Raumstruktur, Schwellenübertretung und Übergangsritual in der Divina Commedia

Paradiso


Term Paper (Advanced seminar), 2009

40 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

I. Raumstruktur, Schwellenübertretung und Übergangsritual innerhalb des Paradiso: eine Einführung
1.1 Thema und Fragestellung
1.2 Inhalt und Gliederung der Arbeit

II. Die Struktur und der Aufbau des Paradiso
2.1 Allgemeines zum Aufbau: ‚ Paradiso’ im Kontext der Commedia
2.2 Die Semantik des „Paradiesraumes“: Von der Feuersphäre zum Empyreum
2.3 Von der Problematik der Strukturierung des Raumes ‚ Paradiso’ und der Einteilung des Seelen-Raumes

III. Schwellenübertretungen und Übergangsrituale
3.1 Grenz- und Raumüberschreitungen
3.1.1 Allgemeine Vorbetrachtungen
3.1.2 Raumüberschreitung innerhalb des Makroraum ‚ Paradiso
3.2 Übergangsritual in Par. XXXI 52-72: Beatrice und der Hl. Bernhard v. Clairvaux

IV. Schlussbetrachtung

Anhang
Anhang I: Schematische Darstellung des semantischen Raumes ‚ Paradiso
Anhang II: Die zehn Aufteilungen der drei Jenseitsreiche der ‚ Divina Commedia
Anhang III Tabellarische Übersicht zu den Gruppierungsprinzipien des Paradiso
Anhang IV: Tabelle über die Grenzüberschreitungen innerhalb des Mikroraumes
Anhang V: Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Raumstruktur, Schwellenübertretung und Übergangsritual innerhalb des Paradiso: eine Einführung

1.1 Thema und Fragestellung

››Ein Text ist ein offenes Universum, in dem der Interpret
unendlich viele Zusammenhänge aufspüren kann.‹‹[1]

Mit diesen Worten des Umberto Eco kann die ‚ Divina Commedia[2], einer der bekanntesten, aber zugleich auch eines der schwierigsten Texte der italienischen Literatur, charakterisiert werden[3]. Der Gegenstand der Commedia ist die Welt des Jenseits mit den drei Bereichen Inferno, Purgatorio und Paradiso. Diese drei Areale werden vom Protagonisten Dante von den Tiefen der Hölle in das himmlische Sternensystem[4] bis zur mystischen Schau Gottes ‚bereist’[5], mit Vergil als Führer durch Inferno und Purgatorio, im Paradiso zunächst mit dem Beistand Beatrices, dann mit dem des Heiligen Bernhard von Clairvaux.

Die Welt des Jenseits, die in der Commedia dargestellt wird, ist bis in ihre kleinsten Elemente hinein stringent und logisch durchstrukturiert und dies gilt für die makrostrukturelle Bewegungsführung ebenso wie für die parzellierte mirkotextuelle Aktionsausformung. So zeigt Dante uns die gesamte, landschaftsartig verstandene und daher betretbare Eschatologiewelt des Mittelalters[6], die eine unerschütterliche Ordo-Vorstellung prägt[7].

Dante hatte von den drei Regionen des Jenseits jedoch mit der Beschreibung des Himmels spezifische Probleme. Wo Inferno und Purgatorio jeweils eine genau umrissene Landschaft und Vorstellungswelt bieten, entzieht sich das Paradiso, bekannt als Bereich des reinen Geistes, als einem Raum letztlich der Beschreibung. Trotzdem hat auch dieser dritte Eschatologiebereich Ordnungsprinzipien, bei dem das Paradies als ein notwendiges, logisches und hierarchisches Gebilde erscheint. So besteht die Struktur des Paradiso im Innern aus neun rotierenden Sphären. Es sind die sich in konzentrischen Kreisen bewegenden sieben Planeten Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn, hiernach als achter und neunter Sphärenkurs der Fixstern- und Kristallhimmel, und dann das ‚Primum mobile’, das alle anderen Himmel umfasst und bewegt und das seinerseits wiederum seine Kraft vom zehnten Himmel, dem Empyreum, empfängt, d.h. von Gott selber[8].

