im Januar 2007 fungierte das schwedische Modell als Vorbild für die deutsche Familienpolitik, ein echtes „Doppelversorgermodell“ im schwedischen Sinne wurde in Deutschland bislang aber noch nicht etabliert. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen verhindern staatliche Anreize, insbesondere das Ehegattensplitting, die Entwicklung eines egalitären Rollenmodells in Deutschland (vgl. Eichhorst/Kaiser/Thode/Tobsch 2008: 58-68.), zum anderen existiert in Deutschland ein eher traditionell-veranlagtes geschlechtliches Rollenverständnis, welches der Etablierung des „Doppelversorgermodells“ entgegenwirkt (vgl. Rötter 2011: 50-51). Dieses Ergebnis zeigt, dass die familienpolitischen Maßnahmen Schwedens nicht mit demselben Erfolg auf die deutsche Gesellschaft angewandt werden können. Daraus lässt sich wiederum die Vermutung ableiten, dass ein Zusammenhang bzw. eine Wechselwirkung zwischen staatlicher Familienpolitik und geschlechtlichen Rollenverständnissen besteht. Für die innereuropäische Perspektive ergibt sich daraus folgende Fragestellung:

Inwiefern haben familienpolitische Leitbilder in Deutschland, Schweden und Frankreich zur Herausbildung von unterschiedlichen geschlechtlichen Rollenverständnissen beigetragen, welche Bedeutung hat dabei das geschlechtliche Rollenverständnis auf die Umsetzung und Annahme familienpolitischer Maßnahmen?

Anhand dieser Fragestellung soll in einem Drei-Länder-Vergleich die gegenseitige Wechselwirkung von familienpolitischen Leitbildern und gesellschaftlichen Akteuren untersucht werden. Besonderes Augenmerk ist dabei auf den Einfluss geschlechtlicher Rollenvorstellungen bei der Annahme und Umsetzung familienpolitischer Regulierungen gerichtet. Dazu werden mit Deutschland, Schweden und Frankreich drei unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Modelle mit verschiedenen policy-Orientierungen innerhalb der Familienpolitik betrachtet. Während die schwedische Familienpolitik insbesondere die Schaffung von Geschlechtergleichheit zum Ziel hat, ist Frankreich innerhalb der Europäischen Union für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf bekannt. Deutschlands Familienpolitik hingegen befindet sich noch immer in einem Transformationsprozess, dessen Richtung an Hand des Ländervergleiches näher betrachtet werden soll. Als theoretischer Überbau zur Beantwortung der Fragestellung dient neben der Gender-Perspektive die politikwissenschaftliche Theorie des Neo-Institutionalismus, welche verschiedene Erklärungsansätze für den Einfluss von Institutionen auf soziale und politische Entwicklungen liefert. So soll unter Berücksichtigung des Rational Choice, des Historischen und des Soziologischen Institutionalismus wie auch unter Bezugnahme auf den akteurszentrierten Institutionalismus von Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf die Frage nach der Entstehung von Leitideen und deren Einfluss auf die maßgeblichen Akteure in der Familienpolitik geklärt werden. Schwerpunkt der Untersuchung bildet dabei die Analyse der Wechselwirkung von institutionellen Regelungen und gesellschaftlichen Einflüssen. Den oben angeführten Überlegungen liegt dabei folgende These zugrunde:

Die nationale Familienpolitik eines Landes steht in einem Wechselverhältnis mit dessen gesellschaftlichen Rollenverständnissen, wobei einerseits familienpolitische Leitbilder geschlechtliche Rollenvorstellungen prägen können, andererseits ist die Annahme familienpolitischer Maßnahmen abhängig von vorherrschenden geschlechtlichen Rollenbildern.

Die Untersuchung von Fragestellung und These erfolgt auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Die erste Ebene ist die Polity-Ebene, an Hand derer die institutionellen Strukturen und Anreize der staatlichen Familienpolitik ebenso wie die propagierten familienpolitischen Leitbilder in den drei angeführten Ländern analysiert werden. Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang strukturelle Eigenschaften der drei Länder aufgezeigt. Die zweite Ebene ist die Prozessebene, auch Politics genannt. Auf dieser Ebene soll die Rezeption familienpolitischer Leitideen durch die gesellschaftlich relevanten Akteure und deren Interaktion untereinander überprüft werden. Die Arbeit ist dazu in acht Abschnitte gegliedert. In den ersten beiden Kapiteln wird jeweils eine definitorische Auseinandersetzung mit dem Familien- sowie mit dem Genderbegriff als Grundlage für die weitere Arbeit vorgenommen. Das Drittel Kapitel dient der inhaltlichen Vorstellung der Theorie des Neo-Institutionalismus mit seinen theoretischen Ausrichtungen. Im Anschluss daran wird die Entstehung des Rollenbegriffes in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Einfluss des Feminismus in Deutschland, Schweden und Frankreich erörtert. Die darauffolgenden drei Kapitel bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit. Dort werden die familienpolitischen Modelle Schwedens, Deutschlands und Frankreichs nacheinander erläutert. Zudem wird die Wechselbeziehung von Leitideen und gesellschaftlichen Rollenvorstellungen anhand einheitlich festgelegter Variablen und zusätzlich unter Miteinbeziehung der Theorie des Neo-Institutionalismus untersucht. Dazu werden zunächst die strukturellen Eigenschaften des jeweiligen Landes mit Hilfe der Variablen Bevölkerungsstruktur, Ökonomie sowie politisches System herausgearbeitet. Im Anschluss daran werden durch die Analyse des Einflusses von politisch-gesellschaftlichen Gruppen, gesellschaftlichen Werten (wie z.B. Religion, Ehe, Familie) und darüber hinaus der Bedeutung von Sprache die institutionellen Rückkoppelungsprozesse als Variablen der gesellschaftlichen Einflüsse untersucht. In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen unter dem Aspekt des Zusammenwirkens von Leitideen und gesellschaftlichen Akteuren zusammengefasst und gegeneinander abgeglichen. In diesem Kontext wird auch eine kurze Bewertung der deutschen Familienpolitik vorgenommen.

Der Forschungsstand zur Familienpolitik ist insgesamt als sehr hoch zu bewerten, gerade Anfang der Jahrtausendwende sind zahlreiche neue Werke zur Familienforschung erschienen. Im Zuge des demografischen Wandels in Europa wird diesem Policy-Bereich sowohl auf politischer Ebene und in den Medien als auch in der Wissenschaft verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet. Die vorliegende Arbeit wurde auf der Grundlage ausgewerteter Sekundärliteratur und Studien des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) verfasst. Zu den wichtigsten Werken zählen der Sammelband „Lebensbedingungen von Familien in Deutschland, Schweden und Frankreich. Ein familienpolitischer Vergleich“ (2011), herausgegeben von Tanja Mühling und Johannes Schwarze sowie die Eurostat-Studie „Das Leben von Frauen und Männern in Europa. Ein statistisches Porträt“, erschienen im Jahr 2008.

2 Familie- Definitionen und Vorstellungen

Familie – ein Begriff, der in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet wird und dabei meist selbsterklärend erscheint. Setzt man sich allerdings genauer mit dem Familienbegriff auseinander, so überrascht zunächst die Feststellung, dass es innerhalb der Wissenschaft keine allgemeingültige Definition von ‚Familie‘ gibt (vgl. Fuhs 2007: 25.). Das Forschungsfeld der vorliegenden Arbeit ist die Familienpolitik mit den dort inbegriffenen familienpolitischen Leitideen. Aus diesem Grund ist für das weitere Gelingen dieser Arbeit zunächst eine Klärung des Familienbegriffes sowie die Festlegung einer Arbeitsdefinition des Begriffes ‚Familie‘ notwendig. In diesem Kapitel werden dazu verschiedene Definitionen und Familienmodelle erläutert, von denen eine als Grundlage für die Bearbeitung von Fragestellung und These ausgewählt werden wird. Im Anschluss daran wird erörtert welche gesellschaftliche Grundfunktionen der Begriff der Familienpolitik umfasst und welche ‚Leitbilder‘ mit diesem Begriff verbunden werden. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und auf die Vergleichsländer Deutschland, Schweden und Frankreich angewandt.

