Novellenmerkmale bei Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel"


Hausarbeit, 2008

22 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kurze Novellengeschichte und Hinweise auf allgemeine theoretische Probleme

3. Allgemeine Novellenmerkmale
3.1. Länge
3.2. "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit"
3.2.1. "eine": die Einzahl der Begebenheit
3.2.2. "sich ereignete Begebenheit"
3.2.3. "unerhörte"
3.3. Falke / Wendepunkt / Dingsymbol
3.4. Konzentration
3.5. Rahmen
3.6. Nähe zum Drama
3.7. Passivität der Protagonisten

4. Novellenmerkmale beim "Bahnwärter Thiel"
4.1. Kürze
4.2. "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit"
4.2.1. "eine": die Einzahl der Begebenheit
4.2.2. "sich ereignete Begebenheit"
4.2.3. "unerhörte"
4.3. Falke / Wendepunkt / Dingsymbol
4.4. Konzentration
4.5. Rahmen
4.6. Nähe zum Drama
4.7. Passivität der Protagonisten
4.8. Symbolik der Naturbeschreibungen

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Existenz von Novellenmerkmalen beim "Bahnwärter Thiel" zu belegen und die Zuordnung dieser Erzählung zur Novellengattung zu rechtfertigen.

Im Folgenden wird zuerst ein kurzer Überblick über die Novellengattung und die Novellengeschichte gegeben, wobei es auch gilt, die existierenden Probleme bei der Novellendefinition darzulegen und gegebenenfalls zu erläutern. Anschließend werden die typischen und allgemein anerkannten Novellenmerkmale zusammengefasst, bevor in einem dritten Schritt dann untersucht wird, mit welcher Begründung man Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" als Novelle bezeichnen kann und welche Novellenmerkmale vom Text erfüllt werden.

Die Festlegung von Novellenmerkmalen ist dabei nicht so einfach und eindeutig wie bei verschiedenen anderen Gattungen. Eine klare Definition und eindeutige Gattungsmerkmale gibt es nicht, vielmehr sind die Merkmale variabel und ein Text kann auch dann als Novelle gelten, wenn er nicht alle Hauptmerkmale der Gattung erfüllt. Auf dieses Problem wird im folgenden Kapitel näher eingegangen.

2. Kurze Novellengeschichte und Hinweise auf allgemeine theoretische Probleme

Der heutige Begriff der Novelle entwickelte sich aus dem italienischen Wort "novella" (Neuigkeit), welches "in der späteren Übertragung auf die literarische Gattung [in der italienischen Frührenaissance] eine Prosaerzählung meist geringeren Umfangs, die ein ungewöhnliches ´neues´ Ereignis berichtet", meint. (Wiese, 1971, S. 1 u. vgl. Ricklefs, 1996, S. 1437)

Der Begriff des "Neuen" ist dabei mehrdeutig, es kann entweder die Geschichte selbst sein, die neu ist (im Sinne von "noch nicht gehört"), oder aber der Inhalt oder die Art des Erzählens. (Vgl. Wiese, 1971, S. 1)

Die Theorie der Novelle entwickelte sich in Deutschland allerdings erst seit der Frühromantik, und auch der Begriff "Novelle" setzte sich im deutschsprachigen Raum erst seit 1760 langsam durch. (Vgl. Wiese, 1971, S. 1f.)

Nach Benno von Wiese kann man die Novelle einerseits als eine relativ moderne Gattung sehen, da die Anfänge der Gattungsbezeichnung in der italienischen Frührenaissance liegen und Boccaccios "Il Decamerone" von 1353 sowie die Werke Cervantes ihre ersten Höhepunkte darstellte. (Vgl. Ricklefs, 1996, S. 1443ff. u. vgl. Leis, 2007, S. 19f.)

Andererseits handelt es sich bei der Erzählform der Novelle aber um eine sehr viel ältere, da ihre Stoffe und ihre Methoden des Erzählens bis in die orientalischen Literaturen und in die vorchristliche Zeit zurückreichen, und es auch schon in der Antike novellistisches Erzählen gab. (Vgl. Wiese, 1971, S. 34f.)

Laut Paul Heyse ist Tieck als Schöpfer der modernen Novelle anzusehen, da dieser als erster die engeren Formen Boccaccios und Cervantes selbstständig erweiterte. (Vgl. Heyse, 1980, S. 491f.)

