Herders Nationsbegriff vor dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie


Dossier / Travail, 2011

28 Pages, Note: 1,3


Extrait


Gliederung

Siglen

1. Einleitung

2. Herders Leben und Werk

3. Herders Geschichtsphilosophie
3.1 Erste Phase: die Kette der Kulturen
3.2 Zweite Phase: der Baum der Menschheit
3.3 Dritte Phase: das Buch der Schöpfung
3.4 Vierte Phase: die Waage der Gerechtigkeit

4. Herders Nationsbegriff
4.1 Nation / Volk
4.2 Nationalcharakter
4.3 Staat
4.4 Herder und Historismus

5. Herder in den Zeiten der Globalisierung

6. Literatur

Siglen:

FA Herder, Johann Gottfried: Werke. 10 in 11 Bänden. Hg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher, Jürgen Brummack, Christoph Bultmann, Ulrich Gaier, Gunter E. Grimm, Hans Dietrich Irmscher, Rudolf Smend, Rainer Wisbert u. Thomas Zippert. Frankfurt a. M. 1985- 2000. [Frankfurter Ausgabe]

HWPh Ritter, Joachim, Gründer, Karlfried u. Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bände 1-13. Basel 1971-2007.

NuK Otto, Regine (Hg.): Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Würzburg 1996.

WA Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Hg. v. Paul Raabe. München 1990. [Weimarer Ausgabe]

1. Einleitung

Johann Gottfried Herder (1744-1803) lebt in einer Umbruchszeit[1]. Er sucht Orientierung in der Geschichte, betreibt Empirie[2], will gerecht, einfühlend interpretieren[3] und nimmt alle Zeiten und Kulturen gleichermaßen ernst[4]. Was er findet, erscheint ihm so spezifisch wie allgemein: es ist immer der individuelle, an Zeit und Umstände gebundene Ausdruck einer allen Menschen gemeinsamen Anlage zur Humanität und zugleich Zeichen dafür, dass alle Geschichte auf diese Humanität als ihrem Ideal hinstrebt[5]. Zwischen Keim und Telos verströmt sich das Universale als Partikulares: Humanität muss und soll sich beständig in immer neuen Konkretisierungen, Individuierungen entfalten, in jeder einzelnen Kultur und in jedem einzelnen Menschen, – für Herder „ein allgemeines Gesetz; dieses ist Bildung, bestimmte Gestalt, eignes Dasein[6].

Die Frage nach der Balance von Allgemeinem und Mannigfaltigem[7] ist in unserer Zeit die nach Universalität und Partikularität[8]. Herder würde wohl auch heute jeder Nation raten, ihre Form von Humanität zu finden, – und vermutlich zugleich ausschließen, dass dies unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ohne intensive Partizipation am interkulturellen Diskurs gelingen könnte.

Meine Arbeit soll zum besseren Verständnis einer solchen Position beitragen, indem sie Herders Geschichtsphilosophie und seinen Nationsbegriff darstellt. Eingangs werden Leben und Werk Herders skizziert. Abrisse schließen sich an: erst von Herders Geschichtsphilosophie allgemein, danach der Phasen ihrer Entwicklung. Dann werden die Begriffe ‚Nation‘/‚Volk‘, ‚Nationalcharakter‘ und ‚Staat‘ erläutert. Nach Hinweisen zu Herders Beziehung zum Historismus wird abschließend – sehr fiktiv! – die Haltung angedeutet, die Herder in der aktuellen interkulturellen Diskussion möglicherweise eingenommen hätte.

