Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Historische Entwicklung
3. Beitrittskriterien
4. Diskurse
4.1 Religiös-kulturelle Argumentationslinie
4.1.1 Exkludierende Argumente
4.1.2 Inkludierende Argumente
4.2 Einfluss der Finalitätsmodelle Europas
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturliste
1. Einleitung
Der nachstehenden Ausarbeitung liegt folgende Forschungsfrage zugrunde: „Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass die Türkei ein stark vom islamischen Glauben geprägter Staat ist, in der Debatte um den EU-Beitritt?" Das Untersuchungsziel liegt dabei in der Frage, ob ungeachtet dessen, dass der EU an keinem Punkt der Europäischen Verträge eine bestimmte Religion zugeordnet wird[1], der Aspekt der Religion dennoch als Argumentationsgrundlage im Beitrittsdiskurs genutzt wird. Der Schwerpunkt der Untersuchung wird dementsprechend auf einer Analyse der direkten Argumente der religiös-kulturellen Argumentationslinie, wie sie insbesondere von deutschen Argumentationsführern häufig genutzt wird, liegen. Die bereits lang andauernde Entwicklung des Beitrittsprozesses der Türkei findet in dieser Arbeit keine Berücksichtigung, da dies an dem Zielinteresse vorbeiführen würde.
Methodisch erfolgt die Bearbeitung der Thematik dieser Hausarbeit vor allem durch die Nutzung vorhandener Publikationen. Zudem wird partiell auf die Vertragstexte der EU Bezug genommen. Dementsprechend ergibt sich ein vorrangig hermeneutisches Vorgehen.
Zu Beginn der Untersuchung werden die historischen Entwicklungen in der Türkei und speziell die türkisch-europäischen Beziehungen dargestellt. In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine Beschreibung des Wandels des Verhältnisses zwischen Staat und Religion in der Türkei vom Osmanischen Reich bis in die Jetztzeit. Daran anknüpfend werden kurz die Beitrittskriterien beschrieben, welche als Grundlage der im Anschluss aufgeführten Argumentationslinien zur Frage des Türkeibeitritts dienen. Von besonderem Interesse wird hierbei die religiös-kulturelle Argumentationslinie sein, auf der daher auch der Schwerpunkt der Untersuchung liegen wird. Abschließend wird die Bedeutung der religiös-kulturellen Argumentationslinie in Relation zur Grundsatzfrage der Finalität der EU gesetzt.
Zum aktuellen Forschungsstand ist festzustellen, dass zur Thematik der allgemeinen Beitrittsdebatte der Türkei ein recht breites Spektrum an Lektüre vorhanden ist, wobei der Aspekt der Religion allerdings in der Regel nur einen sehr geringen Stellenwert einnimmt und eher beiläufig behandelt wird. Positiv hervorzuheben ist das 2005 von Helmut König und Manfred Sicking herausgegebene Werk „Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisung en für ein Europa am Scheideweg“ aufgrund seiner vielschichtigen Darstellung der Türkeidebatte und seines Faktenreichtums. Beachtenswert ist an diesem Werk auch, dass der Faktor Religion dort deutlich Beachtung findet. Ähnlich verhält es sich auch mit Jochen Walters 2008 erschienenem Werk „Die Türkei - ,Das Ding auf der Schwelle‘. (De-) Konstruktionen der Grenzen Europas“. Der Autor erläutert ausführlich die verschiedenen Diskurse der Beitrittsdebatte, übermittelt einen breiten historischen Überblick und lässt die besondere Position des Beitrittskandidaten Türkei deutlich werden. Die Arbeit „Die Europäische Union und der Beitritt der Türkei. Positionen türkischer Parteien und der Parteien im Europäischen Parlament“, welche von Ismail Ermagan herausgegeben wurde, zeichnet dagegen zwar die unterschiedlichen Positionen der Parteien auf europäischer und türkischer Ebene ab, allerdings bietet der Großteil des Werkes, welcher in Interviewform verfasst ist, kaum gehaltvolle Fakten, sondern eher die speziellen Positionen einzelner Abgeordneter. Aus diesem Grund wird dieses Werk in der folgenden Ausarbeitung kaum berücksichtigt.
2. Historische Entwicklung
Da die historischen Entwicklungen bekanntermaßen stets das Fundament aktueller Geschehnisse bilden, gilt es zunächst darzustellen, welchen Stellenwert der Islam tatsächlich in der Geschichte der Türkei einnahm.
Mit der gemeinsamen Geschichte Europas und der Türkei werden häufig gegenseitige kriegerische Auseinandersetzungen, wie die Eroberung Konstantinopels oder die Belagerung Wiens assoziiert.[2] Dabei standen sich der europäische Kulturkreis, welchen Säkularisierung, Demokratisierung und die Zeit der Aufklärung auszeichneten, und der, durch den Islam stark religiös geprägte und somit antiquierte Kulturkreis des Osmanischen Reiches gegenüber.
Doch es bestanden auch schon zu dieser Zeit enge und lang andauernde Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Europa, welche den wechselseitigen Austausch und die Anpassung kultureller Werte zur Folge hatte. Vor allem im 19. Jahrhundert diente Europa der Türkei als Vorbild eines modernen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells. So gilt dies Jahrhundert als eine bedeutende erste Reformperiode (im türkischen tanzîmât) welche den osmanischen „Weg nach Westen“ ebnete.