Die Problematik einer solchen Semantisierung des Paradiesraumes liegt darin, das im hellen und heiter gestimmten Paradiso Zeitbezüge und räumliche Unterschiede an sich bedeutungslos sind, weil sich die der Gnade Teilhaftigen allesamt glückerfüllt der Präsenz Gottes erfreuen; er ist das Maß aller Dinge und macht bisher Gemessenes überflüssig. Auf diesen Sachverhalt machte Margaret Wertheim in ihrem Werk „Die Himmelstür zum Cyperspace“ aufmerksam:

„Menschsein scheint von seinem Wesen her an Raum und Zeit gebunden zu sein. Das ist das Problem, mit dem sich Dante am Ende seines Gedichtes konfrontiert sieht; er musste sich fragen: Wie kann man ein himmlisches Empyreum ins Auge fassen, wenn es ein Ort außerhalb des Raums ist? Wie kann man sich die Seelen dort aufgehoben denken, wen es letztendlich kein ‚Dort’ gibt, an dem sie sein können? Dantes Lösung dieses Rätsels ist eine ekstatische Auflösung in Geometrie“.[9]

Die Ordnung des Paradiso ist zwar durch feste Grenzen geprägt, durch vertikal gestufte Schwellen und Übergänge, gleichzeitig existiert der ‚Raum’ als solcher nicht, bzw. ist nicht konkret begreifbar, aber doch essentiell vorhanden[10].

Im Interesse einer integrativen Situierung unserer spezifischen Problemstellung der Semantisierung des ‚Raumes Paradiso’ stellen sich um einige grundsätzliche Fragen: Wie ist das Paradiso strukturiert und was bedeutet es, wenn wir in diesem Rahmen vom „Raum“ sprechen? Wo liegt die Problematik der Einteilung eines „Seelen-Raumes“? Glaubt Dante hier wirklich, dass die Seelen nach dem Tode auf den Planeten ihren Sitz haben?

Zu einem wichtigen topologischen Merkmal des Raumes gehört das Phänomen der Grenze. Hier stellt sich die Frage, welches die Kraft, ist, die Dante von ‚Himmel zu Himmel’ hinauftrug oder ‚befördert’? Wie hat man sich ein Übergangsritual im Paradiso vorzustellen? Ob und inwieweit verleihen Wahrnehmung, Bewegung und Position im Raum und insbesondere die Hinwendung zu den Seelen innerhalb der einzelnen Sphären ihren Ausdruck? In die damit eröffneten Perspektiven wird angesichts der Fülle des Materials eine begrenzte Textauswahl erfolgen, die jedoch paradigmatisch wichtige Aspekte von Dantes Umgang mit der topographia erfasst[11].

1.2 Inhalt und Gliederung der Arbeit

In der vorliegenden Untersuchung über die Raumstruktur, Schwellenübertretung und der Übergangsrituale im Paradiso wird es Gegenstand und Ziel der vorliegenden Arbeit sein der Makro- und Mirkostruktur des Paradieses unter eine Reihe von Gesichtspunkten eine angemessene Darstellung zu geben. Darum ist die vorliegende Untersuchung in die oben skizzierten zwei Hauptkapitel gegliedert:

Erstens soll eine systematische Reflexion hinsichtlich der Struktur des Raumes (II.), das die Grundlagen des Themengebietes entfaltet, vorangestellt werden, bei dem zunächst ein allgemeiner Überblick zu Dantes Weltbild und der Situierung des Paradiso im Kontext der Commedia gegeben wird (2.1). Anschließend wird die Semantik des „Paradiesraumes“ von der Feuersphäre bis zum Empyreum im Mittelpunkt stehen (2.2), um dann insgesamt einen Blick auf die Problematik einer solchen Strukturierung, vor allem in Bezug auf die Einteilung des Seelen-Raumes (2.3) zu werfen. Dabei geht es freilich nicht nur um eine Rekonstruktion der inhaltlichen Ereignisse, sondern um die Analyse der mannigfach in sich gegliederten Bereiche, der Verbindungslinien zwischen den vereinzelten Sphären, die Konkretisierung und Gliederung eines Raumes, das durch ein „System räumlicher Relationen“ gebildet wird.

