Das Mikrokreditwesen in Brasilien. Ausgestaltung und Entwicklung mit dem Beispiel "Crediamigo"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der brasilianische schwache duale Wohlfahrtsstaat: Ein Überblick

3 Das brasilianische Mikrokreditwesen
3.1 Politisch-rechtliche Implementierung
3.2 Der wichtigste Akteur im brasilianischen Mikrokreditsektor - Crediamigo
3.2.1 Allgemeines und Ausgestaltung
3.2.2 Die Kreditnehmer
3.2.3 Zugang zum Finanzsektor

4 Fazit

5 Glossar

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Mikrokredite werden von einer breiten, oftmals fachfremden Öffentlichkeit in der Regel als soziale Maßnahme gesehen, welche den Ärmsten der Armen zugute kommt und klar wohlfahrtliche Effekte mit sich bringt und somit überwiegend positiv in ihren Auswirkungen ist. Auch aus der Branche der Mikrofinanz selbst wird diese Ansicht wenig überraschenderweise vertreten, und die anfänglichen Intentionen im Bangladesch der 1970er Jahre waren wohl auch dergestalt.[1] Allerdings gibt es ebenfalls viele Stimmen, welche behaupten, durch Mikrokredite würden vergleichsweise ärmere Staaten mit weniger stark ausgebildeten Sozialstaatsstrukturen – im Folgenden Entwicklungsländer genannt – verleitet, sich noch weiter aus dieser Verantwortung zu ziehen und den Mikrofinanzinstituten das Feld bei der Gestaltung allzu produktiver Wohlfahrtstaatsmuster zu überlassen; sowie negative Auswüchse im Gebaren jener Institute anprangern, die durch die Mikrokreditvergabe eigentlich Linderung her- stellen sollten.[2]

Brasilien als mit seinen über 190 Millionen Einwohnern weitaus größtes lateinamerikanisches Land ist in den Sozialwissenschaften seit jeher ob seiner potenziellen Reichtümer, sei es an Menschen, Fläche oder natürlichen Ressourcen, einerseits und seiner paradoxen grassierenden sozialen Ungleichheit andererseits ein Forschungsobjekt von großem Interesse gewesen. Was seine Sozialpolitik angeht, so handelt es sich laut der indisch-US-amerikanischen Politologin Nita Rudra um einen dualen Wohlfahrtsstaat aus einer Mixtur kommodifizierender als auch dekommodifizierender Elemente, wobei Letztere überwiegen, was den schwachen dualen Charakter des brasilianischen Wohlfahrtsregimes konstituiere.[3] In dieser Studie untersucht Rudra, wie Brasiliens Sozialpolitik im Zuge des Globalisierungsdrucks reformiert wurde, wobei sie feststellt, dass zwar sowohl partielle Einschnitte in protektiven Schemata stattgefunden haben als auch teilweise verstärkt in produktive investiert worden ist, jedoch wesentliche Eigenheiten des dualen Wohlfahrtssystems prinzipiell unverändert blieben:

„Trotzdem bestehen wichtige Elemente institutioneller Kontinuität fort, was das Versagen, höhere Bil- dung zu verbessern, angeht und die fortgesetzte Priorisierung protektiver Wohlfahrtsschemata, die sig- nifikante Schichtungseffekte haben. Somit sind die hauptsächlichen Problemfelder die folgenden: (1) Kommodifizierungsschemata bedürfen noch nennenswerter Verbesserungen; und (2) einheimische Institutionen in Brasilien stellen immer noch keine adäquate soziale Absicherung, Gesundheits- und Arbeitsmarktschutzmechanismen für den städtischen informellen Sektor zur Verfügung.“[4]

An dieser Stelle werde ich im Rahmen meiner Seminararbeit versuchen, das öffentlich geförderte Mikrokreditwesen unter Rücksichtnahme auf die dazugehörigen staatlichen bzw. auf Staatsinitiative hin gegründeten halbstaatlichen Mikrofinanzinstitutionen, die dahinter stehenden (Kommodifizierungs-)Absichten seitens der Politik sowie welche Bevölkerungsgruppen innerhalb Brasiliens dualem Wohlfahrtsstaat Zugang zu diesem System finden, zu beleuchten und seine Einbettung in den bereits erwähnten dualen brasilianischen Kontext darzulegen. Hierzu sollen neben einer kurzen Eingangsdarstellung des dualen Wohlfahrtsregimes und einem Abriss der Geschichte des brasilianischen Mikrokredits u.a. einige empirische Daten, mit Hauptaugenmerk auf das größte lateinamerikanische und älteste brasilianische Mikrokreditprogramm „Crediamigo“, herangezogen werden. Abschließend soll das Erarbeitete bewertet und ein kurzer Ausblick gegeben werden.