Der für das Feld der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung bekannte dänische Soziologe Gøsta Esping-Andersen stellte bei seinen Forschungen über Wohlfahrtsstaaten fest, dass Wohlfahrtsregime sich insbesondere durch das Zusammenwirken von Staat, Markt und Familie definieren und charakterisieren lassen (vgl. Esping-Andersen 1999: 35.). Dabei muss allerdings beachtet werden, dass ‚die Familie‘ keine „homogene Institution“ (Fuhs 2007: 24.) sei, sondern differenziert betrachtet werden muss. Vor allem zeitliche, räumliche, kulturelle und soziale Zusammenhänge wirken auf die Konstituierung des Familienbegriffes mit ein. Das Verständnis von Familie hat sich im Laufe der Jahre verändert und wird darüber hinaus von lokalen und kulturellen Gegebenheiten beeinflusst (vgl. Fuhs 2007: 23.). Besonders deutlich wird diese Beobachtung an den bestehenden Unterschieden in der Auffassung von Familie in Europa. So wird in Deutschland mit dem Familienbegriff weitestgehend die so genannte „Kleinfamilie“ (Fuhs 2007: 22.), bestehend aus einer Ehe zwischen Mann und Frau mit mindestens einem gemeinsamen Kind, assoziiert. In Schweden hingegen verlor die Ehe bereits in den 1960er Jahren ihre direkte Konnotation mit der Elternschaft. Das französische Familienverständnis hat sich, ähnlich wie in Deutschland und Schweden, Ende des 19. Jahrhunderts von der ‚Drei-Generationen-Familie‘ auf die Kernfamilie reduziert und beläuft sich insbesondere auf Unabhängigkeit, gerade mit Bezug auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft.[7] Diese länderspezifischen Unterschiede im Familienverständnis verdeutlichen, dass die Familie eine „historisch bedingte Sozialform“ (Gerlach 2004: 37.) ist, die sich im Zusammenhang des sozialen Wandels als eine „höchst gesellschaftlich variable Institution“ (Gerlach 2004: 37.) erwiesen hat. Aus diesem Grund könne die Politik gemäß der Auffassung der Feministin Jane Lewis auch nicht mehr vom Standard der „Zwei-Eltern-Familie“ (Lewis 2004: 66.), die gleichbedeutend mit der Kernfamilie ist, oder von dem Standard der Stabilität der Familie ausgehen. Die Tatsache, dass die Vater-Mutter-Kind Beziehung zur Definition einer Familie heutzutage nicht mehr ausreicht, lässt die Frage aufkommen an Hand welcher Kriterien sich der Familienbegriff überhaupt noch festlegen lässt? Im „Handbuch für Familie“ (2007) werden diesbezüglich vier „ökopsychologische Merkmale der Familie“ (Fuhs 2007: 22.) benannt. Das erste Merkmal ist in dem ‚Makrosystem‘, welches die übergeordneten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt, zu finden. Demzufolge können mehrere Menschen in den verschiedensten Konstellationen zusammenleben wie, z.B. ehelich oder nicht-ehelich und gemeinsame oder getrennte wirtschaftliche Verhältnisse aufweisen. Das zweite Merkmal ist das ‚Exosystem‘, welches aus diversen sozialen Verpflichtungen wie z.B. Verwandtschaft, Ehe, Selbstständigkeit oder Abhängigkeit besteht. Das dritte Merkmal, das ‚Mesosystem‘, geht der Frage nach der Anzahl von Kindern in einem Haushalt, welche entweder leiblich oder adoptiert sein können, nach. Das vierte und letzte Merkmal dieser ausführlichen Merkmalsliste ist das der Partnerschaft. So kann die in einem Haushalt lebende Person bzw. Personen Single oder in einer hetero- oder homosexuellen Partnerschaft leben, die individuell ausgestaltet und geprägt sein kann (vgl. Fuhs 2007: 26ff.).

Die oben genannten öko-psychologischen Merkmale der Familie zeigen die Vielfalt und Varianz der Lebensform ‚Familie‘. Das Konzept der Kleinfamilie bzw. der Vater-Mutter-Kind Beziehung bildet allerdings weiterhin die Grundlage des deutschen Familienrechtes. Im ‚Handbuch für Familie‘ wird die Familie deshalb auch als „eine Lebensform, die mindestens ein Kind und einen Elternteil umfasst und einen dauerhaften und im Inneren durch Solidarität und persönliche Verbundenheit charakterisierten Zusammenhang aufweist“, bezeichnet (Peuckert 2008: 36.). Die „moderne Kleinfamilie“ (vgl. Peuckert 2008: 36.) wird dabei als eine spezielle Familienform verstanden, die aus einer ehelichen Gemeinschaft der Eltern mit ihren leiblichen Kindern besteht.

Für die vorliegende Arbeit wird die Familiendefinition von Hülskamp und Seyda (2004) als Grundlage für die weitere Analyse des wechselseitigen Einflusses zwischen familienpolitischen Leitbildern und geschlechtlichen Rollenverständnissen übernommen. Diese Familiendefinition ist dem Leitbild der ‚modernen Kleinfamilie‘ sehr ähnlich und wird durch folgende zwei Elemente charakterisiert: Das Erste ist das funktionale Element, das die Existenz einer Generationenbeziehung, in der die ältere Generation für die jüngere Generation Verantwortung übernimmt, und somit das Vorhandensein von Kindern vorschreibt. Das zweite Element ist struktureller Natur und umfasst das Zusammenleben dieser mindestens zwei Generationen innerhalb eines Haushaltes (vgl. Hülskamp/Seyda 2004: 8ff. und Gerlach 2004: 38.). Die moderne Kleinfamilie ist, auch wenn sie mittlerweile durch alternative Lebensformen und höhere Scheidungsraten zurückgedrängt wird, für die weitere Analyse in dieser Arbeit dennoch interessant, da im Zuge des Ländervergleiches auch die geschlechtlichen Rollenbeziehungen sowie häusliche Aufgabenverteilungen wie z.B. Hausarbeit und Kindererziehung und weiterhin die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zwischen den Geschlechtern untersucht werden sollen. Dazu wird die Familiendefinition in dieser Arbeit auf die heterosexuelle Paarbeziehung bzw. auf die Ehe zwischen Mann und Frau begrenzt, der gesellschaftliche Stellenwert von Homosexualität und seine Bedeutung für die Ausgestaltung der Familienpolitik in den drei Vergleichsländern wird dabei als eine Variable gesellschaftlicher Einflüsse jeweils separat betrachtet.

Aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive übernimmt die Familie fünf Grundfunktionen: die Reproduktions-, Haushalts-, Altersvorsorge-, Erholungs- und Sozialisationsfunktion (vgl. Gerlach 2004: 39.). Durch Sozialisation innerhalb der Familie werden Werte, Normen, Regeln und Strukturen der Gesellschaft von der älteren an die jüngere Generation weitergegeben. Somit werden auch geschlechtliche Rollenvorstellungen zunächst von einer Generation an die andere weitergetragen und im Zuge des sozialen Wandels weiterentwickelt. Die Familienpolitik hat als „Politik für Familie“ (Cramer 1982: 52.) die Aufgabe die Funktionen der Familie für das Individuum, die Gesellschaft und den Staat durch eine „ressortübergreifende Strukturpolitik“ (Cramer 1982: 56.) zu schützen. Familienpolitik ist demnach eine Politik, welche in die verschiedensten gesellschaftspolitischen Bereiche und Ebenen eingreift. So tangiert sie mit gesetzlichen Regulierungen den rechtlichen und mit zweckgebundenen staatlichen Maßnahmen den wirtschaftlichen Status der Familie. Des Weiteren wird die familiale Umwelt durch das Vorhandensein infrastruktureller Einrichtungen für Familien sowie durch staatliche Maßnahmen, die auf die Bewusstseinslage innerhalb der Bevölkerung abzielen, beeinflusst (vgl. Cramer 1982: 55-57.). Die Familienpolitik kann durch das Propagieren gewisser ‚Familienleitbilder‘ einen öffentlichen Diskurs über verschiedene Familientypen bzw. Familienmodelle anregen und prägen. In der Wissenschaft gibt es dazu verschiedene etablierte Familienmodelle. Das ‚universale Ernährermodell‘ oder auch ‚Doppelversorgermodell‘ ist das Egalitärste der insgesamt vier Modelle. In diesem Modell tragen beide Elternteile in gleichem Maße zum Haushaltseinkommen bei. Es ist überwiegend in den skandinavischen Ländern, u.a. in Schweden, verbreitet. Das als ‚modifiziertes männliches Ernährermodell‘ bezeichnete Familienmodell besteht ebenfalls aus zwei erwerbstätigen Elternteilen, wobei die Frau eine geringere Erwerbstätigkeit ausübt als der Mann. Dieses Modell wird überwiegend in Frankreich oder Belgien praktiziert. Die ‚modernisierte Versorgerehe‘, die auch unter der Bezeichnung ‚modernisiertes Ernährermodell‘ bekannt ist, zeichnet sich durch einen hohen Anteil an teilzeiterwerbstätigen Frauen aus. Es ist das Modell, welches noch immer in Deutschland am häufigsten vorzufinden ist. Das letzte Modell ist das ‚männliche Ernährermodell mit weiblicher Vollzeitbeschäftigung‘. Hier ist der Mann in der Regel Alleinverdiener und die Frau ist, im Falle ihrer Erwerbstätigkeit, ebenfalls in Vollzeit tätig. Es ist das Modell mit der geringsten egalitären Ausrichtung und wird überwiegend in Südeuropa praktiziert (vgl. Hülskamp/Seyda 2004: 33.).[8]

In der vorliegenden Arbeit geht es im Schwerpunkt um den Einfluss familienpolitischer Leitbilder auf real praktizierte Familienmodelle in den drei Vergleichsländern. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die empirisch gelebten Familienmodelle oftmals von den propagierten Leitbildern abweichen oder zumindest Unterschiede zwischen Theorie und Praxis bestehen (vgl. Gerlach 2004: 37.). An dieser Stelle sei ebenfalls zu erwähnen, dass Familienbilder kontingent, d.h. sozial wandelbar, sind. Was aber genau beinhaltet der Begriff der Familien(leit)bilder? Familienbilder oder Familienleitbilder sind „kollektive Vorstellungsinhalte“ (Cyprian/Heimbach-Steins 2003: 15.) zur Lebensform Familie. Diese gemeinsamen Deutungsmuster von Familie sind Gegenstand verschiedenster öffentlicher Diskurse und umfassen die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche (vgl. Kapitel 6.2, 7.2 und 8.2). Trotz des multidimensionalen und interdisziplinären Charakters des familienpolitischen Diskurses herrscht in der wissenschaftlichen Literatur weitestgehend Einigkeit darüber, dass der staatlichen Familienpolitik Grenzen zu setzen sind. Diese Grenze wird vor allem in der Eigenverantwortung der Familie als kleinste gesellschaftliche Institution gesehen, an der sich die Familienpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip auszurichten habe (vgl. Cramer 1982: 55.). Wo diese Grenze vom Staat gezogen wird ist allerdings vom jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Modell und dessen Ausrichtung am Gender-Konzept abhängig. Was aber genau umfasst der für die wissenschaftliche Wohlfahrtsstaatsforschung so an Bedeutung gewonnenen Begriff ‚Gender‘?

