Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR im Spannungsfeld zwischen Bildungsfähigkeit und Ausgrenzung


Examination Thesis, 2004

76 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt

0. Einleitung

1. Methodischen Vorgehensweise in dieser Arbeit

2. Einige Leitideen marxistischer und sozialistischer Pädagogik
2.1 Geschichtsphilosophische Grundlagen
2.2 Allseitige Entwicklung der Individuen
2.3 Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit
2.4 Polytechnische Bildung und Erziehung
2.5 Ausblick

3. Entwicklung des Regel- und Sonderschulwesens der DDR
3.1 Die Schulreform von 1946
3.2 Die Sonderschulentwicklung 1946-1948
3.3 Die ideologische Okkupation der Schule und Pädagogik nach 1948
3.4 Die Sonderschulentwicklung 1948-1958
3.5 Die Polytechnisierung der Schule seit 1958
3.6 Die Sonderschulentwicklung 1959-1965
3.7 Das einheitliche sozialistische Bildungssystem
3.8 Die Sonderschulentwicklung 1965-1989
3.9 Zusammenfassung

4. Die Entwicklung der Rehabilitationspädagogik als erziehungswissenschaftliche Disziplin
4.1 Genese der Bezeichnung Rehabilitationspädagogik
4.2 Wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis der Rehabilitationspädagogik
4.3 Inhaltliche Bestimmung des Rehabilitationsbegriffes
4.4 Menschenbild der Rehabilitationspädagogik
4.5 Rehabilitationspädagogik – eine Zusammenfassung

5. Zur Lebenssituation von geistig behinderten Menschen in der DDR

6. Die Rehabilitationspädagogik schulbildungsfähiger intellektuell Geschädigter in der DDR
6.1 Gegenstandsbestimmung der Rehabilitationspädagogik schulbildungsfähiger intellektuelle Geschädigter
6.2 Wesensbestimmung und Ätiologie schulbildungsfähiger intellektuell Geschädigter
6.3 Historische Entwicklung einer speziellen Bildung und Erziehung schulbildungsfähiger intellektuell Geschädigter in der DDR
6.4 Zielaspekte der Rehabilitationspädagogik schulbildungsfähiger intellektuelle Geschädigter
6.5 Funktion der Rehabilitationspädagogik schulbildungsfähiger intellektuelle Geschädigter
6.5.1 Theoretische Funktion
6.5.2 Praktische Funktion
6.5.3 Prognostische Funktion
6.6 Zur Gestaltung des rehabilitationspädagogischen Prozesses mit schulbildungsfähigen intellektuell Geschädigten
6.6.1 Einheit von Erziehung, Bildung und Rehabilitation im pädagogischen Prozess
6.6.2 Inhalte der Erziehung und Bildung schulbildungsfähiger intellektuell Geschädigter
6.7 Zusammenfassung der Rehabilitationspädagogik für schulbildungsfähige intellektuell Geschädigte

7. Rehabilitationspädagogik für schulbildungsunfähige förderungsfähige Intelligenzgeschädigte
7.1 Gegenstand der Rehabilitationspädagogik der schulbildungsunfähigen förderungsfähigen Intelligenz-geschädigten
7.2 Zur Bezeichnung und Kennzeichnung schulbildungsunfähiger förderungsfähiger Intelligenz-geschädigter
7.3 Die Entwicklung der Förderungspädagogik in der DDR
7.3.1 Lösungsversuche im Rahmen der Hilfsschule
7.3. 2 Lösungsversuche in Institutionen des Gesundheitswesens
7.3.3 Bemühungen zur Lösung des Problems am Institut für Sonderschulwesen der Humboldt - Universität zu Berlin
7.4 Aufgaben und Gestaltung der Rehabilitationspädagogik für schwerintelligenzgeschädigte Kinder und Jugendliche
7.5 Zusammenfassung der Rehabilitationspädagogik für schulbildungsunfähige förderungsfähige Intelligenzgeschädigte

8. Gab es in der Deutschen Demokratischen Republik ein Unerziehbarkeitsdogma?

9. Literatur

„Jeder Mensch besteht als einmaliges bedingtes und bedingendes Subjekt in der Menschheit; dies mit all seinen Bedarfen und Bedürfnissen und der Unterschied zwischen mir und einem, den man schwerstbehindert nennt, ist nicht mehr oder weniger, als unsere je spezifische Individualität im sozialen Gesamt“ (Feuser 1991, 196).