Zweitens werden die Schwellenübertretungen und das Übergangsritual (III.) im Zentrum unserer Betrachtung stehen. Nach einer Allgemeinen Darlegung zum Phänomen der Grenzübertretungen (3.1.1) werden die Raumüberschreitungen innerhalb des Makroraumes Paradiso betrachtet, bei dem vor allem die ‚Beförderung’ des Protagonisten von der einen zur anderen Sphäre beleuchtet wird (3.1.2).

Dann erfolgt in Par. XXXI, 52-71 das Übergangsritual für die weitere Führung Dantes von Beatrice auf den Hl. Bernhard v. Clairvaux (3.2). Hier seien Fragen nach der Relation des Raums, des Verhältnis der vereinzelten Protagonisten, die Komposition und die Art und Weise des zu erfolgenden Übergangs dargelegt.

Schließlich wird in einem Schlusswort aufgrund der vorangegangenen Ergebnisse nochmals Bilanz zum Gesamtergebnis gezogen, bei der vor allem die Bedeutung der des Entwurf des Raumes Paradiso, den Stadien des Weges des Protagonisten und dem Phänomen der Grenz- und Schwellenübertretungen herausgestellt werden soll.

II. Die Struktur und der Aufbau des Paradiso

2.1 Allgemeines zum Aufbau: ‚ Paradiso ’ im Kontext der Commedia

Bei der Beschäftigung mit dem Gesamtaufbau der himmlischen Strukturen ist vorab zu klären, ob und inwieweit Dantes Schilderungen eine genaue räumliche Vorstellung[12] des Paradiso zulassen. Um den Commedia-Text diesbezüglich angemessen deuten und das Paradiesgebäude schlüssig im Weltgebäude verankern zu können, empfiehlt es sich zunächst einen kurzen Blick auf Dantes Weltbild zu werfen[13].

Die mittelalterliche Vorstellung vom Universum basierte auf dem aristotelisch-ptolemäischen System, demzufolge die Erde als das schwerste der vier Elemente unbeweglich im Zentrum ruht[14]. Die drei weiteren Elemente Wasser, Luft und Feuer umgeben die Erde in Form konzentrischer Sphären, ebenso wie die Himmelssphären, deren Reihenfolge Dante nicht allein im Paradiso der Commedia, sondern auch im Convivo angibt: auf die sieben Planeten Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn[15], folgen de Fixstern- und der Kristallhimmel und schließlich das unbewegliche Empyreum als Sitz Gottes[16].

Zum Verständnis der Gestalt des Paradiso müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Dante um die Kugelgestalt der Erde wusste. Dies geht aus verschiedenen Passagen seines gesamten Werkes deutlich hervor. Im dritten Traktat des Convivo bezeichnet er die Erde als „palla[17] und in mehreren Paragraphen seiner Questio de aqua et terra[18] spricht er von der Kugeloberfläche der Erde, deren Mittelpunkt auch der Mittelpunkt des Meeres sei, was natürlich nur dann möglich ist wenn das Wasser die Erde sphärisch umhüllt[19]. Und schließlich wird die Erde beim Rückblick aus dem Fixsternhimmel als „globo“ bezeichnet (Par. XXII, 133-135): „Col viso ritornai per tutte quante / le sette spere; e vidi questo globo / tal, ch’io sorisi del suo vil sembiante.”[20]

Während Dante im Convivo beeindruckend präzise Kenntnisse über die Größe der Erdkugel[21] äußert, beschreibt er in der Questio, wie der Dichter sich die Gestalt der Erdoberfläche im einzelnen vorstellt, wie sich Land- und Wassermassen verteilen und wie es zu dieser Verteilung gekommen sei. So soll unsere Erde im Rahmen des geozentrisch konzipierten Universums ein unbeweglich schwebendes Gebilde aus zwei Halbkugeln sein, wovon die südliche Erdhälfte bewohntes Land ist, während die nördliche vom unerforschten Meer bedeckt wird[22].

