Zur Scheidung von Sein und Werden in Platons Timaios

Proömium 27d 6 - 28a 4


Bachelorarbeit, 2011

30 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Der Timaios als Naturphilosophie - zum Begriff der fusij

Die Scheidung von Sein und Werden in ihrem argumentativen Kontext

Differenzierung von Sein und Werden - immer sein als wahrhaft sein

Korrelation von Sein und Erkennen

Die Erkenntnis des ontwj on - nohsei meta\logou

Die doca met` aissJhsewj alogou

Zur Verhältnisbestimmung von ontwj on und gignomenon entlang des texnh -Modells

Resümee: Physis - Techne - Eidos

BIBLIOGRAPHIE

Einleitung

ἔστιν οὖν δὴ κατ᾽ ἐµὴν δόξαν πρῶτον διαιρετέον τάδε: τί τὸ ὂν ἀεί, γένεσιν δὲ οὐκ ἔχον, καὶ τί τὸ γιγνόµενον µὲν [28α] ἀεί, ὂν δὲ οὐδέποτε; τὸ µὲν δὴ νοήσει µετὰ λόγου περιληπτόν, ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὄν, τὸ δ᾽ αὖ δόξῃ µετ᾽ αἰσθήσεως ἀλόγου δοξαστόν, γιγνόµενον καὶ ἀπολλύµενον, ὄντως δὲ οὐδέποτε ὄν.

Es ist nun meiner Meinung nach zuerst das Folgende zu unterscheiden: Was ist das immer Seiende, das kein Werden besitzt, und was das immer Werdende, das niemals ist? [28a] Das eine ist doch erfassbar durch das an der Vernunft orientierte Denken, da es immer mit sich selbst identisch ist, das andere hingegen ist durch auf

vernunftlose Wahrnehmung bezogene Meinung erfahrbar, da es beständig entsteht und vergeht, aber niemals wirklich ist.

(27d 6 - 28a 4)

In der Scheidung von Sein und Werden, die den ersten Logos des Timaios eröffnet, begegnet das Leitmotiv der Platonischen Metaphysik schlechthin: von ihr führen Wege nicht nur in die Schwierigkeiten der Ideenlehre, der Dialektik und der Erkenntnistheorie - man sieht sich auch, vor allem im Kontext einer „Naturphilosophie“, der mannigfachen Platokritik, grob gesprochen, von Aristoteles bis Heidegger, gegenüber. Der Anspruch, der von dort her sich einer Interpretation gegenüber stellt, diesen sowohl in sich, als auch durch die Perspektive verschiedener Auslegungstraditionen gebrochenen Komplex durchgehend im Blick zu haben, kann hier natürlich nicht aufgenommen werden. Ich werde mich stattdessen wesentlich vom Text her leiten lassen und versuchen, in einem close reading ein Verständnis der darin enthaltenen zentralen Vorstellungen zu erarbeiten, das den Zusammenhang des Proömiums mit dem folgenden Text sowohl in methodischer, als auch inhaltlicher Hinsicht erkennen lässt. Vom Primärtext abgesehen, dienen mir Heideggers Überlegungen zur Bedeutung zeitlicher Bestimmungen in der Ontologie als zwanglose Orientierung und ich werde am Ende kurz einige Gedanken aus GA 24 über den dort vermuteten Zusammenhang von Eidos und Techne - im Sinne des herstellenden Verhaltens - zur Diskussion stellen.

Für die Erhellung verschiedener, allgemeiner Fragen zur Ideenlehre habe ich vor allem auf Gernot Böhmes Werk „Platons theoretische Philosophie“ zurückgegrffen, während mir Schadewaldts Vorlesungsband „Anfänge der Philosphie bei den Griechen“ zur Rückversicherung des Bedeutungsspektrums zentraler Begriffe gedient hat.

Die Kennzeichnung des Timaios als Naturphilosophie verlangt eine einleitende Erörterung des Begriffes der fusij, die nicht nur anachronistische Textzugänge verhindern, sondern auch eine Perspektive auf das Platonische Verständnis des Kosmos eröffnen soll. Die innere Einheit von dynamischen und statischen Elementen, die diesem Konzept innewohnt, soll den Problemhorizont skizzieren, in den sich die Platonische Deutung der Schöpfung als Darstellung der Idee in einem Medium (Böhme) einfügt, indem sie das Verhältnis dieser beiden Momente als Gründung der Werdewelt im wahrhaft Seienden interpretiert und dabei die Auszeichnung des Eidetischen vor den dynamischen Momenten des „Naturhaften“ mit bedenkt.