0. Einleitung

Das Thema dieser wissenschaftlichen Arbeit ist die Darstellung der Entwicklung einer Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der ehemaligen DDR, wobei die Aspekte der Bildungsfähigkeit und der Ausgrenzung vor dem Hintergrund sozialistischer Pädagogik besondere Beachtung finden sollen. Nach 1989 war die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR einer harschen Kritik ausgesetzt, die sich auf die angebliche Ausgrenzung von geistig behinderten Menschen aus dem Erziehungs- und Bildungssystem der DDR bezog.

Diese Arbeit will anhand von verschiedenen Publikationen untersuchen, wie in der DDR sowohl in der Theorie als auch in der Praxis mit geistig behinderten Menschen umgegangen wurde, welches Menschenbild der Geistigbehindertenpädagogik zu Grunde lag und welche Zielsetzungen Bildung und Erziehung in der DDR zu erfüllen hatten. Galten Menschen mit einer geistigen Behinderung in der DDR als uneingeschränkt bildungs- und schulfähig, so dass ihnen Möglichkeiten zur schulischen und außerschulischen Bildung und Erziehung gegeben wurden, war anerkannt, dass Bildung und Erziehung Konstitutiva des Menschseins sind und somit jeder Mensch bildungsfähig ist oder gab es tatsächlich Tendenzen der Ausgrenzung und praktizierte Exklusion?

Um diese Fragen zu klären, befasst sich diese Arbeit in Kapitel 2 zunächst einmal mit den marxistischen Leitlinien der sozialistischen Pädagogik, die die Grundlagen für alle Konzeptionen der Bildung und Erziehung von Menschen in der DDR bildeten.

Es folgt in Kapitel 3 ein zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des Regel- und Sonderschulsystems der DDR, der aufzeigen soll, ob es Unterschiede in der Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung gab.

In Kapitel 4 folgen ausführliche Darlegungen zur Rehabilitationspädagogik, die die Konzeption der Bildung und Erziehung für Menschen mit Behinderung in der DDR war.

In den Kapiteln 5-7 geht es speziell um die Lebenssituation von geistig behinderten Menschen, ihrer Schul- bzw. Schulbildungsunfähigkeit und der Frage, welche pädagogischen Fördermöglichkeiten für diese Menschen in der DDR existierten.

Abgeschlossen wird diese Arbeit mit Kapitel 8 und der sich schon aus dem Titel ergebenen Fragestellung, ob es in der DDR ein Unerziehbarkeitsdogma gab, welches Menschen mit geistiger Behinderung den Zugang zu Erziehung und Bildung verwehrte.

1. Methodischen Vorgehensweise in dieser Arbeit

Mit Hilfe der Hermeneutik soll in dieser Arbeit die Geschichte einer Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der Deutschen Demokratischen Republik entwickelt werden. Das Wort Hermeneutik stammt aus dem Griechischen und bedeutet ein wissenschaftliches Verfahren zur Auslegung und Erklärung von Texten (vgl. Deutsches Fremdwörterlexikon 1974, 288). Zurückzuführen ist die Methode der Hermeneutik auf Wilhelm Dilthey, der 1883 seine „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ veröffentlichte (vgl. Dilthey 1957) und das System der Wissenschaften auf eine neue philosophisch fundierte Grundlage stellte. Die Systematisierung der Wissenschaften ergab sich für ihn aus den Methoden ihrer Erforschung. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ (Dilthey 1957, 143). Das impliziert, dass Naturwissenschaften die Welt beschreiben und kausale Zusammenhänge ausdrücken und dass Geisteswissenschaften nach dem „Sinn“ menschlicher Lebensäußerungen suchen, der nur im „Verstehen“ ausgedrückt werden kann (vgl. Jank/Meyer 2002, 135). Dieses „Verstehen“ bezeichnet man als Hermeneutik.

Der Höhepunkt der neuzeitlichen Hermeneutik fällt mit dem Werk des Philosophen Hans- Georg Gadamer zusammen, der das „Verstehen“ als Kreislauf in drei „hermeneutischen Zirkeln“ entwickelte (vgl. Gadamer 1965): [1] Vorverständnis und Erwartungshorizont prägen das Verstehen vor, werden aber durch das Textverstehen selber verändert. [2] Das Verstehen des Teils hängt vom Verstehen des Ganzen ab und bestimmt es zugleich. [3] Der Gegenwartshorizont des Verstehenden und der historische Horizont des zu Verstehenden setzen einander voraus, da es weder einen Gegenwartshorizont noch einen historischen Horizont je für sich gibt.