Es stellt sich jedoch die Frage, wie es zur Erhebung, bzw. zu Dantes bekanntem Festland, kommen konnte. Während er in der Questio eine dem Fixsternhimmel innewohnende Anziehungskraft zur Erklärung dieses Phänomens heranzieht, macht er in der Commedia den Sturz des abtrünnigen Engels Luzifer auf die südliche Hemisphäre für die Verschiebung der Erdmassen nach Norden und somit für die Entstehung sowohl des aus dem Wasser emporragenden Festlandes als auch des unterirdischen Höllengebäudes verantwortlich[23].

Hölle und Fegefeuer versteht Dante also als ein Teil unserer Erde. Auf der nördlichen, von Erde bedeckten Hemisphäre öffnet sich ins Erdinnere sein Inferno, ein riesiger, zum Erdzentrum hin spitz zulaufender Trichter, auf deren konzentrischen, nach unten enger werdenden Ringen die Verdammten angeordnet sind. An der tiefsten Stelle der Hölle, also am Ort der größten Gottesferne, in ewigem Eis ist der Platz Luzifers.

Hölle und Purgatorium sind nach Luzifers Sturz aus dem Himmel auf die Erde entstanden, und zwar so, dass die Erde beim Aufschlag Luzifers zurückwich – sich dadurch der Höllentrichter formte – und im Zurückweichen zugleich auf der gegenteiligen Seite, auf der südlichen Halbkugel, aus der verdrängten Erdmasse einen Berg entstehen ließ. Der Höllentrichter befindet sich somit unter der bekannten und bewohnten Welt, die von den Säulen des Herkules im Westen bis zum Ganges im Osten reicht und in deren Mittelpunkt Jerusalem liegt.

An den Antipoden Jerusalems liegt auf der südlichen Hemisphäre der vom Meer umgebene Läuterungsberg, das Purgatorium, ein steil aufragender, konischer, d.h. nach oben spitz zulaufender Inselberg, auf dessen wiederum konzentrischen, sich nach oben verengenden Ringen (gironi) alle die Seelen angeordnet sind, die durch Läuterung das ewige Heil erreichen können. Auf dem Gipfel des Kegelberges liegt der Garten des irdischen Paradieses (Paradiso terrestre), der Aufenthaltsort der Menschen vor dem Sündenfall[24].

Um den Erdball wölben sich sphärisch und konzentrisch sieben Planetenhimmel, darüber als achter der Fixsternhimmel, als neunter Himmel das Primum Mobile, das alle unter ihm liegenden Sphären in Bewegung setzt. Alle neun beweglichen Himmelssphären, in denen die Seeligen entsprechend ihrer Vollkommenheit und Gottesnähe angeordnet sind, werden umwölbt von einer unbeweglichen zehnten Sphäre, dem Empyreum, dem Sitz der Gottheit.

Dieser knappe Abriss der Jenseitswelt Dantes macht deutlich, dass seine Jenseitstopographie in erster Linie, einem ethisch motivierten Ordnungsgedanken entspringt[25].

2.2 Die Semantik des „Paradiesraumes“: Von der Feuersphäre zum Empyreum

Topographische Elemente sind – allerdings mit abnehmender Dichte – in der Divina Commedia überall vorhanden, und hiervon treten sie am häufigsten im firmamentlosen, finsteren Inferno und im Purgatorio auf. Im Paradiso[26] treten sie zurück, begegnen seltener – ohne jedoch völlig zu fehlen[27] . Genau wie in den ersten beiden cantiche musste Dante den Raum und den Zustand der Seelen im Jenseits ausmalen, im Paradiso nun gleichsam als Sitz der Seligen.

Nun gibt nun eine Stelle im Paradiso, an der sich Dante eng an die antike Strukturbildung der Planeten anschließt. Bevor er von der siebten, der Saturnsphäre, zur achten, der Fixsternsphäre, emporsteigt, gemahnt ihn Beatrice, noch einmal zurück auf die sieben durchlaufenen Sphären zu blicken (Par. XXII, 148-153): E tutti sette mi si dimostraro / quanto son grandi, e quanto son veloci, / e come sono in distante riparo. La ai[u]ola che ci fa tanto feroci, / volgendom’i’ con li eterni Gemelli, tutta m’aparve dai colli a le foci.”[28] Dantes Rückschau gibt uns einen Einblick in den ‚Aufbau des Paradiesraumes’, bei dem ihm einerseits Größe, Abstand und Geschwindigkeit der sieben Planten deutlich vor Augen stehen[29], andererseits bildet diese Stelle eine deutliche Zäsur zwischen den eigentlichen Planetenhimmeln und der drei höchsten Sphären, die durch keinen weiteren Stern mehr ausgefüllt werden[30].