Den wahrscheinlich größten Einfluss auf die Novellentheorie hatten Goethe mit seiner Theorie von der "einen sich ereigneten unerhörten Begebenheit", Tieck mit seinem "Wendepunkt" sowie Heyse mit seiner "Falkentheorie". (Vgl. Ricklefs, 1996, S. 1438) Diese Theorien wird im folgenden Kapitel noch näher erläutert werden.

Ricklefs zufolge gibt es dabei keine idealtypische und zeitlose Novellenform: "In den vergangenen zwei Jahrhunderten sind Novelle und Erzählung immer deutlicher individualtypisch geworden [...]. Ihre Mannigfaltigkeit ist kaum mehr systematisch zu fassen und scheint sich mit Erfolg jeder Typologie zu entziehen. Keinem Muster mehr verpflichtet, werden die Erzählungen selbst zu Mustern." (Ricklefs, 1996, S. 1445f.) Wiese kommt zu dem gleichen Ergebnis. (siehe: Wiese, 1971, S. 12)

Hugo Aust kommt ebenfalls zu der Feststellung, dass die Definition der Novelle mehr als schwierig ist und er betont, dass die Novelle vom 19. zum 20.Jahrhundert so große Veränderungen durchlaufen habe, dass die Diskrepanz zwischen dem traditionellen und dem modernen Erzählen Manchem so groß erschien, dass ihm der bloße Gedanke an eine Kontinuität der Form schon absurd vorkam.

Somit verwundert es kaum, dass "Krise" und "Auflösung der Novellenform" zu charakteristischen Schlagwörtern der Gattungsgeschichte aufgestiegen sind. (Vgl. Aust, 1990, S. 122 u. vgl. Lockemann, 1957, S. 9)

Nichtsdestotrotz setzt sich die Geschichte der Novelle ohne Unterbrechung bis in die Gegenwart fort, wie auch Hugo Aust feststellen muss. (Vgl. Aust, 1990, S. 122)

Man muss also, wie Benno von Wiese, zu dem Schluss kommen, dass die "Verschiedenheit der Stoffe [...] die allgemeine Bestimmung der Novelle außerordentlich erschweren" (Wiese, 1971, S. 3), und zudem u.a. das Problem der Differenz zwischen der Novellentheorie und der Novellenpraxis die Bestimmung weiter erschweren. (Vgl. Wiese, 1971, S. 3f.)

Trotz der Tatsache, dass einige Autoren wie z. B. Ricklefs mittlerweile der Meinung sind, dass die Merkmale der Novelle kaum noch systematisch fassbar seien, soll im folgenden Kapitel versucht werden, die allgemeinen Merkmale der Novellengattung zu bestimmen.

3. Allgemeine Novellenmerkmale

Das Ziel dieses Kapitels ist es, die allgemeinen Merkmale der Novelle zu bestimmen und zu erläutern. Als anerkannteste Novellenmerkmale gelten die relative Kürze, die Begebenheit, der Falke, der Wendepunkt, die Konzentration und die Rahmenerzählung.

3.1. Länge

Bei der Novelle handelt es sich um eine "Erzählung mittlerer Länge". Aust zufolge zeugt diese Definition allerdings schon von einer "Resignation, die es nicht mehr für möglich hält, ´Novelle´ genauer bzw. inhaltlich angemessener zu bestimmen." (Aust: Novelle: S. 9 u. vgl. auch Lockemann, 1957, S. 8)

Der Norm-Komparativ "mittlerer" deutet dabei an, dass die Novelle, so Aust, immer nur im Vergleich und durch den Vergleich mit ihren epischen Nachbargattungen (wie z. B. dem Roman) bestimmt werden kann. Aus diesen fließenden Grenzen ergebe sich dann eine "genaue" Definition der Gattung Novelle. (Vgl. Aust, Novelle, S. 9)

Es wurde jedoch auf der anderen Seite auch versucht, den Umfang der Novelle absolut zu definieren, also in Seitenzahlen, Wörtern oder Lesezeit. Dabei ging man von 75 bis 150 Taschenbuchseiten aus, 20000 bis 40000 Wörtern, oder einer Lesezeit zwischen 5 Minuten und einer Stunde. (Vgl. Aust, Novelle, S. 9) Die Definition der Novelle über ihre Länge bleibt dabei allerdings immer noch ungenau und das Kriterium dieser Länge wird auch von anderen Gattungen, wie z. B. dem Märchen, erfüllt.