3 Was ist Gender?

Die Bezeichnung ‚Gender‘ ist ein Begriff aus der Differenztheorie[9] der Geschlechterforschung (vgl. Kapitel 5.2) und bezeichnet die Geschlechtsidentität eines Subjektes. Dabei wird das Geschlecht als ein Ergebnis komplexer sozialer Prozesse in Abgrenzung zum biologischen Geschlecht, welches als ‚sex‘ bezeichnet wird, verstanden (DIE ZEIT 2005: 343.). In der feministischen Theorie hat sich insbesondere die amerikanische Philosophin Judith Butler mit der Unterscheidung der Begriffe ‚sex’ und ‚Gender‘ im Zusammenhang mit der Erforschung von Geschlecht und Identität befasst (vgl. Kapitel 5.2). Der ‚Gender‘-Begriff beinhaltet nämlich auch die Selbstwahrnehmung von Männern und Frauen und daraus resultierend ihr gesellschaftliches Rollenverhalten. Demnach davon ausgegangen, dass Individuen ihr Handeln nach den von der Gesellschaft vorgegebenen Rollenerwartungen strukturieren würden, ohne dass es sich beim ‚Gender-Konzept‘ zwangsläufig um einen konstruktivistischen Ansatz handelt (vgl. Mihciyazgan 2008: 51.). Ein Konzept, welches sich eingehend mit der Nivellierung geschlechtsabhängiger Ungerechtigkeiten zur Herstellung von Geschlechterdemokratie beschäftigt ist das Konzept des ‚Gender Mainstreaming‘. Der Begriff des ‚Gender Mainstreaming‘ wurde 1995 auf der Weltfrauenkonferenz in Peking entwickelt und zwei Jahre später von der Europäischen Union in den Vertrag von Amsterdam integriert (vgl. DIE ZEIT 2005: 343.). Diesem Konzept zufolge soll in alle Entscheidungsprozesse auf sämtlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen die Geschlechterperspektive mit einbezogen werden. Aus diesem Grund werden aus der Perspektive des ‚Gender Mainstreaming’ auch alle politischen und gesellschaftlichen Akteure als für die Geschlechterfrage zuständig betrachtet (vgl. Petterson 2004: 11.). ‚Doing Gender‘ ist ein mit der Tradition des Gender Mainstreaming verwandtes Konzept, das über das ursprüngliche Gender-Schema hinausgeht und die konstruktivistische Komponente von Geschlecht als eine feste Größe mit einbezieht. Werden bestimmte geschlechterrollenspezifische Tätigkeiten durch das damit konnotierte sex ausgeführt dann wird dieser Prozess als ‚Doing Gender‘ bezeichnte. Wäscht zum Beispiel eine Frau die Wäsche, so zeigt sie mit dieser Tätigkeit, dass sie eine Frau ist – „she is doing gender“ (vgl. Blossfeld 2011: 64.). Die Geschlechtszugehörigkeit und -Identität wird als ein fortlaufender Herstellungsprozess betrachtet, in den die verschiedensten institutionellen Ressourcen mit einfließen. Das jeweilige ‚Gender‘ wird somit zu einem Ergebnis komplexer sozialer Prozesse. Wurde das Geschlecht früher als natürlich gegeben betrachtet so wird es im Rahmen von ‚Doing Gender‘ als sozial konstruiert verstanden. Der Prozess der Interaktion der Akteure untereinander stellt dabei eine eigene Analyseebene in der Geschlechterforschung dar (vgl. Gildemeister 2004: 132-133.). Eine politikwissenschaftliche Theorie, die genau diesen Prozess der Interaktion und des gegenseitigen Einflusses von Akteuren und institutionellen Ebenen zum Gegenstand hat ist die Theorie des Neo-Institutionalismus. Aus diesem Grund soll der Institutionalismus im folgenden Kapitel näher erörtert werden.

4 Die Theorie des Neo-Institutionalismus

Der Neo-Institutionalismus ist eine politische Theorie, die in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt wurde um die Rolle und den Einfluss von Institutionen auf soziale und politische Entwicklungen zu erklären (vgl. Hall/Taylor 1996: 936.). Da neben den beiden Begriffen „Gender“ und „Familie“ auch die inhaltliche Bedeutung der „Institution“ von Relevanz für die vorliegende Arbeit ist, soll mit Hilfe der Theorie des Neo-Institutionalismus die Frage nach dem wechselseitigen Einfluss zwischen (institutionellen) Leitideen und dem Handeln der Akteure auf der Politics-Ebene im familienpolitischen Kontext untersucht werden. Aus diesem Grund werden im folgenden Kapitel zunächst die drei grundlegenden theoretischen Strömungen des Neo-Institutionalismus (Historischer Institutionalismus, Rational Choice Institutionalismus und Soziologischer Institutionalismus) sowie der akteurszentrierte Institutionalismus nach Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf (1995) vorgestellt und mit Blick auf ihr Verständnis des Institutionenbegriffes erläutert.

Grundsätzlich gibt es im theoretischen Konstrukt des Neo-Institutionalismus keine einheitliche Definition des Institutionenbegriffes, da jede theoretische Ausprägung andere Schwerpunkte im Verständnis von Institutionen aufweist (vgl. Streek/Thelen 2005: 9.). Gemeinsam ist allen begrifflichen Auslegungen jedoch die Auffassung von Institutionen als „building-blocks of social order“ (Streek/Thelen 2005: 9.), d.h. Institutionen bilden Regelsets für das Verhalten von Akteuren. Durch die Aufteilung des Akteursverhaltens in Rechte und Pflichten tragen Institutionen zur Strukturierung und Vorhersagbarkeit des Akteursverhaltens bei (vgl. Streek/Thelen 2005: 9.). Die Theorie des Neo-Institutionalismus beschäftigt sich, neben der begrifflichen Definition von Institutionen, mit den Beziehungen zwischen Individuen und Institutionen, dem individuellen Verhalten der Akteure sowie mit dem Wandel von Institutionen. An Hand dieser vier Kriterien werden im Folgenden die drei „neuen Institutionalismen“ (Hall/Taylor 1996: 936.) kurz vorgestellt und verglichen. Dabei sind vor allem das Verhältnis zwischen Individuum und Institution sowie die Begründungen für den institutionellen Wandel von Bedeutung. In Verbindung mit dem Wandel von Institutionen bildet der Begriff der „Pfadabhängigkeit“ ein wichtiges Kriterium. Unter Pfadabhängigkeiten ist in der Politikwissenschaft ein analytisches Konzept zu verstehen, dass Prozessmodelle beschreibt, die ähnlich aufgebaut sind wie ein Pfad oder auch ein Baum: Alle Prozesse entstammen zu Beginn einem gemeinsamem Ursprung, später tun sich allerdings verschiedene Gabelungen und Kreuzungen auf, an denen die Entscheidung in eine spezifischere Richtung getroffen werden muss. Sobald eine Institution oder ein Land eine bestimmte Richtung eingeschlagen hat, erschweren hohe Kosten die Umkehr in eine andere Richtung (vgl. Levi 1997: 28, zit. nach Pierson 2000: 252.).

Die Sichtweisen der drei neuen Institutionalismen auf das Verhältnis zwischen Individuum und Institution sowie auf die Begründung für den Wandel von Institutionen sind Thema des nachfolgenden Abschnittes.

4.1 Drei Richtungen des Neo-Institutionalismus

Im Folgenden werden die drei verschieden, oben genannten, Ansätze des Neo-Institutionalismus erläutert.

Der Rational Choice Institutionalismus (RCI) hat ein enges Verständnis des Institutionenbegriffes. So versteht der RCI Institutionen als normative Regelsets, die den rationalen Akteuren durch Selbstbindung zur Nutzenmaximierung verhelfen. Die Beziehung zwischen Individuum und Institution ist also rational begründet, indem Institutionen individuelles Verhalten durch Regeln begrenzen. Die Individuen bzw. Akteure hätten sich wiederum aus Gründen rationaler Selbstbindung und individueller Nutzenmaximierung im Sinne eines „Homo Oeconomicus“ der Einhaltung dieser Regelsets unterworfen. Der RCI betont mit seinem theoretischen Konstrukt also die Rolle der strategischen Interaktion zwischen Individuum und Institution bei der Bestimmung des politischen „Outcome“ (Hall/Taylor 1996: 945.). Das Verhältnis zwischen Individuum und Institution ist somit eindimensionaler Natur, da die persönlichen Präferenzen der Akteure unabhängig von jeglichem institutionellem Einfluss gebildet werden. Lediglich die Handlungs- und Entscheidungsstrategien der Akteure können durch Institutionen beeinflusst werden (vgl. Schulze 1997: 10.). Mit Blick auf den Wandel von Institutionen gibt es im RCI die rationalistische Auffassung, dass dieser als ein exogener Vorgang durch eine bewusste Entscheidung der Akteure nutzenmaximierend zu handeln, als ein Ergebnis von Einzelentscheidungen der Akteure vollzogen wird (vgl. Schulze 1997: 22.).