Ausgangspunkt der Danteschen Reflexion über die Struktur des Himmelsraums ist also ein vertikales Sphärenmodell, das von einem immateriellen Himmel als metaphysischen Präsenzraum des ewigen göttlichen Wesens umgeben ist[31]. Da die sieben Planeten in ihrer astrologischen Bedeutung und Wirkungsweise ganz zweifellos Dante als Einteilungs- und Gruppierungsprinzip für die Darstellung der Seligen gedient haben, ist es von Nutzen, sich nach den Planeten die Einteilung des Paradiso zu vergegenwärtigen. So vollzieht sich Dantes Himmelsreise in zehn Stationen[32]:

[...]


[1] Umberto Eco, Interpretation und Geschichte, in: Ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München – Wien 1994, 29-51, hier 45.

[2] Der Florentiner Dichter Dante Alighieri (1265-1321) hat dieses Werk mit seinen hundert Gesängen und 14 233 Versen zu Anfang des 14. Jahrhunderts geschrieben. Das Gedicht handelt von einer imaginären Jenseitswanderung durch die drei Jenseitsreiche Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso (Paradies). Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der drei Cantiche können nicht mit Sicherheit beantwortet werden, doch auf der Grundlage von zeitgenössischen Dokumenten einerseits und werkinternen Anhaltspunkten andererseits kann eine plausible Datierung angenommen werden: für das Inferno zwischen 1304 und 1307, das Purgatorio von 1308/09 bis 1312/13 und das Paradiso zwischen 1316 und 1320. Die Veröffentlichung der gesamten Cantica erfolgte postum unter Mitwirkung der Söhne Dantes. Vgl. Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur, Düsseldorf – Zürich 1996, 103.

[3] Im Widmungsschreiben, mit dem Dante erste Teile seines Paradiso dem Cangrande della Scala überreicht hat, wird die Göttliche Komödie nicht nur als eine narratio poetica (§32) [dichterische Erzählung], sondern zugleich an einer anderen Stelle als ein opus doctrinale (§18) [Werk der Unterweisung] vorgestellt (Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala: lateinisch/deutsch übers., eingel. u. kommentiert v. Thomas Ricklin, mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, Hamburg 1993). So hat das Werk nicht nur einen poetischen, sondern auch einen wissenschaftlichen und philosophischen Anspruch. Die umstrittene Echtheit des Cangrande-Briefes kann hier außer Betracht bleiben, doch gegen dessen Authentizität dieses ungewöhnlichen Selbstkommentars lassen sich keine ernsthaften Argumente mehr vorbringen. Gelehrte wie Ernst Robert Curtius und andere haben ihn zum Fundament ihrer Thesen gemacht. Die zuletzt noch von Bruno Nardi geäußerten subjektiven Einwände gegen die Echtheit des Schreibens dürfen als widerlegt gelten. Vgl. die eingehende Analyse von „Dantes Selbstauslegung“ bei E..R. Curtius, Dante und das lateinische Mittelalter, in: Romanische Forschungen 57 (1943), 153-185. Über die Echtheitsfrage B. Nardi, Il punto sull’ epistola a Cangrande, Firenze 1960. Vgl. Hardt, Literatur, 104 und Kurt Leonhard, Dante Alighieri mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970, 91.

[4] Der sehnsuchtshafte Begriff ‚ stelle’ beendet deshalb alle drei Hauptteile signalartig als Schluss- und Schlüsselwort. Vgl. Heinz Willi Wittschier, Dantes Divina Commedia: Einführung und Handbuch. Erzählte Transzendenz, (= Grundlagen der Italianistik, 4), Frankfurt am Main 2004, 41.