Heute werden fünf Varianten des Begriffes Hermeneutik unterschieden (vgl. Birus, 1982):

1. Hermeneutik als Auslegung von akademischen Texten, insbesondere von Texten aus der Theologie, Philologie und Jurisprudenz. Dabei geht es um die angemessene Interpretation, aber auch um die Art der Vermittlung des interpretierten Sinns.
2. Hermeneutik als Verstehensgrundlage sprachlicher Äußerungen – Hermeneutik also als grundlegende Methode, um sprachliche Äußerungen jeder Art und Herkunft zu deuten.
3. Hermeneutik als grundlegende Dimension jeglicher Form des Sinnverstehens und damit Hermeneutik als Voraussetzung von Geisteswissenschaften überhaupt.
4. Hermeneutik losgelöst vom subjektiven und individuellen Verstehen, hin zur Aufdeckung des Sinns des Seins.
5. Hermeneutik als Methodologie der Textinterpretation – sie wird zur Hilfsdisziplin bei der wissenschaftlichen Suche nach Erkenntnis und Wahrheit.

In dieser Arbeit soll es um die unter Punkt 3 und 5 verstandenen Bedeutungen der Hermeneutik gehen. Um eine historische Analyse der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR entwickeln zu können, wird sich das Hauptaugenmerk auf folgende drei Fragestellungen richten müssen:

- Welche Bedeutung verband der Urheber des Textes mit dem zu Verstehenden?
- In welchem Bedeutungszusammenhang steht das zu Verstehende?
- Welche Zielsetzung beabsichtigte der Autor damit?

Denn bedeutsam für die geschichtliche Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR war vor allem die gesellschaftliche und ideologische Situation, welche sich in den Texten und im Bewusstsein der Urheber der Texte widerspiegeln wird. Es ist grundsätzlich immer möglich, dass die Auffassungen, Zielsetzungen, Thesen und Argumentationen, die in einem Text von einem Autor geäußert werden, entscheidend durch die gesellschaftliche Situation, in der sich der Autor findet bzw. fand, bestimmt sind. Daher ist es notwendig ideologiekritische Fragen zu entwickeln, um sich so schrittweise an die Deutung und das Verstehen der Texte anzunähern. In diesem Sinne darf weder die historische Analyse des Bildungs- und Erziehungssystem noch die des Selbstverständnisses der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR als bloßes Nachzeichnen der geschichtlichen Entwicklung des einen oder des anderen Begriffs missverstanden werden. Die historische Analyse unter hermeneutischen Gesichtspunkten soll vielmehr dazu dienen, das Verständnis von Bildung und Erziehung und das der Entwicklung einer Geistigbehindertenpädagogik zueinander in Beziehung zu setzen, sowie eine Verbindung zu dem in der DDR vorherrschenden Menschenbild zu schaffen.

2. Einige Leitideen marxistischer und sozialistischer Pädagogik

Um die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in der ehemaligen DDR aufzeigen zu können, ist es notwendig, einige Leitideen der allgemeinen sozialistischen Erziehungs- und Bildungsarbeit darzustellen. Für alle diese Leitideen bilden die Aussagen von Karl Marx und Friedrich Engels die theoretische, ideologische und methodische Grundlage. Zwar haben Marx und Engels nicht selbst eine Pädagogik entworfen, jedoch äußerten sie sich zu zahlreichen diesbezüglichen Fragen und schufen somit die Basis für alle nachfolgenden Konzeptionen sozialistischer Pädagogik in Theorie und Praxis.

2.1 Geschichtsphilosophische Grundlagen

Karl Marx und Friedrich Engels entwarfen eine Theorie des Geschichtsprozesses, in der „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst heraus zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln,...“ (Marx, Engels Werke, Band 13, 8). Nach Marx gehen Menschen in ihrem Leben bestimmte, notwendige und von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein – Produktionsverhältnisse. Diese Produktionsverhältnisse bilden die ökonomische Basis bzw. Struktur einer Gesellschaft, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt; das sogenannte Basis – Überbau - Modell (vgl. Marx, Engels Werke, Band 13, 8f.). Da nach Marx und Engels nur die herrschende Klasse über Produktionsmittel verfügt und somit die Produktionsverhältnisse bestimmt, betrachteten sie das Recht infolgedessen als den zum Gesetz erhobenen Willen jener herrschenden Klasse. Der Mensch bzw. das Individuum könne sich aber erst dann frei entwickeln, wenn die Spaltung einer Gesellschaft in Klassen, deren Interessen antagonistisch sind, aufgehoben werden.