Die Gründung der Türkischen Republik durch Mustafâ Kemâl Atatürk[3] im Jahre 1923 machte endgültig die europagerichtete Position der Türkei deutlich. Neben der Anpassung des Straf- und Zivilrechts nach europäischem Maßstab, zeichnete diesen Umstrukturierungsprozess auch die Formung eines laizistischen Systems aus.[4] Atatürk verstand unter Laizismus allerdings nicht die strikte Trennung von Staat und Kirche oder die Freiheit der Religionswahl. Vielmehr sah er in einer staatlichen Instrumentalisierung der Religion die Möglichkeit, die Gesellschaft zu homogenisieren und dadurch den Nationalismus zu stärken.
Im Jahr 1937 hielten die sechs Grundprinzipien Atatürks -Republikanismus, Nationalismus, Volkstum, Etatismus, Revolutionismus und Laizismus- endgültig Einzug in die Verfassung. Man bezeichnet diese als Kemalismus oder Atatürkentum.[5]
Im Laufe der Zeit wurden die autoritär-kemalistischen Systemnormen, trotzt der Sicherung durch das konservativ eingestellte Militär, durch demokratisch rechtsstaatliche Normen ergänzt.[6] Als Beispiel gilt die Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1950, welche allerdings eine Instabilisierung des Systems zur Folge hatte, da das Militär, welchem nach wie vor große Macht zukam, häufig gegen die Regierung intervenierte und es immer wieder zu Militärputschen kam.[7]
Seit dem Jahr 2002 wird die Türkei durch die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP)[8] unter dem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan regiert.[9] Beachtenswert ist, dass es sich bei der AKP um eine tendenziell islamisch-demokratische Volkspartei handelt.[10] Dennoch werden die Werte des Kemalismus und Laizismus durch sie anerkennt, auch wenn sie in gewissen Bereichen um eine Lockerung bemüht ist. So versucht die AKP bspw., zur Stärkung der freiheitlichen Bürgerrechte, das strenge Kopftuchverbot in geschlossenen öffentlichen Räumen aufzuheben.[11] Außenpolitisch bekennt sich die AKP eindeutig zur Westlichen Gesellschaft und zeigt deutliche Bemühungen, die notwendigen Reformen für einen EU-Beitritt durchzusetzen.[12]
Grundsätzlich besteht in der Türkei eine Trennung zwischen Politik, Gesellschaft und Staat, sie ist säkularisiert. Tatsächlich ist es indes nach wie vor so, dass der Islam als Religion der Politik untergeordnet, jedoch keinesfalls wirklich von ihr getrennt ist. Getreu dem Laizismusverständnis Atatürks obliegt die Kontrolle und Interpretation eines bestimmten Glaubens den staatlichen Behörden.[13]
[...]
[1] Vgl. Gerhards, Jürgen: „Kulturelle Überdehnung“? - Kulturelle Unterschiede zwischen der EU und der Türkei. in Der Bürger im Staat, 55, 3 (2005), S. 113.
[2] Vgl. König, Helmut (Hrsg.) / Sicking, Manfred (Hrsg.): Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisungen für ein Europa am Scheideweg, Bielefeld 2005, S. 30f.
[3] gebürtig Mustafâ Kemâl; Atatürk bedeutet übersetzt „Vater der Nation“
[4] Vgl. Walter, Jochen: Die Türkei - ,Das Ding auf der Schwelle‘. (De-) Konstruktion der Grenzen Europas, Wiesbaden 2008, S. 18.
[5] Vgl. Bezwan, Naif: Türkei und Europa. Die Staatsdoktrin der Türkischen Republik, ihre Aufnahme in die EU und die kurdische Nationalfrage, Baden-Baden 2008, S. 160 - 173.
[6] Vgl. Ebd. S. 219-226.
[7] Vgl. Rürup, Bettina Luise: Länderanalyse Türkei: Der Lange Weg in die Europäische Union. Bonn 2009, S. 4.
[8] Auf Türkisch: Adalet ve Kalkinma Partisi
[9] Vgl. Albrecht, Birgit u.a.: Der Fischer Weltalmanach 2011. Frankfurt am Main 2010, S. 482.
[10] Vgl. Tausch, Arno: Die Türkei, die islamische Welt und die Zukunft Europas. Ein Lehrstück zur US-Außenpolitik im 21. Jahrhundert. in: Studien von Zeitfragen, 37, 3 (2003), S. 22.
[11] Vgl. Karakas, Cemal: Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen. Frankfurt am Main 2007, S. 29.; Vgl. Rürup, Bettina Luise: Länderanalyse Türkei: Der Lange Weg in die Europäische Union, S. 8.; Vgl. Langenfeld, Christine: Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union - ein türkisches oder primär europäisches Problem? in Rat für Migration: Politische Essays zu Migration und Integration, 1 (2008), S. 8.
[12] Vgl. Karakas, Cemal: Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen. S. 31.
[13] Vgl. Tausch, Arno: Die Türkei, die islamische Welt und die Zukunft Europas. Ein Lehrstück zur US-Außenpolitik im 21. Jahrhundert, S. 22f.