[5] So stellt der exemplarische Lebensweg das Leitmotiv der ereignisbetonten Divina Commedia dar. Dante selber ist der einzige Lebende, der zu dieser Jenseitswelt Zutritt hat.

[6] Vgl. Rudolf Palgen, Dantes Sternglaube. Beiträge zur Erklärung des Paradiso, Heidelberg 1940; ders., Werden und Wesen der Komödie Dantes, Graz 1955. Dante breitet die Welt mittelalterlicher Eschatologie so aus, als würde man kartographisch gesichertes Gebiet bereisen: „Die Räume, die Dante auf der Jenseitsreise seiner Divina Commedia durchwandert, bilden eine kosmische Landschaft, in der den Seelen der Verstorbenen jeweils ein Ort angewiesen ist“ (Harald Weinrich, Lethe: Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, 42). Wir sind in einer ‚Landschaft der Ewigkeit’: so betitelte Romano Guardini, (1958, 21996) einen Aufsatzband zur Divina Commedia. Vgl. Wittschier, Divina Commedia, 50f.

[7] Beim Aufbau der Commedia sind „drei Systeme, als in der göttlichen Ordnung korrespondierend“ miteinander verbunden worden: „ein physisches, ein ethisches und ein historisch-politisches“ (Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, 2. Auflage mit einem Nachwort v. Kurt Flasch, Berlin–New York 2001, 126). „Dantes Ordnungsgedanken vollzieht sich auf drei: auf der moralischen, der kosmischen und der historisch-politischen“ (Erich Loos, Der logische Aufbau der „Commedia“ und die Ordo-Vorstellung Dantes, Mainz 1984, 7). Diese Gliederung kann man vielfach erweitern und vertiefen: „jedes dieser Systeme, für sich betrachtet, umschließt wiederum eine Konkordanz verschiedener Traditionsmassen“ (Auerbach, D ante als Dichter der irdischen Welt, 126).

[8] Hans Felten, Dante Alighieri und sein Werk, in: Höllenkreise – Himmelsrose: Dimensionen der Welt bei Dante, hrsg. v . Jörg Splett, Idstein 1994, 13-32, 23. Das Paradies weist also eine astronomisch-astrologische Ordnung auf, der symbolisch eine Ordnung korrespondiert. Auf die sieben planetarischen Sphären folgt der Fixsternhimmel, dem sich die letzte materielle Sphäre, der transparente Kristallhimmel oder Primum Mobile, anschließt. Die neun materialen Himmelssphären sind nach wachsender Geschwindigkeit geordnet und werden vom immateriellen, unbewegten und unendlichen Empyreum umgeben, dem Himmel des reinen Lichts, in dem sich Gott und die Seligen Geister befinden. Vgl. Katharina Münchberg, Dante. Die Möglichkeit der Kunst, Heidelberg 2005, 133.

[9] Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyperspace: Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet, Zürich 2000, 72.

[10] Vgl. Münchberg, Möglichkeit der Kunst, 39. Auf die Problematik der Einteilung des Seelen-Raumes wird im 2.3: „Von der Problematik der Strukturierung des Raumes ‚Paradiso’“ ausführlich eingegangen.

[11] Vgl. Rudolf Baehr, “Suso in Italia bella giace un laco”. Zwischen Realismus und Allegorie: zu Herkunft, Charakter und Funktion landschaftlicher Elemente in der Divina Commedia, in: DDJb 74 (1999), 85-104, hier 85; 92.

[12] Als Raum sei hier verstanden „die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften diese Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind“ (A.D. Aleksandrov, „Abstraktnye prostranstva“, in: Matematika, eë soderzanie, metody i znacenie, Bd. III, M., 1956, 151, zitiert nach Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, 4., unveränd. Auflage, München 1993, 312). Zur Illustrierung der weiteren Darlegungen siehe die Abbildung im Anhang I: Schematische Darstellung des semantischen Raumes ‚Paradiso’, IV.