Welche Relevanz haben diese Überlegungen für eine sozialistische Pädagogik, wenn das Bewusstsein des Menschen als Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses herausgestellt wird und wenn Produktionsverhältnisse das „Sein“ des Menschen bestimmen?

Erziehung und pädagogische Prozesse könnten nach Marx und Engels nur im Rahmen des revolutionären Kampfes verstanden werden (vgl. Marx, Engels Werke, Band 13, 10f.). Demnach lässt sich Erziehung und Pädagogik als Erziehungsarbeit verstehen, die mit den Gedanken des politischen und revolutionären Kampfes zu Befreiung des Menschen zu füllen sind.

Folgende Aufgaben sollen eine sozialistische Pädagogik und Erziehung erfüllen, um maßgeblich den Aufbau eines entfaltenden Sozialismus zu unterstützen (vgl. Freiburg u.a. 1988, 7):

- Vermittlung von Einsicht in die Lage der arbeitenden Klasse,
- Bewusstmachung der nur auf revolutionärem Wege zu erreichenden Veränderung der bestehenden Verhältnisse,
- Verbesserung des Ausbildungsstandes der arbeitenden Bevölkerung,
- Entwicklung und Festigung der neuen sozialistischen Bewusstseinsinhalte.

Nachfolgend werden drei sozialistische pädagogische Leitlinien vorgestellt, die auch im Hinblick auf Fragestellungen, welche durch das Thema dieser Arbeit aufgeworfen werden, näher betrachten sollen:

a) Die allseitige Entwicklung der Individuen zu sozialistischen Persönlichkeiten,
b) die Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit,
c) die polytechnische Bildung und Erziehung.

2.2 Allseitige Entwicklung der Individuen

Ein fundamentales Ziel der sozialistischen Erziehung und Pädagogik war die „allseitige Entwicklung der Individuen“ (Marx, Engels Werke, Band 4, 424). Marx gab dafür verschiedene Begründungen an. Er sprach zum einen von der dringenden Notwendigkeit, „den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen...“ (Marx 1953, 513), denn die moderne Industrie betrachte die vorhandene Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Durch Maschinen, chemische Prozesse und andere Methoden verändere sich der Arbeitsprozess ständig, so dass eine allseitige Beweglichkeit des Arbeiters erforderlich sei (vgl. Marx 1953, 512). Zum anderen solle es sich bei diesem Prinzip um ein Grundprinzip der kommunistischen Gesellschaft handeln. Durch die Verwirklichung der allseitigen Entwicklung der Individuen, würden notwendige Schritte zur „Überwindung der bestehenden Verhältnisse, die für die negative Form der Arbeitsteilung und der Teilung der Gesellschaft verantwortlich sind“ (Freiburg u.a. 1988, 8) unternommen. Auch wenn das Prinzip der allseitigen Entwicklung nicht auf die Funktion eines Erziehungszieles eingeengt werden könne, spielten Bildung und Erziehung für seine Realisierung eine bedeutende Rolle. Allseitige Entwicklung sei nicht nur als Erwerb von technischen Fähigkeiten und Kenntnissen für die Produktion zu verstehen, sondern es drehe sich auch und vor allem um die Befähigung des Menschen, „sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aktiv, zielstrebig, allseitig und schöpferisch handelnd zu betätigen“ (Karras zit. in Freiburg u.a. 1988, 9).

Ich möchte noch auf einen Aspekt verweisen, der mir für meine Arbeit, insbesondere in Bezug auf das Spannungsfeld der Bildungsfähigkeit und Ausgrenzung von Menschen mit einer geistigen Behinderung in der ehemaligen DDR, von Bedeutung erscheint. Das Prinzip der „allseitigen Entwicklung des Individuums“ bzw. die damit einher gehende allseitige Beweglichkeit des Arbeiters, beinhaltete wie schon dargestellt, einerseits Einsicht in den Ablauf der Produktion, andererseits eine ständige Weiter- und Fortbildung. Inwieweit dieses Prinzip auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung von Relevanz und Bedeutung sein kann und wie sich dieser, in meinen Augen hohe Leistungsanspruch an das Individuum erfüllen ließ, wird im Laufe dieser Arbeit deutlich werden.