Der Historische Institutionalismus (HI) beinhaltet, ähnlich wie der RCI, einen engen, aber differenzierten Institutionenbegriff, der Institutionen als formale und informelle Spielregeln einer Gesellschaft versteht, die als längerfristig wirksame Weichenstellungen für politische Entwicklungen dienen (vgl. Hall/Taylor 1996: 938.). Die zentrale Frage innerhalb der Theorie des Historischen Institutionalismus besteht darin, inwieweit Institutionen das Verhalten von Individuen beeinflussen. Mit Blick auf diese Beziehung zwischen Individuen und Institutionen vereint der Historische Institutionalismus zwei Sichtweisen. Die Erste ist der so genannte „cultural approach“ (Hall/Taylor 1996: 939.), der davon ausgeht, dass Institutionen die Identitäten, Selbstbilder und Präferenzen der Individuen bzw. Akteure beeinflussen und das Individuum insofern in Institutionen eingebettet ist. Die zweite Sichtweise ist rationalistischer Natur: Individuen und Institutionen stehen in „strategischer Interaktion“ (Hall/Taylor 1996: 939.) miteinander, d.h. Institutionen beeinflussen individuelle Handlungen der Akteure, indem sie die Erwartungen der Akteure an die Handlungen anderer Akteure verändern. In beiden Fällen jedoch haben Institutionen durch die Einflussnahme auf das Handeln der Akteure einen Effekt an politischen Entscheidungen. Das Akteursverständnis im HI ist dabei das eines „Homo Oeconomicus“ (Schulze 1997: 17.), der Institutionen als Mittel zur Interaktion begreift, jedoch auch von diesen in seiner Wahrnehmung und seinem Weltbild beeinflusst wird. Zwischen Akteuren und Institutionen besteht somit ein Wechselverhältnis (vgl. Schulze 1997: 16-18.). Institutioneller Wandel wird aus der Perspektive des Historischen Institutionalismus durch externe Schocks, den so genannten „critical junctures“ (Hall/Taylor 1996: 942.) hervorgerufen, die eine historische Entwicklung in eine neue Richtung lenken und somit einen langfristigen Wandel bewirken,. Der Wandel von Institutionen geschieht gemäß des theoretischen Konstrukts des Historischen Institutionalismus also von außen, quasi ‚top down‘, nicht von innen heraus und ist ein pfadabhängiger Prozess (vgl. Schulze 1997: 18.).

Der Soziologische Institutionalismus (SI) hat, im Gegensatz zum RCI, ein weit angelegtes Verständnis des Institutionenbegriffes. Institutionen werden demnach nicht nur als Regeln, sondern auch als Rahmen verstanden, die menschliches Handeln bzw. das Handeln der Akteure leiten (vgl. Hall/Taylor 1996: 947.). Dabei umfasst der Institutionenbegriff auch Symbole, Weltbilder und Organisationen (vgl. Hall/Taylor 1996: 14.). Diese Art der Definition des Institutionenbegriffes ist nicht nur breit angelegt, sie vermischt zudem die beiden Konzepte von Institution und Kultur und betont in der Beziehung zwischen Individuum und Institution den „cultural approach“. Gemäß dieses „cultural approach“ beeinflussen Institutionen das Verhalten der Akteure indem Individuen in bestimmte institutionelle Rollen hinein sozialisiert werden. Dieser Sozialisationsprozess bewirkt eine Anpassung der Individuen an die durch die Institutionen mit den Rollen vorgegebenen Verhaltensnormen. Das Akteursverständnis im SI entspricht also dem des „Homo Sociologicus“, der durch Werte und Normen beeinflusst wird. Institutionen haben somit aus der Perspektive des SI ganz klar eine Wirkung auf das Verhalten der Akteure und wirken sogar identitätsbildend. Mit Blick auf das Verhältnis von Institutionen und Akteuren besteht allerdings ähnlich wie im HI ein Wechselverhältnis mit einem interaktiven Charakter. Der institutionelle Einfluss auf das Individuum vollzieht sich dabei auf zwei Arten: Auf der einen Seite werden die Individuen durch institutionelle Normen geprägt, auf der anderen Seite stellen Institutionen den Akteuren Leitideen bereit, die dem Handeln der Individuen einen Sinn verleihen (vgl. Schulze 1997: 15.). Dadurch, dass die Identitäten und Selbstbilder der Individuen durch Institutionen geprägt und somit „sozial konstruiert“ (Hall/Taylor 1996: 949.) sind, ist auch der Einfluss der Akteure auf die Institutionen sowie deren Handeln sozial konstruiert. Das bedeutet, dass auch scheinbar rationale Handlungen der Akteure sozial konstruiert sind. Der Wandel von Institutionen wird gemäß Auffassung des SI mit dem Ziel der Verbesserung der gesellschaftlichen Legitimation von Institutionen ebenfalls durch das soziale Umfeld bestimmt.

Ein Blick auf die Stärken und Schwächen dieser drei institutionalistischen Ansätze lässt erkennen, dass sich der RCI besonders gut für die Erklärung des Bestehens von Institutionen eignet, da dieses Bestehen durch das Ziel der Akteure, durch die Selbstbindung an Institutionen ihren eigenen individuellen Nutzen zu maximieren und dabei miteinander im Wettbewerb stehen, erklärt wird. Der SI hingegen blendet den Interessenwettbewerb der Akteure untereinander völlig aus. Gemeinsam ist den Ansätzen des RCI und des SI hingegen die eindimensionale Ursachen-Wirkung-Kette unter Vernachlässigung der zeitlichen Dimension. Der RCI betrachtet nämlich die institutionelle Struktur als ein Ergebnis individuellen Akteursverhaltens während der SI das individuelle Verhalten als ein Produkt institutioneller Strukturen bewertet (vgl. Schulze 1997: 16.). Der HI nimmt wiederum die episodisch-zeitliche Dimension mit in Betracht. Insgesamt ist allen drei Ansätzen allerdings die Auffassung von Institutionen als normativen Regelsets gemeinsam, die in besonderer Form in Interaktion mit individuellen Akteuren stehen und deren Handeln mit gestalten. Bei der Analyse des Institutionen-Akteursverhältnisses stellt der RCI einen eher deduktiven Analyseansatz dar, der HI und der SI hingegen bedienen sich einer eher induktiven Vorgehensweise und sind somit für die Analyse der in dieser Arbeit zu untersuchenden Beispielländer besser geeignet (vgl. Schulze 1997: 21.).

Der nächste Abschnitt betrachtet nun diese Interaktion von Institution und Individuum genauer und fokussiert dabei insbesondere die Entstehung von institutionellen Leitbildern und –Ideen sowie deren Einfluss auf das Handeln von Akteuren.

4.2 Woher kommen Leitideen? Der akteurszentrierte Institutionalismus nach Mayntz/Scharpf

Der akteurszentrierte Institutionalismus, der im Jahre 1995 von Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf ausgearbeitet wurde, ist eine institutionalistische Theorie, die an den Neo-Institutionalismus anknüpft und durch ihren besonderen Fokus auf die Wechselwirkung zwischen Akteur und Institution breite Anwendung in der Politikwissenschaft gefunden hat (vgl. Schulze 1997: 6.). In Abgrenzung zum Neo-Institutionalismus beschränkt sich der Institutionenbegriff des akteurszentrierten Institutionalismus allerdings auf die Beschreibung politischer Institutionen als „Regelsysteme“ und hat somit ein sehr enges Institutionenverständnis (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 45.) Der akteurszentrierte Institutionenbegriff umfasst dabei nicht nur formale rechtliche Regelungen, sondern auch informelle Regelungen wie soziale Normen oder Erwartungen. Allerdings beinhaltet er im Gegensatz zum SI keine unhinterfragten Praktiken des Alltagslebens, da durch eine zu weite Auslegung des Institutionenbegriffes nach Auffassung von Mayntz und Scharpf der Handlungsspielraum der Akteure verloren gehe (vgl. Jakobi 2007: 9.). Dennoch beinhaltet der Institutionenbegriff nach Mayntz und Scharpf sowohl abhängige als auch unabhängige Variablen. Der institutionelle Rahmen ist im akteurszentrierten Institutionalismus dadurch latent unbestimmt und kontingent, dass er sozial konstruiert ist und soziale Phänomene grundsätzlich kontingent sind (vgl. Jakobi 2007: 10.).

Die Grundannahme des akteurszentrierten Institutionalismus besteht in der Auffassung von sozialen Phänomenen als ein Ergebnis von Interaktionen zwischen intentional handelnden Akteuren. Diese Interaktionen werden durch die institutionellen Regelsets auf verschiedene Art und Weise strukturiert. So konstituiert der institutionelle Rahmen die Akteurskonstellationen und strukturiert deren Verfügung über Handlungsressourcen und beeinflusst damit die Akteure in der jeweiligen Handlungssituation. Wichtig ist an dieser Stelle, dass der institutionelle Kontext zwar das Handeln der Akteure ermöglicht, es aber nicht bestimmt. Andererseits können Institutionen auch durch das Handeln der Akteure verändert werden, da der institutionelle Rahmen den Akteuren zum Teil erheblichen Handlungsspielraum einräumt. Wie allerdings genau Akteure Institutionen verändern können darauf geht die Theorie des akteurszentrierten Institutionalismus nicht weiter ein (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 45.). Fest steht lediglich, dass im akteurszentrierten Institutionalismus eine Wechselbeziehung zwischen akteursbedingtem Handeln und institutioneller Struktur besteht. Auf diese Weise versucht der akteurszentrierte Institutionalismus Eigenschaften des soziologischen Institutionalismus, der insbesondere den sozialisierenden Einfluss des institutionellen Rahmens betont und Merkmale des ökonomischen Institutionalismus, der insbesondere den Akteuren einen starken Handlungsspielraum einräumt, aufeinander zu vereinen.