[13] Vgl. Henrik Engel, Dantes Inferno: Zur Geschichte der Höllenvermessung und des Höllentrichtermotivs, München 2006, 16. Neben der im Folgenden zitierten Schriften von Dante selbst, vgl. zu seinem Weltbild und den Ordnungs-Vorstellungen der Commedia Benjamino Andriani, La forma del Paradiso Dantesco. Il sistema del mondo secondo gli antichi e secondo Dante, Padova 1961; August Buck, Die Wirklichkeitsgestaltung in der „Göttlichen Komödie“, in: Höllenkreise – Himmelsrose: Dimensionen der Welt bei Dante, hrsg. v. Jörg Splett, Idstein 1994, 33-48; Victor Castellani, Heliocentricity in the Structure of Dante's Paradiso, in: Studies in Philology, 78:3 (1981), 211-223; Frank-Rutger Hausmann, Dantes Kosmographie – Jerusalem als Nabel der Welt, in: DDJb 63 (1988), 7-46. Wolfgang Hübner, Antike Kosmologie bei Dante, in: DDJb 72 (1997), 45-81; Joseph Meurers, Physik und Astronomie der Dante-Zeit als Problem der Gegenwart, in: DDJb 40 (1963), 71-110; Claus Riesner, Dante und das geographische Weltbild seiner Zeit, in: DDJb 55/56 (1980/81), S.242-285;

[14] Dante Alighieri, Il Convivo. Edizione critica a cura di Maria Simonelli, Bologna 1966, 85: „[…] che questa terra è fissa e non sì gira, e che essa col mare è centro del cielo”. Das unvollständige Werk Convivo entstand zwischen 1304 und 1308.

[15] Pluto, Neptun und Uranus waren zu Dantes Zeiten noch nicht entdeckt, und der Mond galt nicht als Trabant der Erde, sondern als eigenständiger Planet. Engel, Dantes Inferno, 16.

[16] Alighieri, Convivo, 36.

[17] Alighieri, Convivo, 86.

[18] Die Questio de aqua et terra (Abhandlung über das Wasser und die Erde. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Dominik Perler. Lateinisch und Deutsch, Hamburg 1994) von Dante Alighieri wurde verfasst auf der Grundlage einer im Januar 1320 im Exil in Verona gehaltene Vorlesung.

[19] Zur Kugelgestalt der Erde siehe vor allem Alighieri, Questio, §§ 7, 8, 29 und 31.

[20] „Mein Auge ist zu allen sieben Sphären / Zurückgekehrt, und ich sah diese Erde [„globo“] / So, daß ich ob der Kleinheit lächeln mußte“. Die deutsche Übersetzung des Paradiso stützt sich hier und im Folgenden auf die Ausgabe von Hermann Gmelin, München 1988, während für den italienischen Text der Commedia die kritische Ausgabe von Federico Sanguineti, Firenze 2001, benutzt wurde.

[21] Vgl. Alighieri, Convivo, S. 47, 60 und 86.

[22] So nehme das in Inf. XXXIV,113 als „gran seca“ bezeichnete bewohnbare Festland etwa ein Viertel der gesamten Oberfläche des Erdballs ein, und zwar eine Hälfte der nördlichen Hemisphäre, weshalb Dante auch von der „quarta habitabile“ (Alighieri, Questio, § 5) spricht. Die wichtige Stelle dazu in Alighieri, Questio, §§ 54-56.

[23] Engel, Dantes Inferno, 16f. Der scheinbare Widerspruch zwischen diesen beiden Erklärungen, der zeitweise dazu beigetragen hat, dass Dante als Autor der Questio in Frage gestellt wurde, erscheinen dadurch vereinbar, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Commedia und der Questio um zwei grundlegend verschiedene Textgattungen handelt, denen unterschiedliche Argumentationsweisen zugrunde liegen und in denen die Frage nach der Lage von Erde und Wasser dementsprechend von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden (Alighieri, Questio, VII-XXVIII der Einleitung).

[24] Vgl. Felten, Dante Alighieri , 23.

[25] Vgl. Hardt, Literatur, 110f.