Dabei kommt es darauf an, eine Erkenntnissituation zu rekonstruieren, in der weder „Erkenntnisvermögen“ im Sinne von verfügbaren Eigenschaften „in“ einem Subjekt bereitliegen, noch „Erkenntnisgegenstände“ als dessen Objekte; im Kosmos des Timaios ragen im Medium des Nous der Mensch und die Sphäre des Ewigen ineinander. Insofern gewinnt die Parallelordnung von Erkenntnisweise und Erkenntnisgegenstand im Proömium auch eine anthropologische Dimension, die implizit die Frage stellt, was es bedeutet, dass wir als endliche Lebewesen doch scheinbar Unveränderliches zu erkennen vermögen und welcher Ort uns im Kosmos zukommt.

Der Offenlegung des unmittelbaren argumentativen Zusammenhanges der besprochenen Stelle folgt ihre eigentliche Interpretation entlang der vom Text vorgegebenen Zentralbegriffe. Dabei wird versucht über die wesentlichen Fragen zur Klarheit zu kommen, indem der Parallelismus von Seins- und Erkenntnismodi anhand einer Analyse der nohsij meta logou entschlüsselt und ausgehend vom Bereich der do¢a met` aisJhsewj alogou ein Blick auf das Verhältnis von Paradigma und Abbild fallen soll.

Abschließend soll noch einmal die einleitende Frage nach der fusij rekapituliert und unter der ontologischen Perspektive der Werdewelt als Repräsentation eines zeitlosen Paradeigmas erörtert werden.

Der Timaios als Naturphilosophie - zum Begriff der f sij Das Proömium zum ersten Logos des Timaios gibt unter 29b 2 ein methodisches Prinzip: Am wichtigsten ist es, für einen jeden Gegenstand einen sachgerechten Anfang zu finden. Der Originaltext sagt für „sachgerecht“ kataÜfusin und bedient sich damit einer Wendung, die unserem „der Natur einer Sache gemäß“ entspricht. Im argumentativen Kontext fungiert dieser Verweis als einigende Klammer, die im Rückbezug auf die metaphysisch grundlegende Scheidung von Sein und Werden (27d 5f) die Korrelation von Darstellung und Dargestelltem (29b 5f) vorbereitet, und damit den methodischen Rahmen der folgenden Abhandlung absteckt.

In allem den rechten Anfang zu finden setzt die Einsicht in die fusij des befragten Gegenstandes voraus - die Art und Weise, wie wir über etwas sprechen ist nicht beliebig, sie wird vom Besprochenen selbst her, von dem, was wir an ihm als seine „Natur“ erkennen, bestimmt. Darstellung und Dargestelltes sind einander verwandt (συγγενής - 29 b). Solches Bestimmen setzt einen Vorbegriff dessen voraus, was wir an einem Seienden als seine fusij in den Blick nehmen und für die Natur einer Sache als konstitutiv erachten. Für den Logos des Timaios periÜfusewoj tou=pantoj (27a 4f), ergibt sich daraus die Aufgabe einer abgrenzenden Wesensbestimmung der Erfahrungswelt schlechthin, die sich in der Scheidung von Sein und Werden entlang der temporalen Bestimmungen des Erkannt-Seienden vollzieht.