2. Herders Leben und Werk

Johann Gottfried Herder, 1744 im ostpreußischen Mohrungen geboren, kommt aus einem armen, pietistischen Elternhaus. Nach dem Besuch der örtlichen Lateinschule fertigt er als 16jähriger für den Diakon Trescho, den Eigner einer guten Bibliothek, Exzerpte. 1762 beginnt er in Königsberg das Studium der Medizin, wechselt aber bald zu Theologie und Philosophie, wo Kant sein bevorzugter Lehrer ist; Hamann wird sein Freund. 1764 geht er als Lehrer und Prediger nach Riga, erste literarische Arbeiten erscheinen. 1769 unternimmt Herder eine Schiffsreise nach Nantes, das „Journal meiner Reise im Jahre 1769“ entsteht. Es folgt ein Aufenthalt in Paris, dort lernt Herder u.a. Diderot kennen. Danach reist er nach Hamburg, wo er Lessing trifft. 1770 in Straßburg begegnet er Goethe. 1771 wechselt er in die Bückeburger Kirchenverwaltung, 1772 verfasst er die Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“. Die Arbeit an „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ beginnt 1773. 1776 wird er Weimarer Hofprediger. Die „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit“ schreibt er 1784-91, unterbrochen durch eine Italienreise 1788/89. Die Französische Revolution begrüßt Herder. 1785 bis 1797 kommen die „Briefe zur Beförderung der Humanität“, 1799 die „Metakritik“, 1800 die „Kalligone“, ab 1801 die „Adrastea“ heraus. Nach schwerer Krankheit stirbt Herder 1803 in Weimar.[9]

Herder sei „weitstrahlsinnig“ – so Goethe.[10] Neben der Geschichte äußert er sich zu Theologie, Philosophie, Pädagogik, Künsten und Kultur, zu Sprache und Volkskunde, betätigt sich als Prediger, Pädagoge, Poet, Dramatiker, Literaturkritiker, Übersetzer und sammelt Volkslieder, Märchen, Sagen oder regt zu deren Sammlung an[11].

Herders Leben wie Nachleben sind überschattet. Zwar gleicht er, mit Hilfe von Förderern, durch Bildung den Nachteil seiner Herkunft aus[12], zwar ist noch die erste Weimarer Zeit durch intensiven Austausch mit Goethe geprägt, doch später gerät er in Konflikte – zuerst zum ‚kritischen‘ Kant, dann auch zu den ‚Klassikern‘ Goethe und Schiller[13]. Kant etwa vermisst bei ihm die „logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze“[14], Goethe konstatiert bei Herder „eine Verehrung des Abgestorbenen und Vermoderten, eine Gleichgültigkeit gegen das Lebendige und Strebende“[15].

Dem Nachleben Herders haben diese Beurteilungen sehr geschadet[16]. Auch Hegel, der – obwohl er selbst dies nicht explizit vermerkt hat[17] – Herder viele Anregungen verdankt[18], drängt mit seiner Geschichtsphilosophie Herders Arbeiten zunächst in den Hintergrund (zur späteren Nachwirkung Herders siehe 4.4).

Nach dem 1. Weltkrieg wird Herder von nationalistischen Geschichtsideologen vereinnahmt.[19] Dies zieht bis heute Vorbehalte ihm gegenüber nach sich[20]. Erst seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfährt Herders Philosophie mehr und mehr Gerechtigkeit und Aufmerksamkeit.[21]

3. Herders Geschichtsphilosophie

Gott, für Herder apersonale Urkraft, Güte und Vernunft, hat die Natur – in totum Vollkommenheit in steter Bewegung – nach seinen Gesetzen erschaffen und eingerichtet.[22] Als Kraft ist Gott in allen seinen Geschöpfen, erschöpft sich aber nicht in der Schöpfung (Pan en theismus[23] ). Der Schöpfungsauftrag für alle Kreatur, der Sinn des Lebens, ist die jeweilige individuelle Vervollkom-mnung.[24]

Mensch und Geschichte sind Teil der Natur und unterliegen ihren Gesetzen.[25] Aufgabe der Geschichte, und damit Auftrag an die Menschheit, ist die Verwirklichung der Humanität: theoretisch zu vervollkommnen als Vernunft, die das Allgemeine betont, und praktisch als Billigkeit, die das Mannigfaltige würdigt[26]. Werkzeug hierzu ist die (christliche) Religion, die „alle Völker zu Einem Volk, für diese und eine zukünftige Welt glücklich, […] bilden“[27] soll.