[26] Das Paradies bezeichnet im engeren Sinn die mythisch geprägte Vorstellung eines Ortes höchster Seligkeit, ist Ausdruck für einen gegenwärtig noch verborgenen, überirdischen Aufenthaltsort der Erlösten in der Zwischenzeit zwischen Tod und Auferstehung. Im weiteren Sinne ist es die generelle Bezeichnung für die mythische und spirituelle Auffassung von einer ursprünglichen (zumeist schuldhaft verlorenen) und /oder erhofften bzw. verheißenen endzeitlichen Ort oder Zustand, die sich mit unterschiedlichsten Metaphern, Idealvorstellungen von Schönheit und Harmonie, sowie menschlichen Glücksverlangen und Sehnsucht nach Erlösung und Unsterblichkeit artikulieren. Der letzte Teil der Commedia befasst sich mit dem Paradies als dem Ort, an dem die Seligen wohnen, also dem himmlischen Paradies. Dessen hierarchische Gliederung in zehn Sphären ist ein visionäres Erlebnis, in dem Dante mit seinen Sinnen etwas erfasst, dessen Realität eigentlich geistiger Natur ist. Vgl. Ansgar Paus, Art. „Paradies I. Religionswissenschaftlich“, in: LThK3 7 (1998), Sp. 1359f.

[27] Vgl. Rudolf Baehr, “Suso in Italia bella giace un laco”. Zwischen Realismus und Allegorie: zu Herkunft, Charakter und Funktion landschaftlicher Elemente in der Divina Commedia, in: DDJb 74 (1999), 85-104, hier 91.

[28] „Und alle sieben haben ihre Größe / Mir nun gezeigt und die Geschwindigkeiten, / Und wie sie Abstand voneinander halten. / Die kleine Erde, wo wir so sehr toben, / Erschien mir ganz mit Bergen und mit Schluchten, / Als ich im ewigen Zwiegestirne kreiste.“

[29] Diese Stelle steht in der Tradition der Panorama-Schau von oben auf die Erde. Allerdings tritt hier mit dem Bild der Erde als (=, das Motiv der Kleinheit und Weltverachtung hervor. Vgl. Gmelin, Kommentar, 20 und auch Par. XXVII, 86.

[30] Vgl. Hübner, Kosmologie bei Dante, 58.

[31] Vgl. Münchberg, Möglichkeit der Kunst, 133.

[32] Ich zähle diese auf mit der genauen Angabe von Beginn und Ende jeder Station, einschließlich der Reise dorthin. Vgl. dazu Palgen, Dantes Sternglaube, 6. und ders., Werden und Wesen, 222.

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Details

Title
Raumstruktur, Schwellenübertretung und Übergangsritual in der Divina Commedia
Subtitle
Paradiso
College
Johannes Gutenberg University Mainz  (Romanisches Seminar, Italienisch)
Course
Vom Inferno nach Maradagal. Imaginäre Reise und Räume in der italienischen Literatur
Grade
1,0
Author
Year
2009
Pages
40
Catalog Number
V231197
ISBN (eBook)
9783656471967
ISBN (Book)
9783656472001
File size
2147 KB
Language
German
Notes
Es handelt sich hier um eine 40-seitige Hauptseminararbeit vom Sommersemester 2009. Die Dozentin kommentierte die Arbeit als eine sehr gute strukturierte und argumentative kohärente Arbeit, gründlich und detalliert. Des weiteren als eine durchgehend gelungene Darstellung, mit Berücksichtigung der relevaten Sekundäreliteratur. Die Arbeit zeichnet sich durch einen Anhang aus, der versucht die Struktur des Paradiso zu erfassen. Die Arbeit enthält Zitate aus Dantes Paradiso, ist dennoch aus dem Kontext heraus verständlich. Für weitere Informationen bitte das Inhaltsverzeichnis heranziehen.
Keywords
Dante Alighieri, Dante;, Paradiso, Divina Commedia, Göttliche Komödie;, Komödie;, Raumstruktur;, Empyreum;, Beatrice;, Semantik des Raumes;, Himmelssphären;, Seele;, Bernhard von Clairvaux;, Übergangsritual;, Schwellenübertretung;, Paradies;, himmliche Planeten;, Seelen-Raum;, Piccarda Donati;, Grenzüberschreitung;, Raumüberschreitung;, Mikroraum;, Makroraum;
Quote paper
Claudia Curcuruto (Author), 2009, Raumstruktur, Schwellenübertretung und Übergangsritual in der Divina Commedia, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231197

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