Das handlungsleitende Erkenntnisinteresse des akteurszentrierten Institutionalismus bezieht sich neben der Beziehung zwischen Institution und Akteur im Allgemeinen auf die Interaktionen zwischen korporativen Akteuren, d.h. auf organisierte Personen-Mehrheiten bzw. Organisationen und gesellschaftliche Gruppen sowie auf deren Präferenzbildungsprozess (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 49.). Dabei werden sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Akteure als gesellschaftlich relevante Akteure in die Betrachtung mit einbezogen (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 4.). Als „kollektive Akteure“ (Mayntz/Scharpf 1995: 51.) gelten demnach Mitglieder einer sozialen Bewegung, dessen Handlungsorientierungen bewusst gleichgerichtet sind. Für die vorliegende Arbeit wird deshalb in Anlehnung an diese Erkenntnis des akteurszentrierten Institutionalismus im nächsten Kapitel der Einfluss der feministischen Bewegung auf die Familienpolitik untersucht. Zu unterscheiden ist dabei auch zwischen den handlungsleitenden Motiven der Akteure und ob dieses Handeln „ich-bezogen“, d.h. von individuellen Interessen gesteuert ist oder „systembezogen“, d.h. aus einer kollektiven Bewegung hervorgeht (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 52.). Unter dem Interessensbegriff verstehen Mayntz und Scharpf dabei „auf ein Subjekt bezogene Handlungsziele, die um des eigenen Überlebenserfolgswillen verfolgt werden“ (Mayntz/Scharpf 1995: 54.). Allerdings verfolgen im akteurszentrierten Institutionalismus nicht nur die individuellen Akteure ein oder mehrere Interessen, auch im institutionellem Rahmen sind bestimmte kollektive Werte in Form von so genannten „Leitideen“ (Jakobi 2007: 10.) vorhanden. Diese Leitideen können auch informelle Regelungen der Institutionen bestimmen. Sie bestimmen allerdings nicht die Interaktionen zwischen Individuum und Institution, da eine Leitidee auch den Interessen der Akteure nicht immer entspricht und unter den Akteuren oft kein Konsens über diese Leitidee besteht. Die Deutung und Interpretation dieser Leitidee ist zudem abhängig von bestehenden Interessen und Machtressourcen (vgl. Jakobi 2007: 11.). Das Konzept der Leitidee hinterlässt den Akteuren also wieder einen großen Handlungsspielraum.

Mayntz und Scharpf verfolgen mit der Theorie des akteurszentrierten Institutionalismus die Annahme, dass Akteure immer in konkreten Situationen handeln und Situationen dabei nur selektiv bestimmte Aspekte bereits vorhandener Handlungsorientierungen aktivieren (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 58-59.). Diese Handlungsorientierungen ergeben sich zum großen Teil aus der Identität des Akteurs und den normativen Erwartungen, die sich aus seiner sozialen Position im institutionellen Gefüge ergeben. Normative Rollenerwartungen bilden dabei teilweise systemweit gültige Werte und zeigen auf, welchen Einfluss die soziale Rolle des Akteurs auf seine Macht im Institutionengefüge ausübt (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 55-57.). Aus diesem Grund werden im folgenden Kapitel zunächst die Bedeutung von gesellschaftlichen Geschlechterrollen im theoretischen Kontext untersucht. Danach wird der Einfluss geschlechtlicher Rollenvorstellungen in Verbindung mit der Bedeutung der feministischen Bewegung für die institutionalisierte Familienpolitik in den drei Vergleichsländern überprüft.

5 Theoretische Überlegungen zur Konzeption von Geschlechterrollen

Der Rollenbegriff ist ein Element aus der Soziologie. Die Soziologie als „Wissenschaft vom Menschen“ (Dahrendorf 2010: 20.) befasst sich folglich mit dem Menschen in Gesellschaft als ihrem zentralen Untersuchungsgegenstand. Im Kontext der soziologischen Forschung ist insbesondere der Sozialisationsprozess des Menschen, d.h. die Beschreibung des Prozesses über das Mitglied-werden in einer Gesellschaft von Bedeutung. Ein Soziologe, der die Sozialisationstheorie entscheidend mitgestaltet und geprägt hat ist der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf. Dahrendorf betrachtet dabei den Menschen als einen „Homo Sociologicus“, ein gesellschaftliches Wesen, das als „Träger sozial vorgeformter Rollen“ (Dahrendorf 2010: 23) am Schnittpunkt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft steht. Dieser „Homo Sociologicus“ bildet das zentrale Element seiner weiteren Analyse zur Rollenproblematik. Den Rollenbegriff vergleicht Dahrendorf mit der Rolle eines Schauspielers im Theater, die dieser einnimmt, wenn er auf der Bühne steht. Die Rolle konstituiere sich dabei aus einem vorgegebenem „Komplex von Verhaltensweisen“ (Dahrendorf 2010: 25.), die sich in Kombination mit anderen Verhaltensweisen zu einem Ganzen zusammenspielen. Die einzelne Rolle ist also nur ein „Teil“ (lat. ‚pars‘ bzw. engl. ‚part‘ für ‚Rolle‘) eines Ganzen. Jeder Schauspieler bzw. „Homo Sociologicus“ muss seine Rolle lernen, er kann allerdings auch mehrere Rollen gleichzeitig ausüben (vgl. Dahrendorf 2010: 25.). Die gespielten sozialen Rollen ergeben sich dabei aus den Anforderungen der Gesellschaft an die „soziale Position“, d.h. aus dem Ort, den ein Individuum in einem „Feld sozialer Beziehungen“[10] (Dahrendorf 2010: 32.) einnimmt. Eine solche „soziale Position“ kann die Staatsangehörigkeit, der Beruf oder auch der Familienstand, wie z.B. Vater oder Mutter, sein. Mit den gesellschaftlichen Anforderungen an das Verhalten der Träger von sozialen Positionen sind neben bestimmten „Rollenattributen“, die sich an das Aussehen oder den Charakter richten, stets gewisse „Rollenerwartungen“[11] verknüpft, die dem Rollenträger ein bestimmtes „Rollenverhalten“ vorschreiben. Schwierigkeiten ergeben sich für den Akteur wenn es zu widersprüchlichen Erwartungen innerhalb einer Rolle, dem so genannten intra -Rollenkonflikt, oder zwischen zwei oder mehreren Rollen, d.h. einem inter -Rollenkonflikt, kommt (vgl. Dahrendorf 2010: 74-76.). Diese Rollenkonflikte sind v.a. mit Hinblick auf die Betrachtung der Familienpolitik aus der ‚Gender-Perspektive‘ interessant. Im institutionellen Gefüge unserer Vergleichsstaaten Deutschland, Schweden und Frankreich sollen die von der Gesellschaft geprägten normativen Rollenerwartungen an die soziale Position der Mutter und des Vaters in Bezug zu den staatlich vorgegebenen familienpolitischen Leitbildern gesetzt werden. Die Betrachtung des Sozialisationsprozesses aus der Geschlechterperspektive führt zu der Erkenntnis, dass auch die Zweigeschlechtlichkeit und die damit verbundenen gesellschaftlichen Rollenvorstellungen ein soziales Konstrukt sind (vgl. Bilden/Dausien 2006: 72-74). Der amerikanische Soziologe Peter L. Berger verweist in diesem Zusammenhang auf die Verknüpfung von gesellschaftlichen Rollen mit der Identität eines Individuums. Da Geschlechterrollen nur gesellschaftlich „erworbenen Rollen“ seien, sei folglich auch die geschlechtsspezifische Identität lediglich „von der Gesellschaft verliehen“ und somit ein institutionelles Konstrukt (Berger 2011: 121.). Erving Goffman geht mit seinem Konzept der „institutionellen Reflexivität“ über die Ebene des einzelnen Individuums hinaus und betrachtet das Arrangement der Geschlechter in einem übergeordneten institutionellen Kontext. Geschlechteridentität werde demnach durch „gesellschaftliche Sondierungsprozesse“ (Goffman2001: 42.) als Kategorie zur Lösung „organisatorischer Probleme“ sowie zur Herstellung sozialer Ordnung manifestiert. Mit der soziologischen These, dass es „vorgegebene soziale Orte für Männer und Frauen“ (Goffman 2001: 40.) gebe, betont Goffman die Rolle von Institutionen bei der Unterscheidung der beiden Geschlechterkategorien. Beispiele für Institutionen, die eine solche Segregation der Geschlechter fördern, sind u.a. die Paarbeziehung, der Arbeitsplatz und der Wettkampf mit den dazugehörigen Trennungen sowie die Familie als Sozialisationsinstanz. Diese institutionelle Reflexivität kennzeichnet sich laut Goffman insbesondere in der Idealisierung und Mythologisierung typisch weiblicher Rollenattribute wie Mutterschaft, Sanftheit und Anziehungskraft, wobei Frauen für Goffman eine benachteiligte Gruppe im Arrangement der Geschlechter darstellen. Biologisch bestimmbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestreitet Goffman nicht, allerdings diene der biologische Geschlechterunterschied als Prototyp zur Einteilung von Gesellschaft. Mit seiner Auffassung von Institutionen als Geschlechterarrangements konstruierenden Instanzen grenzt sich Goffman deutlich vom Konzept des „Doing Gender“ ab, welcher Geschlechtlichkeit als einen von Handelnden fortwährenden Herstellungsprozess versteht (vgl. Goffman 2001: 40-43.). Aus der liberalen Gender-Perspektive werden sozialen Institutionen jedoch ebenfalls reflexive Eigenschaften zugeschrieben, denen zufolge sozialer Wandel sowohl durch veränderte interne gesellschaftliche Werte als auch durch externe institutionalisierte Geschlechterarrangements eingeleitet werden kann (vgl. Kramer 2005: 180-181.). Bei den vier eingangs vorgestellten Strömungen des Neo-Institutionalismus ist ein solch reflexives Verständnis institutionellen Wandels vornehmlich in der Theorie des Soziologischen und des akteurszentrierten Institutionalismus erkennbar. Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsanalyse kommt mit Blick auf das Verhältnis von wohlfahrtsstaatlichem Modell und Geschlechterverhältnissen zu dem Ergebnis, dass sich kein allgemeingültiges Muster zwischen diesen beiden Variablen feststellen lässt. Die Entstehung unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen und den damit verbundenen Geschlechterregimes sei vielmehr abhängig von dem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren in den jeweiligen Ländern. Eine individuelle Kombination von historischen Entwicklungen, institutionellen Rahmenbedingungen (z.B. das politische System), kulturellen Leitbildern (z.B. geschlechtliche Rollenvorstellungen) und die Einflussnahme kollektiver Akteure (z.B. die Frauenbewegung) auf die Politikgestaltung prägen demnach das Geschlechtermodell des jeweiligen Wohlfahrtsstaates (vgl. Aulenbacher/Meuser/Riegraf 2010: 179-181.). Die deutsche Soziologin Dr. Birgit Pfau-Effinger differenziert dabei zwischen den Begriffen Geschlechterkultur, Geschlechterordnung und Geschlechter-Arrangement. Die in einer Gesellschaft existierenden kulturellen Leitbilder zur Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen bilden die Geschlechterkultur einer Gesellschaft. Diese ist durch die Verankerung von Normen in gesellschaftlichen Institutionen nur schwer veränderbar und ist sowohl Ursache als auch Folge des sozialen Handelns verschiedener Akteure. Die Geschlechterordnung hingegen beinhaltet die real existenten Geschlechterverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft sowie den Beitrag der Institutionen zur geschlechtlichen Arbeitsteilung. Der Begriff der Geschlechter-Arrangements ist der komplizierteste dieser drei begrifflichen Unterscheidungen. Er bezeichnet das Profil, welches sich als Resultat aus den sozialen Aushandlungsprozessen mit Blick auf die Geschlechterbeziehungen herausbildet (vgl. Pfau-Effinger 2000: 68-73.).