Endliche Lebewesen existieren immer zu einer Zeit an einem Ort. Pflanzen und Tiere haben ihre spezifische feste ‚Sphäre‘, auf die sie zugerichtet sind – ohne Bewusstsein für die Vollkommenheit der Schöpfung und ihren Auftrag darin. Solch ein Bewusstsein hat nur der Mensch – dies kraft seiner Vernunft, die er genau deshalb besitzt, weil seine Triebe und Sinne von der Bindung an eine feste Sphäre frei gestellt sind. Doch eine Sphäre braucht jedes Lebewesen; so muss sich der Mensch, da ohne vorgegebene Sphäre, diese selber gestalten.[28]

Die Kräfte des Menschen sind zuerst nur als Keim da; um sie zu entwickeln, sind Anstoß und Nahrung von außen nötig, aus der jeweiligen Sphäre[29]: Zunächst entfalten sich, angeregt durch die Natur, die Sinne, dann, auf der Grundlage von Sinneseindrücken im Gedächtnis, die Einbildungskraft[30] und schließlich, durch gelebte, vernommene Sprache, die Vernunft.[31]

Allein Gott sieht die Vollkommenheit der gesamten Schöpfung, über alle Natur und Geschichte hinweg; Menschenkräfte reichen dazu nicht.[32] Was der Mensch hier erfassen kann, erfasst er nur einfühlend – durch Analogie und Bild, nicht durch abstrakt-begriffliche Spekulation:

„der empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt darauf sein Bild … Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns, von uns zum Schöpfer.“[33]

In der nachfolgenden Skizze der Phasen, in denen sich Herders Philosophie der Geschichte entfaltet, fokussiere ich jeweils auf eine typische Metapher.

3.1 Erste Phase: die Kette der Kulturen

Im Journal meiner Reise im Jahr 1769 und in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) entwirft Herder erstmals eine einheitliche, Natur und Kultur umfassende, Geschichte. Ihre Ausführung geht er noch nicht an – mit Ausnahme der Beziehung von Sprache und Geschichte[34].

In diesem Kontext steht die Metapher der Kette[35] als Symbol für die Einheit der Menschheit wie für den Zusammenhang der Gedanken – sowohl im Bewusstsein jedes Einzelnen als auch zwischen den Menschen[36]:

„[…] der erste Gedanke in der ersten menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der letzten menschlichen Seele zusammen“[37] ; „[…] ein ewiges Band, das das ganze Menschengeschlecht zu einem großen Ganzen macht“[38].

Verknüpft wird diese Kette durch die – sich wechselweise mit der Vernunft konstituierende und im Austausch von Menschen, Generationen und Kulturen wirkende – Sprache.[39] Indem sie, die das Spezifikum des Menschen gegenüber dem Tier bildet[40], die Einheit der Menschheit und ihrer Geschichte verbürgt, erweist sich Herders Geschichtssicht in der Basis als sprachphilosophisch[41].

[...]


[1] Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. Epoche-Werke-Wirkung. München 2. Auflage 2007, S. 26; hier Verweis auf Kosellecks Begriff der ‚Sattelzeit‘ (als Zeit der beginnenden Moderne).

[2] Heise, Jens: Johann Gottfried Herder zur Einführung. Hamburg 1998, S. 77.

[3] Karthaus, a.a.O., S. 54.

[4] Rattner, Josef u. Danzer, Gerhard: Aufklärung und Fortschrittsdenken in Deutschland 1750 - 1850. Würzburg 2004, S. 92 f.

[5] Gaier, Ulrich: Von nationaler Klassik zur Humanität. Konzepte der Vollendung bei Herder. In: NuK. S. 49-64, S. 63. [Gaier 1996]

[6] FA 6, S. 55.

[7] Heise, a.a.O., S. 9 ff., S. 77 ff.

[8] Siehe u.a. Habermas, Jürgen: Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte. In: Brunkhorst, Hauke u.a. (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Frankfurt a. M. 1999. S. 216-227.

[9] Zusammenfassung nach: Baur, Ernst: Johann Gottfried Herder. Leben und Werk. Stuttgart 1960, S. 8 ff., 13 ff., 28 ff., 38 ff., 62 ff., 85 ff., 127 ff.; Irmscher 2001, S. 9 ff.