2.3 Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit

Das Prinzip der allseitigen Entwicklung verwirkliche sich in entscheidender Weise im Rahmen eines gesellschaftlichen Arbeitsprozesses. Daher war es für Marx und Engels naheliegend, dass bereits im Kindes- und Schulalter Bildung bzw. Erziehung und die Verrichtung produktiver Arbeit zu verbinden seien. „In einem rationellen Zustand der Gesellschaft sollte jedes Kind vom 9. Jahre an ein produktiver Arbeiter werden, ebenso wie kein arbeitsfähiger Erwachsener von dem allgemeinen Naturgesetz ausgenommen sein sollte, nämlich zu arbeiten, um essen zu können...“ (Marx, Engels Werke, Band 16, 193). Das Nachgehen einer Arbeit diene demnach der Befriedung grundlegender Bedürfnisse des Menschen und bedeute eine ausdrückliche Verpflichtung. Marx und Engels zählten im weiteren vier Teilziele dieses Grundsatzes auf, die die Notwendigkeit der Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit in Gesellschaften mit sozialistischen Produktionsbedingungen noch verstärken (vgl. Marx, Engels Werke, Band 16, 193 f.):

Das erste Teilziel nannten sie Bildung und Erziehung zur produktiven Arbeit für alle Menschen. Da die Produktion unter sozialistischen Bedingungen zu einer gerechten Gleichverteilung der Arbeit und zu genügend Freizeit führe, haben alle Menschen Zugang zu anspruchsvoller Bildung, woraus sich das zweite Teilziel ergab, das hohe geistige Bildung für die Volksmassen postulierte.

Daraus wiederrum resultierte das dritte Teilziel, die Einheit von Theorie und Praxis in der Bildung und Erziehung, welches die Vermittlung eines nützlichen und praktischen Wissens mit lebensnahem Bezug sichere. Das Prinzip der Abwechslung bildete das vierte Teilziel, das durch den ständigen Wechsel von geistiger und körperlicher Tätigkeit realisiert werden sollte.

Interessant für die Geistigbehindertenpädagogik scheint insbesondere das dritte Teilziel (Einheit von Theorie und Praxis in der Bildung und Erziehung) zu sein, woraus sich der pädagogische Grundsatz und die Zielsetzung einer reinen lebenspraktischen Bildung und Erziehung für Menschen mit einer geistigen Behinderung ergeben könnte.

2.4 Polytechnische Bildung und Erziehung

Das Konzept der „Polytechnischen Bildung und Erziehung“ versuchte die theoretische Vermittlung von allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätzen der Produktionsprozesse und produktive Arbeit miteinander zu verbinden. Die polytechnische Erziehung sollte „die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermitteln und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweihen in den Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige“ (Marx, Engels Werke, Band 16, 195). Diese Konzeption kann als Kernstück der marxistischen Theorie der Bildung und Erziehung gesehen werden, da es sich um eine der wenigen direkt auf pädagogische Fragen bezogenen Äußerungen von Marx und Engels handelte.

In der ehemaligen DDR hatte die polytechnische Bildung und Erziehung auf der Grundlage dieser allgemeinen Konzeption wechselvolle Zielsetzungen, die zeitbedingte Schwerpunkte enthielten. Zum einen sollte polytechnische Bildung und Erziehung die Berufsorientierung der Schüler formen, zum anderen thematisierte sie weltanschauliche und gesellschaftspolitische Inhalte. „Die polytechnische Bildung umfasst die Einführung der Schüler in die wissenschaftlichen Grundlagen des Produktionsprozesses, ihre Arbeitsbefähigung und die Einführung in die gesellschaftlichen Grundlagen der sozialistischen Produktion, in die politischen, ideologischen und ökonomischen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Produktion und Technik“ (Freiburg u.a. 1988, 13).

Inwiefern die Geistigbehindertenpädagogik der DDR in der Lage war, diese charakteristische, sozialistische Leitidee der Polytechnischen Bildung und Erziehung auch zur Leitidee für Menschen mit einer geistigen Behinderung zu machen, wird im Laufe der Arbeit noch deutlich werden.