In den beiden folgenden Abschnitten werden zunächst die Veränderungen hinsichtlich geschlechtlicher Rollenvorstellungen bzw. der Geschlechter-Arrangements auf gesamteuropäischer Ebene betrachtet. Danach wird der Einfluss des Feminismus im gesellschaftlichen Kontext beleuchtet, bevor eine spezifische Analyse der Einflussfaktoren und Akteurskonstellationen der Familienpolitik für die jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Modelle der drei Vergleichsländer Deutschland, Schweden und Frankreich vorgenommen wird. Die Frage, die es nun vorerst zu klären gilt, ist die Frage nach der Herkunft und dem Wandel gesellschaftlicher Rollenvorstellungen.

5.1 Wie entsteht der Wandel von Geschlechterrollen?

Mit Beginn der 1960er Jahre hat sich in den letzten Jahrzehnten ein fulminanter geschlechtlicher Rollenwandel in nahezu allen modernen Gesellschaften vollzogen. Insbesondere Frauen sind auf die Arbeitsmärkte vorgedrungen und haben die institutionellen Strukturen dort verschoben. Die Erklärungsansätze, die in der wissenschaftlichen Literatur für diese Beobachtung geliefert werde, sind vielfältig. Sie reichen von der eher konkreten Argumentation der Bildungsexpansion, Arbeitsplatzunsicherheit und Mechanisierung des Haushaltes über den Wandel von der Industrie- zur postindustriellen Gesellschaft bis hin zu der Theorie eines generellen Wertewandels in der Gesellschaft (vgl. Lück 2009: 289-292.). Allerdings sind diese Begründungen für den Geschlechterrollenwandel nicht in gleichem Maße auf alle westlichen Industriegesellschaften überführbar, da dieser Wandel jeweils durch unterschiedliche Faktoren begünstigt wurde und sich in den einzelnen Ländern in unterschiedlichem Maße vollzogen hat, wie Ergebnisse aus der ländervergleichenden Wohlfahrtsstaatsanalyse verdeutlichen (vgl. Aulenbacher/Meuser/Riegraf 2010: 180.). Dennoch kommt der dänische Wohlfahrtsstaatsforscher Esping-Andersen in seinem neuesten Werk „The Incomplete Revolution. Adapting to Women‘s New Roles“ (2009) zu dem Ergebnis, dass sich seit Ende des 20. Jahrhunderts ein neues Geschlechtergleichgewicht aufgrund einer veränderten gesellschaftlichen Rolle der Frau in den modernen Gesellschaften vollzogen hat. Dieser Wandel, den Esping-Andersen als neues „gender-equality equilibrium“ (Esping-Andersen 2009: 10.) bezeichnet, ist vielmehr ein noch nicht abgeschlossener Transformationsprozess, der sich auf drei Ebenen des Wohlfahrtsstaates vollzieht und diese in Relation zueinander stellt: die Familie bzw. die privaten Haushalte, die Ökonomie und die Regierung (vgl. Esping-Andersen 2009: 79.). Das gewandelte Rollenverständnis der Frau hat zugleich auch einen Wandel in der Ausgestaltung diverser Institutionen auf diesen drei Ebenen ausgelöst. Statt der traditionellen Kleinfamilie haben sich insbesondere alternative Lebensformen verbreitet und auch in Bildungseinrichtungen sowie der sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Organisation des Staates und in Organisationen, die im Bereich zwischen Wirtschaft und Staat tätig sind (z.B. Stiftungen, Kirchen), hat der Geschlechterrollenwandel zu institutionellen Veränderungen geführt. Insbesondere die Deinstitutionalisierung der modernen Kleinfamilie ist ein signifikantes Ergebnis, das mitunter durch den Wandel der Frauenrolle in der Gesellschaft ausgelöst wurde (vgl. Bender/Graßl 2004: 76-77.). Neben Esping-Andersen verfolgt auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit Blick auf das Geschlechterrollenverhältnis einen ganzheitlichen Ansatz bei dem er mehrere „soziale Räume und Teilräume“ (Bourdieu 1998: 177.) wie Schule, Familie, Arbeitswelt und Bürokratie sowie die Medien als Konstanten in der „Herrschaftsbeziehung“ der Geschlechter kennzeichnet (vgl. Bourdieu 1998: 177.). Betrachtet man den geschlechtlichen Rollenwandel unter dem historischen Aspekt, so ist erkennbar, dass sozialstaatliche Institutionen in modernen Wohlfahrtsstaaten stets in Relation zu einer bereits vorhandenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung aufgebaut wurden. Dies hatte für viele westliche Industriestaaten der Europäischen Union eine typische Trennung von Familien- und Arbeitswelt zur Folge, in der die Frauen mehrheitlich die unbezahlte Hausarbeit verrichteten während Männer vornehmlich im bezahlten Erwerbsleben vorzufinden waren. Aus vergleichender wohlfahrtsstaatlicher Perspektive existieren in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten noch immer zum Teil erhebliche Unterschiede mit Blick auf eine gleichberechtigte Integration von Frauen in die jeweilige nationale Institutionenlandschaft (vgl. Bender/Graßl 2004: 114-116.).

Zusammenfassend ist für die länderübergreifende Betrachtung der Geschlechterregime also festzustellen, dass sich gesellschaftliche Rollenvorstellungen auf mehreren Ebenen des Wohlfahrtsstaates entwickeln und diesen dahingehend mitgestalten. Die länderspezifische Analyse über die Rückkoppelungseffekte zwischen familienpolitischen Leitbildern und geschlechtlichen Rollenverständnissen wird deshalb die drei von Esping-Andersen aufgeführten Sektoren Staat, Familie und Ökonomie unter den Aspekten der staatlichen Leistungen für Familien, normativen Rollenvorstellungen in den Familien (insbesondere mit Fokus auf die Aufteilung der Hausarbeit) und der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt bzw. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf umfassen.