Die meisten Theorien zur Novellengattung können sich aber auf dieses Kriterium der Länge einigen. (Vgl. Wiese, 1971, S. 4)

Ricklefs zufolge sagt Musil , dass außer "dem Zwang, in beschränktem Raum das Nötige unterzubringen, kein Prinzip einen einheitlichen Formcharaker der Gattung [bedingt]". (Ricklefs, 1996, S. 1448)

Musil fasst zusammen, dass eine "plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung" die Novelle ergebe. (Ricklefs, 1996, S. 1448)

Auch Ricklefs selbst kommt zu dem Ergebnis, dass "das Kriterium des Umfangs keineswegs unerheblich ist; daraus resultieren der überschaubare Plan oder die Gedrängtheit der Darstellung." (Vgl. Ricklefs, 1996, S. 1436)

Die reduzierte Anzahl an Figuren sowie die seltenen Raum- und Zeitwechsel sind also eng verbunden mit der Kürze der Erzählung.

3.2. "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit"

Wie Aust schreibt, ist "die inhaltliche Zentralbedeutung des Novellenbegriffs [...] das auf Goethe zurückgehende [...] Moment der Begebenheit". (Aust, 1990, S. 10)

Dieser wohl bekanntesten Definition der Novelle zufolge solle die Novelle von "einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit" handeln, wie Goethe sich in einem Gespräch mit Eckermann am 25.01.1827 äußerte. (Goethe, 1948, S. 225)

Laut Wiese stellt die "sich ereignete unerhörte Begebenheit" den Wendepunkt in der Erzählung dar und manifestiert sich oft in einem Spitzenmotiv, dem sogenannten "Falken". (Vgl. Wiese, 2007, S. 16)

3.2.1. "eine": die Einzahl der Begebenheit

Goethe zufolge handelt die Novelle von einer Begebenheit. Diese Einzahl der Begebenheit hängt mit der Kürze der Erzählung zusammen und dient dabei vor allem der Abgrenzung zum Roman, wo meistens mehrere Begebenheiten erzählt werden. (Vgl. Aust, 1990, S. 12)

3.2.2. "sich ereignete Begebenheit"

Goethe redete von "einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit". Der Begriff der "Begebenheit" impliziert dabei die Tatsächlichkeit und die Realität des Ereignisses und erwies sich in der Novellengeschichte als sehr hilfreiches Kriterium. (Vgl. Aust, 1990, S. 10 u. S. 12). Die Wahrhaftigkeit und Realität der Begebenheit wird dabei durch den Zusatz des "sich ereigneten" noch einmal betont. (Vgl. auch: Wiese, 1971, S. 6f.) Das Kriterium der Wahrhaftigkeit dient vor allem zur Unterscheidung vom Märchen und der Fabel. (Vgl. Kunz, 1973, S. 2)

3.2.3. "unerhörte"

Das Adjektiv "unerhört" ist doppeldeutig. So kann es sowohl "neu" (dem Publikum noch nicht bekannt) als auch "unglaublich" oder "außergewöhnlich" (ein Normbruch oder eine Einmaligkeit) bedeuten. Laut Benno von Wiese hat Goethe den Begriff "unerhört" allerdings wohl eher im ursprünglichen Sinne, also als "noch nicht gehört" gemeint, und weniger als "außerordentlich" oder "märchenhaft wunderbar", wie es die romantische Interpretation der Novelle in Deutschland deutet. (Vgl. Aust, 1990, S. 11f.)

[...]

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Novellenmerkmale bei Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel"
Hochschule
Universität Trier
Note
2,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V232061
ISBN (eBook)
9783656487142
ISBN (Buch)
9783656492825
Dateigröße
494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hauptmann, Naturalismus, Novelle, Bahnwärter, Thiel, Gerhart, Novellenmerkmale
Arbeit zitieren
MA Paul Diederich (Autor:in), 2008, Novellenmerkmale bei Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232061

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