2.5. Ausblick

Die oben behandelten Leitideen marxistischer und sozialistischer Pädagogik werden im weiteren Verlauf der Arbeit auch diejenigen sein, die für das Selbstverständnis der allgemeinen Pädagogik und für die Bildung und Erziehung von Menschen mit Behinderung in der DDR eine gewichtige Rolle spielten. Zwar erfuhren diese Leitlinien im Laufe geänderter ökonomischer und politischer Veränderungen eine mehr oder weniger weitreichende neue Interpretation, dennoch blieben die Kernaussagen (Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft, allseitige Entwicklung zu einer sozialistischen Persönlichkeit, polytechnische Bildung und Arbeitserziehung) Hauptmerkmale der Pädagogik und nahmen somit gezielt Einfluss auf das Menschenbild und auf den Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR.

3. Entwicklung des Regel- und Sonderschulwesens der DDR

Nachdem die grundlegenden Prinzipien einer sozialistischen Pädagogik vorgestellt worden sind, möchte ich im Folgenden einen Überblick über die Entwicklung des Regel- und Sonderschulwesens der ehemaligen DDR geben und zudem Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklung herausarbeiten, die mir im Hinblick auf das Thema meiner Arbeit bedeutsam erscheinen. Die Übersicht soll folgende These bekräftigen: Bei der Pädagogik der DDR handelte es sich nicht nur um eine monolithische Wissenschaft, sondern auch um eine einheitliche, politische Staatspädagogik, die gezielt Einfluss auf Bildung und Erziehung nahm.

Die Zusammenfassung orientiert sich an verschiedenen Entwicklungsabschnitten, die folgendermaßen periodisiert sind (vgl. Anweiler 1988, 20):

1. die Schulreform von 1946,
2. die ideologische Okkupation der Schule und Pädagogik nach 1948,
3. die Polytechnisierung der Schule seit 1958,
4. das Gesetz über ein einheitliches sozialistisches Bildungssystem von 1965.

3.1 Die Schulreform von 1946

Nach dem Zusammenbruch des sogenannten „3. Reiches“ und dem Ende des 2. Weltkrieges übernahmen die vier Besatzungsmächte die Regierungsgewalt in Deutschland und somit auch die Verantwortung für den Wiederaufbau des Schulwesens. Es bestand in sofern Übereinstimmung zwischen den Alliierten, dass sämtliche nazistischen Lehren und politisch belastete Lehrer völlig aus dem Schul- und Bildungswesen zu entfernen seien. Die Realisierung dieses Grundsatzes oblag allerdings den Militärregierungen in ihren jeweiligen Besatzungszonen und war dementsprechend unterschiedlich. In der sowjetischen Besatzungszone besaß die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Hoheitsgewalt und ihre Befehle stellten die Rechtsgrundlage für alle Entscheidungen dar. Innerhalb der SMAD gab es die Abteilung Volksbildung, in der verschiedene russische Bildungsoffiziere saßen, deren Aufgabe es war, den Wiederaufbau der Schulen und Universitäten zu leiten und zu überwachen. „Die schulpolitische Ausgangslage im Jahre 1945 in der sowjetischen Besatzungszone war [...] dadurch gekennzeichnet, dass die Überwindung des nationalsozialistischen Gedankengutes in der Erziehung durch alle antifaschistischen – demokratischen Kräfte im Vordergrund stand und gleichzeitig die KPD nach der Zulassung der politischen Parteien am 10. Juni 1945 durch ihre enge ideologische und personelle Verbindung mit der Besatzungsmacht von vornherein ein Übergewicht besaß“ (Anweiler 1988, 22).

Ein wesentlicher Faktor, der die schulpolitische Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone prägte, war die weitgehende Zentralisierung aller schulpolitischen Entscheidungen. Denn während sich in den westlichen Besatzungszonen das föderalistische Prinzip mit dem Kernstück der bis heute geltenden Kulturhoheit der Länder durchsetzte, blieb in der sowjetischen Zone das schon aus der Nazizeit bekannte Einheitsstaatsprinzip bestehen.

Die ersten Vorbereitungen für eine geplante Schulreform begannen im Oktober 1945 und endeten im Mai 1946 mit dem „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“. Demokratisierung bedeutete nach diesem Gesetz zweierlei (vgl. Anweiler 1988, 26):

- Die neue demokratische Schule solle frei sein von militärischen, imperialistischen, rassistischen und volksverhetzenden Elementen.
- Die neue demokratische Schule solle eine demokratische Einheitsschule darstellen – die allen Kindern das gleiche Recht auf Bildung und seine Verwirklichung entsprechend ihren Anlagen und Fähigkeiten garantiert.