[10] Zit. nach Irmscher 2001, S.7; Goethe charakterisiert Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774) in einem Brief an Schönborn als „weitstrahlsinnig“.

[11] Irmscher, Hans Dietrich: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S. 142 ff.

[12] Baur, a.a.O., S. 8 ff., 13 ff.

[13] Ders., S. 127 ff.

[14] Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1970. Bd. 6. S. 779-806, S. 781.

[15] Goethe in einem Brief vom 20.6.1796 an Johannes Heinrich Meyer (WA 4, 11, S. 100 f.).

[16] Heinz, Marion: Herders Metakritik. In: Dies. (Hg.): Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus. Amsterdam/Atlanta(GA) 1997. S. 89-106, S. 92.

[17] Proß, Wolfgang: Nachwort. In: Herder, Johann Gottfried: Werke. Hg. v. Wolfgang Proß. Bd. III. München 2002. S. 837-1042, S. 1022.

[18] Gadamer, Hans-Georg: Herder und die geschichtliche Welt (1967). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Neuere Philosophie. 2. Probleme & Gestalten. Tübingen 1987. S. 318-335, S. 334; Irmscher 2001, S. 103.

[19] Dann, Otto: Herder und die Deutsche Bewegung. In: Sauder, Gerhard (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744-1803. Hamburg 1987. S. 308-340.

[20] Löchte, a.a.O., S. 76.

[21] Otto, Regine: Vorwort. In: NuK. S.XI-XIII, S. XI f.

[22] Köpke, Wulf: HerdersWendenach 1787. Monatshefte (Madison Wisc. 2003). Bd. 95. Nr. 2. S. 273-293, S. 282; Irmscher, Hans Dietrich: Poesie, Nationalität und Humanität bei Herder. In: NuK. S. 35-47, S. 43.

[23] Löchte, a.a.O., S. 174, Anm. 7.

[24] Irmscher 2001, S. 62.

[25] FA 6, S. 655: „Ein und dasselbe Gesetz also erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung“.

[26] FA 6, S. 574, S. 651; Gaier 1996, S. 63; Irmscher 2001, S. 141.

[27] FA 6, S. 707.

[28] Gaier, Ulrich: Humanität als Aufgabe. Physis als Norm bei Johann Gottfried Herder. In: Beetz, Manfred/Garber, Jörn/Thoma, Heinz (Hg.): Physis und Norm: Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007. S. 13-28, S. 16 ff.

[29] FA 1, S. 720.

[30] FA 6, S. 303 f.: Ohne gereifte Vernunft „[dichtet] unsre Phantasie [= Einbildungskraft] nur Schattenträume […]“ und schafft „Irrgänge“.

[31] FA 4, S. 356 ff.; Gaier, Ulrich: The Problem of Core Cognition in Herder. Monatshefte (Madison Wisc. 2003). Bd. 95. Nr. 2. S. 294-309, S. 308; s.a. Heise, a.a.O., S. 85 ff.

[32] Irmscher 2001, S. 120 ff.

[33] FA 4, S. 330; Heise, a.a.O., S. 81; Irmscher 2001, S. 38 f.

[34] Heise (a.a.O., S. 79) sagt zur Abhandlung, diese lasse sich auch als Geschichtswerk lesen.

[35] FA 1, S. 773 f.; FA 6, S. 340.

[36] Irmscher 2001, S. 72.

[37] FA 1, S. 800.

[38] FA 2, S. 302.

[39] Irmscher 2001, S. 72.

[40] Heise, a.a.O., S. 25.

[41] Heise, a.a.O., S. 80.

Fin de l'extrait de 28 pages

Résumé des informations

Titre
Herders Nationsbegriff vor dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie
Université
University of Hagen
Note
1,3
Auteur
Année
2011
Pages
28
N° de catalogue
V232819
ISBN (ebook)
9783656498292
ISBN (Livre)
9783656499794
Taille d'un fichier
524 KB
Langue
allemand
Mots clés
Herder, Aufklärung, Historismus
Citation du texte
Hansrainer Bosbach (Auteur), 2011, Herders Nationsbegriff vor dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232819

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