2 Der brasilianische schwache duale Wohlfahrtsstaat: Ein Überblick

Hinsichtlich des generellen Wohlfahrtsstaatsregimes möchte ich an dieser Stelle nur kurz auf die hauptsächlichen Kommodifizierungs- und Dekommodifizierungsmaßnahmen sowie die Rolle der nationalen Institutionen hierbei eingehen.

Prinzipiell wird versucht, der Dekommodifizierung Priorität einzuräumen, wobei gleichzeitig Interesse besteht, produktive Arbeitskraft zu fördern. Dekommodifizierung begann in Brasilien bereits ab den 1930er Jahren unter der Präsidentschaft Getúlio Vargas‘ und dessen Maßnahmen zur sogenannten importsubstituierenden Industrialisierung, wobei der Erhalt des sozialen Friedens und der Kontrolle über die Bevölkerung im Vordergrund standen.[5] Als dekommodifizierende Maßnahmen sind besonders das äußerst arbeitnehmerfreundliche Arbeitsrecht und die soziale Absicherung zu nennen, wobei hier darauf verwiesen werden muss, dass diese natürlicherweise nur den Menschen im formellen Sektor zugute kommen können, womit gut die Hälfte aller Brasilianer im Erwerbsalter ausgeschlossen sind. Weiterhin sei auf den sozialen Wohnungsbau verwiesen, der zunächst Arbeitern (zunehmend auch den Favelados, also den Bewohnern der brasilianischen Elendsviertel) Abhilfe verschaffen sollte, jedoch ebenfalls mit Hintergedanken bezüglich verminderter gewerkschaftlicher Organisationsmöglichkeiten initiiert wurde.[6]

Kommodifizierende Vorkehrungen sind seit Vargas, und hier insbesondere seit dessen zweiter Amtszeit 1950-1954, bis heute vor allen Dingen im Bildungssektor, und hier wiederum v.a. im primären Bereich angesiedelt. So lagen zwischen 1999 und 2002 die Ausgaben für Grundschulbildung bei 40 % aller Bildungsinvestitionen, besonders seit der 1967 breit angelegten Alphabetisierungskampagne im Rahmen des Movimento Brasileiro de Alfabetização (MOBRAL). Als Erfolg kann dabei durchaus die Hohe Einschulungsrate von gut 80 % 1995 gewertet werden, was über dem weltweiten Durchschnitt liegt und nahe an OECD-Werte heranreicht. Allerdings ist auch hier wieder darauf zu verweisen, dass einerseits die Qualität dieses Bildungsangebots im primären Sektor immer noch zu wünschen übrig lässt und andererseits der sekundäre und tertiäre relativ stark vernachlässigt wurden.[7] Im Gesundheitswesen, das lange fast ausschließlich privat bzw. klientelistisch angelegt war, hat die (qualitativ eher mit Verbesserungspotenzial ausgestatte) kostenlose Grundversorgung seit Lula (Arbeiterpartei PT) sogar dazu geführt, Mittel- und Oberschicht wieder vermehrt in alte Muster privater Vorsorge zurückzudrängen.[8]

Was die institutionelle Implementierung anbetrifft, so ist in dualer Weise das Familiengeld in Form der Bolsa Família hervorzuheben: 2003 von der Regierung Lula als Zusammenschluss von Bolsa Escola, Bolsa Alimentação und Auxílio Gás (Schul-, Ernährungs- und Kochgasgeld) ins Leben gerufen, ist diese, wie schon beim vorherigen Schulgeld der Fall, ein zweckgebundenes Instrument, welches bedürftigkeitsorientiert vergeben wird und seinen dualen Charakter in der protektiven Möglichkeit, sich adäquat um die eigene Gesundheit zu kümmern, sowie im produktiven Bildungselement entfaltet.[9] Zu Globalisierungszwängen in Form von Kürzungen bzw. Wegfall von staatlichen Leistungen besagt Rudra, dass es im Arbeitsrecht Lockerungen gab, die sich aber wie erwähnt nur auf den formellen Sektor auswirken, außerdem wurden Privilegien für Staatsdiener beschnitten, was Spielraum für Umverteilungen in ländliche Regionen vornehmlich in den nationalen Armenhäusern der Regionen Norden und Nordosten schuf.[10] Auch der private Sektor erfuhr im Zuge dessen keinen nennenswerten Zulauf, abgesehen von der Gesundheitsvorsorge der Oberschichten.