5.2 Geschichte und gesellschaftlicher Einfluss des Feminismus auf die Familienpolitik aus länderübergreifender Perspektive

Eine Bewegung, die sich mit den gesellschaftlichen Rollenvorstellungen über Frauen auseinandersetzt und deren zentrales Anliegen darin besteht Frauen in die drei Sektoren Staat, Gesellschaft und Politik zu integrieren, ist die Frauenbewegung. Während der Französischen Revolution entstanden die ersten gezielten Forderungen zum Bereich der Frauenrechte. In den Jahren nach 1789 entstanden in Frankreich die ersten revolutionären Frauenclubs – in Deutschland hingegen entstanden ähnliche Organisationen erst gut hundert Jahre später. Hauptanliegen dieser frühen Frauenbewegungen war das Frauenwahlrecht (vgl. DIE ZEIT 2005: 120-121.). Von den in dieser Arbeit zu untersuchenden Vergleichsländern war Deutschland im Jahre 1918 das erste Land, welches das Frauenwahlrecht einführt. Es folgte Schweden im Jahre 1921, in Frankreich wurde das Wahlrecht für Frauen trotz den frühen Forderungen nach weiblicher Emanzipation erst relativ spät, im Jahre 1944, umgesetzt.[12] Der erste Weltkrieg führte zu einem Anstieg der Frauenarbeit in Europa. In Deutschland bewirkte die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie von der Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter einen starken Rückschritt bei der Integration der Frau in Arbeitswelt, Politik und Gesellschaft (vgl. DIE ZEIT 2005: 120-121.). Die späten 1960er Jahre leiteten schließlich länderübergreifend einen gesellschaftlichen Rollenwandel zum Frauenbild ein. In diesen Jahren entstand auch die neuere Frauenbewegung, welche unter der Bezeichnung „Feminismus“ bekannt ist. Der Begriff „Feminismus“ ist allerdings mehrdeutig und umfasst in seinem Kern sämtliche wissenschaftliche und politische Ansätze, die sich mit der Geschlechterordnung und der Stellung der Frau in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik befassen. Oftmals wird „Feminismus“ auch als ein Synonym für die neue Frauenbewegung, die sich zu Beginn der 1950er Jahre formierte, verwendet (vgl. Schmidt 2004: 225-226.). Die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir gilt als Vorreiterin des mit der neuen Frauenbewegung aufkeimenden Feminismus. Ihr 1949 in Frankreich erschienenes Werk „Le Deuxiéme Sexe“, welches unter dem Titel „Das andere Geschlecht“ zwei Jahre später in Deutschland erschien, gilt bis heute als ein Klassiker der feministischen Theorie. Beauvoir vertritt in diesem Buch die existenzialistische Ansicht, dass man nicht als Frau auf die Welt komme, sondern von einer patriarchalischen Gesellschaft zur Frau gemacht werde. Sie begreift die Frau also als ein soziales Konstrukt der Männer, dem eine spezifische soziale Rolle zugeschrieben werde. In diesem Zusammenhang übt Beauvoir auch Kritik an den Frauen selber, indem sie diese in ihrer Schrift dazu auffordert selber zu mündigen Subjekten im Sinne der Aufklärung zu werden. Hintergrund für das Erscheinen dieses sozialkritischen Werkes war die niedrige gesellschaftliche Stellung der Frau in der Vierten Republik, wo in der Nachkriegszeit eine pronatale Politik betrieben und Mutterschaft verherrlicht wurde. Berufstätige und alleinstehende Frauen hingegen wurden diskriminiert (vgl. Wischermann/Rauscher/Gerhard 2010: 62-67.). Der Ansatz Beauvoirs löste in Frankreich eine weitere feministische Welle aus, die zur Entstehung der Gruppe „Nouvelles Questions féministes“ (NQF) und einer Radikalisierung des beauvoi‘schen Ansatzes führte. Während Simone de Beauvoir die Existenz des biologischen Geschlechtes als gegeben hinnahm, interpretierte die NQF auch das biologische Geschlecht als ein soziales Konstrukt, das einer gesellschaftlichen Teilung zwischen „Herrschern und Beherrschten“ (Becker/Kortendiek 2004: 44.) diene. An diesem Punkt setzt die amerikanische Dekonstruktivistin Judith Butler an: Sie geht der Frage nach ob „weiblich sein“ eher eine „natürliche Tatsache“ oder eine „kulturelle Performanz“ sei (vgl. Butler 1991: 9.). Neben der Unterscheidung zwischen anatomischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (Gender) übt Butler Kritik an der übrigen feministischen Theorie und deren Annahme, dass es eine bereits vorhandene Identität gebe, die durch die Geschlechtskategorie ‚Frau‘ bezeichnet werden könne. Für Butler ist die Kategorie „Geschlecht“ nämlich lediglich eine „kulturelle Konstruktion“ (Mihiciyazgan 2008: 49.), die samt den damit verbundenen Rollenvorstellungen abzuschaffen sei. Gemäß der Auffassung Butlers müsse ‚Gender‘ nicht das kausale Resultat des ‚sex‘ sein, es bestehe nämlich auch die Möglichkeit, dass ein weibliches ‚sex‘ mit einem männlich konnotierten ‚Gender‘ verbunden sei (vgl. Butler 1991: 9-31.). Die Theorie Butlers gehört mittlerweile zu einer der am kontroversesten diskutierten Thesen auf dem Gebiet der aktuellen Geschlechterforschung. In Frankreich erregte die Philosophin Elisabeth Badinter in den 1980er Jahren mit ihrer These, die Mutterliebe sei ein erfundener Mythos, um Frauen an den Herd zu verbannen, großes Aufsehen (vgl. Becker/Kortendiek 2004: 45). Diese These Badinters geht inhaltlich bereits auf die Geschlechterdebatte der Arbeitsteilung als ein Element der Familienpolitik ein. So fordern einige feministische Strömungen Lohn für die überwiegend von Frauen verrichtete unbezahlte Hausarbeit, jedoch ist diese Forderung innerhalb der Frauenbewegung immer sehr umstritten gewesen. Einige Feministinnen sehen in solch einer institutionalisierten familienpolitischen Leistung die Festschreibung und Beschränkung der traditionellen, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf die Mutterrolle der Frau (vgl. Nave-Herz 1989: 90.). Die frühe bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland, welche sich Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte, hielt an diesem geschlechtsspezifischen Rollenbild mit der Zuordnung der Frauen für den häuslichen Bereich fest und forderte mehr Gleichberechtigung für Frauen in den Sektoren Bildung, Arbeit und Politik. Im Jahre 1865 wurde dazu u.a. der erste „Allgemeine Deutsche Frauenverein“ (ADF) gegründet. Die zweite Welle der Gründung traditioneller Frauenverbände in Deutschland vollzog sich nach dem zweiten Weltkrieg. Allerdings orientierten sich auch diese Verbände weiterhin an der durch die Adenauer-Regierung geförderten traditionellen familialen Arbeitsteilung mit dem Leitbild der „Hausfrauenehe“, sodass die Bundesrepublik von einer echten Gleichberechtigung von Männern und Frauen während der Nachkriegszeit noch weit entfernt war (vgl. Lemke-Hadik 2009: 29-33.). Der gesellschaftliche Wandel des Frauenbildes begann in Deutschland erst in den 1960er Jahren mit der ursprünglich in den USA entstandenen Studentenbewegung. 1968 kam es im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zu Spannungen, da die Frauen ihre Rolle in den studentischen Gruppen als ein Abbild bereits existierender gesamtgesellschaftlicher Strukturen empfanden, bei denen Frauen von ihren männlichen Kommilitonen lediglich eine unterstützende, passive Rolle mit niedrigerem Status bei politischen Aktionen gewährt wurde. Aus diesem Grund kam es bei einer Tagung des SDS im September 1968 zu einem Eklat, bei dem Studentinnen ihre männlichen Kommilitonen mit Tomaten bewarfen. In der wissenschaftlichen Literatur wird diese Aktion als Ankündigung der Neuen Deutschen Frauenbewegung (NF) gewertet. Allerdings waren es nicht die Spannungen innerhalb des SDS, sondern insbesondere der durch die Studentenbewegung angestoßene Abbau autoritärer Strukturen sowie die damit einhergehende Liberalisierung von Sexualität und die Enttabuisierung von Homosexualität, die zum Aufkeimen der Neuen Frauenbewegung in Deutschland führte (vgl. Nave-Herz 1989: 66-70.). Während in Frankreich Simone de Beauvoir als führende Feministin der Neuen Frauenbewegung für Diskussionen sorgte, war es in Deutschland vor allem die Journalistin Alice Schwarzer, die als Mitglied der französischen Frauenbewegung „Mouvement de Liberation des Femmes“ (MLF) mit ihrer Verbundenheit zu Simone de Beauvoir auch die Neue Frauenbewegung in Deutschland mit vorantrieb (vgl. Schwarzer 2011: 235ff.). Diese NF hatte die unterschiedlichsten Zielsetzungen, die von einer generellen Politisierung der Frau in der Gesellschaft über die Organisation von Frauenfreizeiten bis hin zur Einrichtung von Frauenhäusern für misshandelte Frauen reichten. Insbesondere die durch eine vorangegangene Abtreibungs-Kampagne erwirkte Reform des § 218 im Jahre 1974 ist ein Zeichen für den Einfluss der Neuen Frauenbewegung auf bereits bestehende gesellschaftliche und staatliche Institutionen. Der starke kollektive Protest zahlreicher Frauengruppen gegen den § 218 spiegelte nämlich in Verbindung mit einer umfassenden Medienkampagne das Meinungsbild vieler Frauen wider und trug so zu institutionellen Veränderungen bei. Diese Kampagne verdeutlicht das Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Strukturen, die mit Hilfe der Medien als einem gesellschaftlichen Meinungsspiegel dazu beitrugen das Geschlechterverhältnis zu einem gesellschaftlich relevanten Thema zu machen. Auf diese Weise wurde auch ein Bewusstseinsveränderungsprozess breiter Bevölkerungsschichten eingeleitet (vgl. Nave-Herz 1987: 69ff.). Aus neo-institutionalistischer Sicht ist der Einfluss der Frauenbewegung in Deutschland insbesondere mit der Theorie des Historischen und des Soziologischen Institutionalismus zu erklären, da institutioneller Wandel gemäß dieser beiden theoretischen Strömungen ein pfadabhängiger Prozess ist, der sich den Präferenzen der Akteure anpassen muss um gesellschaftliche Legitimation zu erreichen. So hat die Institutionalisierung des Gleichstellungsgedankens von Frauen in Deutschland seit den 1980er Jahren vor allem auf Länder- und kommunaler Ebene stark zugenommen, wo Gleichstellung im Einklang mit dem ‚Gender-Konzept‘ auf mehrere politische, soziale und wirtschaftliche Sektoren ausgedehnt wurde (vgl. Nave-Herz 1989: 102-103.). Grundsätzlich wird der Faktor Frauenerwerbstätigkeit sowohl in der gängigen Fachliteratur als auch innerhalb der Frauenbewegung als zentraler Schlüssel für eine wirkliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen gesehen (vgl. Lemke-Hadik 2009: 28.). In diesem Punkt gibt es einen bedeutenden Unterschied in der Arbeitsmarktpolitik Deutschlands und Schwedens während der 1960er Jahre. Beide Länder litten zu diesem Zeitpunkt unter Arbeitskräftemangel. Während Deutschland verstärkt männliche Gastarbeiter aus dem Süden Europas und der Türkei anwarb, setzte Schweden vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Integration von verheirateten Frauen und Müttern in den Arbeitsmarkt. Die schwedische Politik war im Gegensatz zu Deutschland allerdings bereits in den 1930er und 1940er Jahren durch die schwedische Frauenbewegung relativ stark beeinflusst worden, sodass die gesellschaftliche Einstellung zur Frauenerwerbstätigkeit zwar noch ambivalent aber nicht so negativ besetzt war wie in Deutschland zur selben Zeit. Dies erleichterte die Arbeitsmarktreform im darauf folgenden Jahrzehnt (vgl. Kolbe 2002: 73-79.). Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannte die schwedische Frauenbewegung die Wichtigkeit der Frauenerwerbstätigkeit für das Erreichen von Geschlechtergleichheit und lehnte deshalb spezielle Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen aufgrund der Befürchtung ab, dass besondere Frauenarbeitsschutzbestimmungen zu einer geschlechterspezifischen Ungleichheit in der Erwerbsarbeit führe (vgl. Kulawik 1999: 176-197.). Aufgrund einer relativ späten und schwachen Entwicklung der Mutterschaftspolitik in Schweden konnte die schwedische Frauenbewegung sehr viel stärker auf familien- und arbeitspolitische Regulierungen einwirken als dies in Deutschland, wo es bereits seit der Sozialreform Bismarcks institutionalisierte Regelungen gab, der Fall war. Insgesamt ist es für die Bundesrepublik Deutschland also relativ schwierig den Einfluss der Frauenbewegung auf das gesellschaftliche Rollenbild der Frau zu bemessen. Auffällig ist dabei vor allem, dass viele Forderungen nach einer besseren Gleichstellung von Männern und Frauen in Deutschland von den staatlichen Institutionen zunächst abgelehnt und zum Teil sogar verhöhnt wurden (vgl. Nave-Herz 1989: 108-109.). Dies war in Schweden anders. Dort hat Geschlechtergleichstellung eine lange Tradition. So nimmt die „jämställdhet“, wie die Gleichstellung auch auf Schwedisch genannt wird, bereits seit mehreren Jahrzehnten eine wichtige Position in Politik und Öffentlichkeit ein (vgl. Seemann 2009: 34-35.). Der Einfluss der Frauenbewegung ist dabei beim Blick auf die aktuelle Familienpolitik Schwedens, welche im nachfolgenden Kapitel mit Fokussierung des Wechselverhältnisses zwischen gesellschaftlichen Akteuren und familienpolitischen Leitideen analysiert werden soll, ebenfalls deutlich erkennbar.