Die immanente Beziehung der fusij auf zeitliche Bestimmungen liegt bereits in der grammatischen Struktur des Begriffes vorgezeichnet.1 Die unter 29 b2 gegebene Bedeutung im Sinne von Wesen oder Grundbeschaffenheit bezeichnet den statischen Pol eines umfassenden Konzeptes, das ursprünglich dynamische Vorstellungen mit beinhaltet. Die Endung -sij artikuliert aktives Tätigsein und in der Zusammensetzung mit dem Wortstamm fu-, der in seinen Grundbedeutungen wachsen lassen, hervortreiben bedeutet (med.: wachsen), ergibt sich ein Sinnzusammenhang, den man, mit Schadewaldt, als „lebendige Gewachsenheit“ umschreiben kann. fusij umfasst im frühen griechischen Sprachgebrauch nicht allein den Bereich der „objektiven“, räumlich geordneten Gegenständlichkeit, als das „All des Seienden“ qua Vorhandenes, sondern bezieht sich auf eine Gesamtordnung, unter der die Welt der Götter und Menschen ebenso begriffen ist, wie die übrige organische und anorganische Natur. Sie begegnet in ihrem Doppelaspekt von Gesetzmäßigkeit und Dynamik und meint jene Kraft, durch die aus dem (in der Erde verborgenen) Keim heraus eine Pflanze sich auf ihre Gewachsenheit hin (die fusij in der erstgenannten, übertragenen Bedeutung) entfaltet. Darin sind die Dimensionen von Sein (im Sinne einer unveränderlichen Gesetzmäßigkeit der Bewegung des Aufgehens des Seienden) und Werden (als prozessuales Geschehen des Hervortretens) zunächst ineinander gefügt - das Bewegte gedacht, als vom Unveränderlichen durchwirkt und vice versa - fusij bedeutet, mit Heidegger, „das aufgehende Walten und das von ihm durchwaltete Währen“ 2 und nach Böhme auch bei Plato, mit einigen Ausnahmen, noch alles Seiende im Ganzen.3 Im Timaios dominiert dagegen die Verwendung im Sinne von „Eigenwesen“ einer Sache.

Es ist für die Interpretation in vielerlei Hinsicht bedeutsam, diesen Vorstellungskomplex vom neuzeitlichen Naturbegriff zu trennen. Das betrifft zunächst eine epistemologische Grundstellung, die keine „objektive“ und für sich bestehende „Natur“ als das Gesamt der räumlichen Gegenstände gegenüber hat. Die natürliche Ordnung umfasst sowohl die Sphären des wahrhaften, als auch des „niemals“ Seienden - und der Kosmos, als Region der Repräsentation des Ewigen, bleibt gerade durch die Ableitung seines Seins aus dem ontwj on, immer auf dieses relativ. Insofern erweist sich die Platonische Physik des Timaios notwendig als Meta-physik, die im Horizont des Sinnkomplexes der fusij dessen Momente voneinander scheidet und ihr Verhältnis interpretiert.

Damit gerät das methodische Proömium selbst in den Blick, wenn von fusij die Rede ist - also jener Teil, in dem offenkundig noch gar nicht von den „Naturdingen“ gehandelt wird, während Platon überall dort, wo wir selbstverständlich den Begriff „Natur“ erwarten würden, vom All, dem Kosmos oder schlicht den Himmeln spricht.

Man kann also davon ausgehen, dass der hier bezeichnete Vorstellungskomplex den Verständnishorizont bezeichnet, innerhalb dessen ewiges und vergänglich Seiendes zunächst als miteinander verschränkt gedacht sind. Platons „kritisches“ Geschäft bestünde dann in einem ordnenden Scheiden, das sich entlang einer ontologischen Auszeichnung des Ewigen gegenüber dem „niemals Seienden“ vollzieht, ohne deren Einheit noch tatsächlich „aufzubrechen“. Folgt man sowohl Böhme in seiner Auffassung, Plato sei der ursprüngliche Bedeutungshorizont der Physis noch gegenwärtig gewesen als auch Schadewaldt in seiner Interpretation der Bedeutungsentwicklung des Physis-Begriffs, scheint es reizvoll, die Kosmologie des Timaios dazu analog zu lesen: der methodische Vorgriff auf die Physis des Seienden im Sinne seines unveränderlich gedachten Eigenwesens, reflektiert die kosmologische Verhältnisbestimmung von Paradigma und Abbild.