Die neue Einheitsschule in der sowjetischen Besatzungszone beruhte auf einer Stufenkonzeption des gesamten Bildungswesens und unterschied vier unterschiedliche Schulstufen: 1. Vorstufe (Kindergarten); 2. Grundstufe (Grundschule); 3. Oberstufe; 4. Hochschule. Insbesondere konzentrierte sich das Gesetz auf die achtklassige Grundschule und auf die Oberstufe mit ihren verschiedenen Schultypen (Berufsschulen, Fachschulen und anderen zur Hochschule führenden Bildungseinrichtungen).

3.2. Die Sonderschulentwicklung 1946-1948

Auch für die Sonderschulen bildete das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule die erste gesetzliche Grundlage zur Förderung behinderter Kinder. Zwar wurde die Notwendigkeit von Sonderschulen im Gesetz nicht explizit erwähnt, dennoch leitete sich die Legitimation von Sonderschulen unmittelbar aus der Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes ab, nämlich dass alle Kinder, auch mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, zur Bildungs- und Erziehungsfähigkeit berücksichtigt werden sollten. Die Verantwortung für die Erziehungs- und Bildungsfragen der Sonderschule wurde unter die Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung gestellt, soziale und medizinische Einrichtungen hatten lediglich nur noch eine soziale Betreuungs- und Fürsorgekompetenz.

Im Dezember 1947 verabschiedete das Ministerium für Volksbildung die entsprechenden Ausführungsbestimmungen zum Schulgesetz. Es wurden hier vorrangig die gesetzlichen Grundlagen der Schulpflicht in der Grundschule konkretisiert. Kinder, deren körperliche und geistige Gebrechen so enorm waren, dass sie sich für eine Ausbildung in einer Grundschule nicht eigneten, wurden einer für sie passenden Sonderschule zugeführt. Konnten Kinder allerdings auch in Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden, wurden sie vom Besuch der Grundschule befreit (vgl. Werner 1999, 56). Bedeutsam, gerade auch im Hinblick auf das Thema meiner Arbeit, ist das begrenzte Verständnis von Bildung und Erziehung auf sogenannte „bildungs- und erziehungsfähige“ Kinder. So sind mit den Ausführungsbestimmungen zum Schulgesetz von 1946 erneut zwei wesentliche und traditionelle Momente der Beschulung behinderter Kinder festgeschrieben worden:

1. „Orientiert an der Leistungsnorm der Regelschule sonderte man diejenigen Schüler aus, deren Schulleistungsversagen sich auf geistige und /oder körperliche Ausfälle bzw. Beeinträchtigungen zurückführen ließ.
2. Sämtliche Beschulungsmaßnahmen kamen nur für sogenannte „bildungs- und erziehungsfähige“ Kinder in Frage, d.h. die Schulpolitiker hielten sich die Möglichkeit offen, die allgemeine Schulpflicht einzugrenzen und bei einzelnen Schülern auszusetzen“ (Werner 1999, 56).

Trotz gravierender und vor allem ideologischer Umwälzungen in der sowjetischen Besatzungszone, ist diese Kontinuität traditioneller pädagogischer Haltungen und Überzeugungen im Hinblick auf die Bildungsfähigkeit von Kindern mit Behinderung auffällig.

[...]

Excerpt out of 76 pages

Details

Title
Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR im Spannungsfeld zwischen Bildungsfähigkeit und Ausgrenzung
College
University of Cologne  (Heilpädagogische Fakultät Köln)
Grade
1,3
Author
Year
2004
Pages
76
Catalog Number
V23918
ISBN (eBook)
9783638269254
ISBN (Book)
9783638701839
File size
661 KB
Language
German
Notes
Diese Arbeit will anhand von verschiedenen Publikationen untersuchen, wie in der DDR sowohl in der Theorie als auch in der Praxis mit geistig behinderten Menschen umgegangen wurde, welches Menschenbild der Geistigbehindertenpädagogik zu Grunde lag und welche Zielsetzungen Bildung und Erziehung in der DDR zu erfüllen hatten.
Keywords
Entwicklung, Geistigbehindertenpädagogik, Spannungsfeld, Bildungsfähigkeit, Ausgrenzung
Quote paper
Tobias Niemann (Author), 2004, Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR im Spannungsfeld zwischen Bildungsfähigkeit und Ausgrenzung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23918

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