Insgesamt nimmt also wie bereits beschrieben die Dekommodifizierung noch eine vorherrschende Stellung ein und Kommodifizierung findet hauptsächlich in der Bildung statt. Außerdem wurde gemäß Rudra kein sogenannter „Abwärtswettlauf“ durch Reformen aufgrund der Globalisierung eingeleitet; Pensionszahlungen sind beispielsweise immer noch höher als Gesundheits- und Bildungsausgaben addiert. Der tendenzielle institutionelle Klientelismus bzw. „Staatskorporatismus“ besteht laut der US-Politologin somit, wenn auch abgeschwächt, nach wie vor.[11]

[...]


[1] Die allererste Form dieser Art der Klein- bzw. Kleinstkreditvergabe geht u.a. auf das Genossenschaftssystem der Raiffeisenbank in Deutschland zurück, das ähnlich wie die weltweit bekannte Grameen Bank aus Bangladesch das Mitgliederprinzip einführte; vgl. DRV 2012 und Yunus 2008. Für eine ausführliche Erläuterung des Mikrofinanzwesens ebenso in seiner Unterscheidung zwischen den drei Hauptprodukten Mikrokredit, Mikroversicherung und Micro Savings siehe z.B. Schneider 1997; für eine tiefergreifende Analyse der historischen Entwicklung der Mikrofinanz, insbesondere unter ihren primär ethischen Beweggründen und wie sich diese in einer oftmals von Kommodifizierung geprägten Praxis „schlugen“, siehe Schmidt 2008.

[2] Vgl. etwa Klas 2011

[3] Rudra 2008. Eine etwas genauere Erläuterung der Termini „produktiv/protektiv“ bzw. „kommodifizierender/dekommodifizierender“ Maßnahmen in Bezug auf Wohlfahrtsregime bietet Rudra 2007: ein produktives Wohlfahrtsregime zeichnet sich en gros dadurch aus, dass es Maßnahmen bevorzugt, welche das Individuum bis zu einem gewissen Grad vom Markt und der darauf angebotenen eigenen Arbeitskraft abhängig machen, beispielsweise kommodifizierende Investitionen ins Bildungssystem, wodurch das Individuum „fit“ gemacht werden soll für den Arbeitsmarkt; ein protektives (eher hiesigen Auffassungen entsprechendes) Regime entkoppelt das Individuum vom Markt durch dekommodifizierende Vorkehrungen wie eine Arbeitslosenversicherung, um nur ein plakatives Beispiel zu nennen. Generell lässt sich sagen, dass der Dekommodifizierungs-Grad ein Indikator für die Entwicklung eines Wohlfahrtsstaatsregimes ist.

[4] Ebd., S. 211 [aus dem Englischen]

[5] Rudra 2008 zieht hier das Konzept des „Staatskorporatismus“ hinzu, in welchem die Wählerschaft aufgeteilt ist nach singulären, nicht-kompetitiven, hierarchisch angeordneten und funktional differenzierten Kategorien, vom Staat so anerkannt und mit moderatem Repräsentationsmonopol bedacht, um im Gegenzug gewisse Kontrolle innerhalb bzw. über die Gruppen und ihre interne Organisation zu erhalten; vgl. ebd., S. 178f. Darunter fiel u.a. die vornehmlich Staatsbediensteten vorbehaltene Einheitsinstitution für Sozialversicherung. Diese Bevorzugung funktionaler Eliten hatte und hat z.T. heute noch Tradition; vgl. auch Speck 2010. Rothfuß 2008 benennt diese korporatistische Struktur in ähnlicher Weise in seiner von hoher soziologischer Qualität geprägten Beschreibung der Ursachen und Wirkungsmuster sozialer Ungleichheit im größten Staat der südlichen Hemisphäre.

[6] Vgl. Rudra 2008, S. 180ff.

[7] Vgl. ebd., S. 183ff.

[8] Vgl. Speck 2010, S. 119

[9] Vgl. ebd., S. 120f. sowie Rudra 2008, S. 192f.

[10] Vgl. ebd., S. 193f. Generell ist Umverteilung ein bevorzugtes Mittel, was sich auch in fiskaltechnischen Regelungen manifestiert; vgl. Speck 2010, S. 119 sowie Vernengo 2007.

[11] Vgl. Rudra 2008, S. 196ff.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Das Mikrokreditwesen in Brasilien. Ausgestaltung und Entwicklung mit dem Beispiel "Crediamigo"
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
21
Katalognummer
V232760
ISBN (eBook)
9783656495963
ISBN (Buch)
9783656498018
Dateigröße
603 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mikrokreditwesen, brasilien, ausgestaltung, entwicklung, beispiel, crediamigo
Arbeit zitieren
Harry Körner (Autor:in), 2013, Das Mikrokreditwesen in Brasilien. Ausgestaltung und Entwicklung mit dem Beispiel "Crediamigo", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232760

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