6 Das egalitäre Doppelversorgermodell Schwedens

In Schweden wurde das Konzept des ‚Gender Mainstreaming‘ bereits vor der offiziellen Ratifikation innerhalb der EU durch den Vertrag von Amsterdam 1999 verwirklicht. Schon die schwedische Verfassung, welche Anfang der 1970er Jahre in Kraft getreten ist, misst Werten wie Individualisierung und Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen große Bedeutung bei. So geht Artikel 2 dieser Verfassung explizit auf das Geschlechterverhältnis ein: „Public power shall be exercised with respect for the equal rights to men and women and protect private and family lives of private citizens“(zit. Nach Hort 2008: 528.). Dies ist auch in zahlreichen anderen Regierungsdokumenten erkennbar, die nahezu eine „feministische Sprache“ (Seemann 2009: 35.) sprechen. In einer schwedischen Regierungserklärung aus dem Jahr 2000 wird eine für Frauen nachteilige Gesellschaftsstruktur kritisiert, die es „zu durchbrechen“ gilt (Seemann 2009: 35.). Mit Blick auf die Familienpolitik Schwedens wurde diese Gesellschaftsstruktur bereits zu Beginn der 1960er Jahre mit der gezielten Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und der Durchsetzung von Gleichberechtigung als einem zentralen Wert schwedischer Politik transformiert. Im folgenden Kapitel wird dieses Leitbild aus neo-institutionalistischer Sicht differenziert betrachtet. Danach wird ein kurzer historischer Abriss der schwedischen Familienpolitik zur Entstehung dieses Leitbildes getätigt. Im Anschluss daran werden die staatlichen Anreize, die dieses familienpolitische Leitbild in der Gesellschaft verankern sollen, aufgelistet und auf ihre tatsächliche Annahme und Verwirklichung innerhalb der schwedischen Bevölkerung überprüft. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels befasst sich mit dem Gelingen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf als einem zentralen Indikator für den Erfolg schwedischer Familienpolitik in der gesellschaftlichen Praxis.

[...]


[1] Vgl. Tagesanzeiger 2011: www.tagesanzeiger.ch (06.06.2012).

[2] Vgl. Nohn 2012: www.sueddeutsche.de (05.06.2012).

[3] Als Gesamtfruchtbarkeitsrate oder Geburtenrate (auch Fertilitätsrate genannt) wird die „mittlere Anzahl lebend geborener Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens gebären würde, wenn sie im Laufe ihres Gebärfähigkeitsalters den altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern der betreffenden Jahre entsprechen würde“ verstanden (Eurostat 2006: 175, zit. nach Diekmann/Plünneke 2009: 13.).

[4] Vgl. Wirtschaftskammer Österreich 2010: www.wko.at (04.06.2012).

[5] Vgl. Wirtschaftskammer Österreich 2010: www.wko.at (04.06.2012).

[6] Das Subsidiaritätsprinzip geht von der Regulierung sozialstaatlicher Leistungen auf kleinster gesellschaftlicher eben aus und befürwortet ein Eingreifen des Staates in familienpolitische Angelegenheiten nur bei Ausschöpfung der Kapazitäten der Familie (vgl. Esping-Andersen 1990: 27.).

[7] Vgl. Deuframat.de 2012: www.deuframat.de (30.05.2012).

[8] Vgl. auch Rötter 2011: 8-11.

[9] Die Differenztheorie geht davon aus, dass es zwei Geschlechter gibt, deren Unterschiede zum Einen essentialistisch angelegt sind und sich zum Anderen in kulturell und gesellschaftlich geprägten Normen äußern. Frauen und Männern werden dabei geschlechtsspezifisch bedingte Eigenschaften zugeschrieben (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung 1999.)

[10] Der Begriff „soziales Feld“ entstammt ursprünglich dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Dieser versteht unter sozialen Feldern die Gesamtheit gesellschaftlicher Interaktion auf einem bestimmten Gebiet oder Subsystem, wie z.B. Schule oder Politik (vgl. Bourdieu 1988.).

[11] Dahrendorf differenziert mit Blick auf die Rollenerwartungen zwischen „Soll“, „Muss“ und „Kann“-Erwartungen. Eine Nichterfüllung von so genannten „Soll“-Erwartungen ziehe rechtliche Sanktionen nach sich. Erfüllt der Rollenträge die „Muss“-Erwartungen nicht, so hat er mit negativen gesellschaftlichen Sanktionen, wie z.B. sozialem Ausschluss, zu rechnen. Werden „Kann“-Erwartungen nicht erfüllt hat dies negative Sanktionen wie Missachtung in seinem gesellschaftlichen Umfeld zur Folge. Werden „Kann“-Erwartungen hingegen erfüllt, dann überwiegen die positiven Sanktionen in Form von gesellschaftlicher Anerkennung und Sympathie (vgl. Dahrendorf 2010: 37-43.).

[12] Vgl. Deutscher Bundestag.de (o.J.): www.bundestag.de (12.06.2012).

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Detalles

Título
Familienpolitik aus der Gender-Perspektive: Deutschland, Schweden und Frankreich im Vergleich
Universidad
Helmut Schmidt University - University of the Federal Armed Forces Hamburg  (Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften)
Curso
Politikwissenschaft, insbes. Politische Systeme/Soziologie
Calificación
1,0
Autor
Año
2012
Páginas
133
No. de catálogo
V231128
ISBN (Ebook)
9783656466840
ISBN (Libro)
9783656468158
Tamaño de fichero
1041 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
familienpolitik, gender-perspektive, deutschland, schweden, frankreich, vergleich
Citar trabajo
Yvonne Rötter (Autor), 2012, Familienpolitik aus der Gender-Perspektive: Deutschland, Schweden und Frankreich im Vergleich, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231128

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