Die Scheidung von Sein und Werden in ihrem argumentativen Kontext Im Gegensatz zu den später folgenden Ausführungen über Entstehung, Ursprung und Aufbau der sichtbaren Welt, fällt der axiomatische Teil der ersten Rede noch nicht unter die methodische Beschränkung eines eikwj logoj. Die Differenzierung toÜ on aei/ - toÜgignomenon aeiÜerhebt, durch ihre rein begriffliche Struktur, nicht nur den Anspruch unwiderlegbar (ἀνέλεγκτος) und unüberwindbar (ἀνίκητος) zu sein (29b 8f.), sondern sie selbst ist es, die solche Erkenntnis gewissermaßen erst ermöglicht. Die Erörterung jedes Gegenstandes muss sich insofern entlang dieser metaphysischen Grundunterscheidung bewegen (28b 5f), als damit die Grenzen und Möglichkeiten der fraglichen Erörterung „a priori“ bestimmt werden. Gleiches gilt nun auch von der Erörterung der Physis des Alls. Aus seiner Zuordnung zum Bereich des Werdens können, durch Analyse der ontologischen Grundverfassung des Werdenden schlechthin, jene, ihrerseits dem Anspruch nach unwiderlegbaren, Axiomata abgeleitet werden, die einem eikwj logoj als argumentative Grundlage dienen können und das Verfehlen sowohl des rechten Anfangs, als auch der rechten Ansprüche an die Gültigkeit des gewonnenen Wissens abwenden. Das Proömium gibt so durch den Aufweis der fundamentalen Strukturideen des Seins im Ganzen das Gerüst für die sachgerechte Erörterung des Kosmos und damit die Skizze einer „reinen“ Physik, der alle weitere, auf Erfahrungsgegenstände bezogene Rede, verpflichtet bleibt.

Die Einordnung des Kosmos unter die ontologische Schematik der Differenz von Sein und Werden lässt sich wie folgt rekonstruieren: Wir erfahren die Gegenstände der Welt in der Weise des sinnlichen Wahrnehmens - sie sind sichtbar, betastbar und körperlich (oratoj gar aptoj te/ estin kai\ swma exwn 28b 8f) und durch diese Erfahrungseigenschaften an die Wissensform der Auffassung (do¢a) gebunden. Die Auffassung ist nun ihrerseits diejenige Erkenntnisweise, die dem Veränderlichen und damit Verursachten zugeordnet ist (28b 8 - 28c 2), das über die Urbild-Abbild- Relation als im immer Seienden gegründet vorgestellt wird (28c 5f, 29b 1f).4

Gewordenes ist als Repräsentation eines paradigmatisch Seienden und verweist auf einen Bildner als seine Ursache zurück, dessen Rolle hier dem Demiurgen zufällt. Im Wesen der Bildlichkeit liegt die Möglichkeit vollkommenes oder unvollkommenes Abbild zu sein insofern, als entweder das wahrhaft Seiende, oder das Gewordene selbst (Bilder von Bildern) als Vorbild dient (28a6 - 28b 2). Der Kosmos, als die Gesamtordnung des Sichtbaren, gilt nun aber Platon als das schönste des Gewordenen, dem nur die beste der Ursachen entsprechen kann (29a 2f), woraus folgt, dass es sich beim All um ein Abbild der ersten Ordnung handelt, das vom Demiurgen nach dem Schöpfungsprinzip der größtmöglichen Ähnlichkeit geschaffen wurde bzw. wird (29e 1ff). Die folgende Skizze zeigt die Einordnung des Kosmos unter die aus der Zergliederung des Begriffes des Werdenden schlechthin gewonnenen, ontologische Gesamtordnung:

[...]


1 Ich folge hier, wie in den unten folgenden Erörterungen der Grundbegriffe, den Ausführungen Schadewaldts in: Schadewaldt, Wolfgang: Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt 1978. Zur fusij vgl.: S. 201 ff.

2 Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1998, S. 12

3 Böhme, Gernot: Platons theoretische Philosophie, Stuttgart, Weimar 2000, S. 223

4 Platon setzt an den genannten Stellen, wie im gesamten Proömium, die Ontologie des Bildes bereits voraus, ohne sie ausdrücklich auszuführen.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Zur Scheidung von Sein und Werden in Platons Timaios
Untertitel
Proömium 27d 6 - 28a 4
Hochschule
Wirtschaftsuniversität Wien  (Institut für Philosophie)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2011
Seiten
30
Katalognummer
V233047
ISBN (eBook)
9783656502654
ISBN (Buch)
9783656503101
Dateigröße
719 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
scheidung, sein, werden, platons, timaios, proömium
Arbeit zitieren
Siegmund Hartmaier (Autor:in), 2011, Zur Scheidung von Sein und Werden in Platons Timaios, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233047

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